Todesstrafe für Hunderte in Ägypten, Von Pol O Gradaigh und Mey Dudin

Einen Monat vor der Präsidentenwahl demonstriert Ägyptens Führung ihre Macht über die Opposition. Das Urteil gegen Hunderte Muslimbruder sorgt für Zündstoff. Doch auch liberale Kritiker werden verfolgt.

Kairo/Minia (dpa). Einige ältere Frauen brechen auf der Straße schluchzend zusammen, als das Urteil im größten Massenprozess in der Geschichte Ägyptens fällt. Ein Mann im traditionellen Gewand und mit weißem Turban auf dem Kopf wischt sich Tränen aus den Augen. «Die Regierung verurteilt die Armen in diesem Land», ruft einer der Angehörigen aus der Menge, die sich vor dem von Sicherheitskräften abgeriegelten Gerichtsgebäude in der oberägyptischen Stadt Minia versammelt hat.

Zum zweiten Mal fällt in Minia ein verstörender Richterspruch: Todesstrafe für 683 Muslimbrüder. Sie waren wegen der Teilnahme an gewalttätigen Protesten und dem Mord an einem Polizisten angeklagt. Vor einem Monat hatte Richter Said Jussif 529 Anhänger des ehemaligen Präsidenten Mursi mit derselben Anklage zum Tode verurteilt. Nun wurden 37 der Todesurteile bestätigt und die übrigen in lebenslange Haft umgewandelt.

Rechtskräftig ist noch keiner der Richtersprüche, doch die Angehörigen sind in großer Sorge. «Ich habe sechs Kinder. Sie sollen mich hinrichten, nicht den Versorger meiner Kinder», sagt eine verschleierte Frau.

Die Entscheidung nach nur zwei Verhandlungstagen sorgt in Ägypten für Empörung. Auf Grundlage schlechter Ermittlungen würden unschuldige Menschen bestraft, sagen viele. Einer der Rechtsanwälte spricht von einem politischen Urteil. «Ein Richterspruch wird auf Basis von Beweisen gefällt. Wo ist die Gerechtigkeit aber, wenn der Richter nach seiner persönlichen Überzeugung handelt?» fragt Mohammed Salah.

Seit der Entmachtung des aus der Muslimbruderschaft stammenden Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär im Sommer 2013 geht die ägyptische Führung hart gegen Islamisten vor. Als im ganzen Land Mursi-Anhänger gegen die Absetzung des gewählten Staatschefs auf die Straßen gingen, schlugen die Sicherheitskräfte die Proteste blutig nieder. Bei der Auflösung von Sitzstreiks in Kairo und Alexandria gab es mehr als 1000 Tote.

Inzwischen ist die Muslimbruderschaft in Ägypten verboten und das Militär de facto an der Macht. In einem Monat sind Präsidentenwahlen, die Ex-Armeechef Abdul Fattah al-Sisi mit großer Wahrscheinlichkeit gewinnen wird.

Das Oberhaupt der Muslimbrüder, Mohammed Badie, ist unter den in Minia zum Tode Verurteilten. Die Regierung macht die Bewegung auch für Terroranschläge in den vergangenen Monaten verantwortlich. Die Angeklagten weisen dies aber entschieden zurück. Gegen Mursi laufen wegen Spionage- und Terrorismusvorwürfen mehrere Verfahren. Ihm droht ebenfalls die Todesstrafe.

Doch nicht nur „Islamisten“ sind derzeit juristischer Verfolgung ausgesetzt. Auch Demokratie-Aktivisten sitzen in ägyptischen Gefängnissen. Wenige Stunden nach dem Urteil in Minia wurde in der Hauptstadt Kairo ein Richterspruch gegen die oppositionelle Jugendbewegung bekannt. Alle Aktivitäten der Organisation 6. April werden verboten. Die Gruppe hatte bei den Massenprotesten 2011, die zum Sturz von Präsident Husni Mubarak führten, eine maßgebliche Rolle gespielt. Gegen sie lautet der Vorwurf nun: Spionage und Verleumdung des ägyptischen Staates.