In Äthiopiens Bürgerkrieg werden Menschen aus der Tigray-Region zum kollektiven Sündenbock. Auch Kirchenvertreter sind betroffen. Dabei tragen sie nach Ansicht von Experten eine entscheidende Rolle beim Friedenseinsatz.
(KNA). Menschenrechtler warnen vor einer erneuten Verhaftungswelle in Äthiopien. „Sicherheitskräfte in der Hauptstadt Addis Abeba haben Tigrayer im Visier, darunter Kinder und Alte“, so Amnesty International. Die meisten Betroffenen dieser „willkürlichen Festnahmen“ und „Massenverhaftungen“ würden ohne Anklage oder Zugang zu einem Anwalt festgehalten. Weltweit lässt das harte Durchgreifen gegen die Volksgruppe Alarmglocken schrillen: „Was wir sehen, trägt nach UN-Definition teils die Handschrift einer ethnischen Säuberung“, warnte die südafrikanische Politologin Nicole Beardsworth.
Die Rebellen sind auf dem Vormarsch. In den vergangenen Wochen gelang es Kämpfern aus der nordäthiopischen Unruheregion Tigray, immer näher an Addis Abeba zu rücken. Mehrere strategische Städte entlang der Hauptstadt-Autobahn brachten sie bereits unter ihre Kontrolle. Anfang November verhängte die Regierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed deshalb den landesweiten Notstand. Die Ausnahmeregelung erlaubt Militär und Polizei, Menschen festzunehmen, wenn der „Verdacht“ besteht, dass sie „Terrorgruppen“ unterstützen. Als solche gilt seit Mai die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Die Bewegung, die jahrelang die Politik des ostafrikanischen Landes dominierte, befindet sich seit einem Jahr im Krieg mit Abiys Regierung.
„Geschwüre“, „Unkraut“, eine „Krankheit“ – so bezeichnete der Ministerpräsident in den vergangenen Tagen die Aufständischen. Es gelte, sie „mit unserem Blut zu begraben“, beschwor der Friedensnobelpreisträger von 2019 seine Landsleute und rief zu bewaffneter Verteidigung der Hauptstadt auf. Und die Kriegsrhetorik zeigte Folgen: Was als politischer Konflikt begann, entwickelt sich immer mehr zur Hexenjagd gegen ethnische Tigrayer – in allen Ecken des Landes. „Die Sicherheitskräfte nehmen Menschen bei Hausdurchsuchungen mit Unterstützung von Nachbarschaftswachen fest, die auf der Straße Personalausweise kontrollieren“, so Amnesty.
Unter den Verhafteten befinden sich Beamte, Krankenpfleger, Ärzte, Anwälte und sogar Geistliche. Neben orthodoxen Priestern traf es in Addis vor zwei Wochen auch 34 Ordensleute und Mitarbeiter der Salesianer Don Boscos. Während einige von ihnen freikamen, befinden sich die aus Tigray stammenden weiter in Gewahrsam. „Polizisten in Zivil knöpfen sich Leute in Cafes und Bars vor, während Nachbarschaftskomitees mit Stöcken durch etliche Bezirke der Hauptstadt patrouillieren und Menschen, die sie nicht zuordnen können, den Behörden melden“, schreibt das Politmagazin „The Africa Report“ (15. November). Die Behörden rechtfertigen ihr Vorgehen damit, bei Hausdurchsuchungen auf Bomben und Feuerwaffen gestoßen zu sein.
400.000 Betroffene des Konflikts in Tigray leiden akut an Hunger; mehr als 2,7 Millionen sind landesweit auf der Flucht. Unterdessen wächst die Sorge, Äthiopiens Bürgerkrieg könne auf die Region übergreifen. „Äthiopien hat 110 Millionen Einwohner. Wenn es implodiert, hätte das negative Auswirkungen auf all seine Nachbarländer“, so Südafrikas Ex-Präsident Kgalema Motlanthe. Auch US-Außenminister Antony Blinken, der diese Woche Ostafrika besucht, warnte vor einem solchen „desaströsen“ Szenario.
Laut der Äthiopien-Forscherin Beardsworth würden Friedensgespräche keine einfache Aufgabe. „Die Gefahr ist, dass die Regierung und andere Gruppen interkommunale Spannungen an Orten, wo es tigrayische und andere Minderheiten gibt, absichtlich verschärft haben.“ Damit es zu Gesprächen kommt, verlangt Abiys Regierung von den Rebellen einen Rückzug in ihre Heimatregion. Für die Separatisten scheidet das aber aus. Eine weitere Eskalation könnte Abiy zum Umdenken zwingen.
Neben Verhandlungen könnte noch ein Aspekt eine Lösung bringen, wie Mohammed Girma argumentiert, Dozent an der Universität Roehampton: Religion. „Äthiopien ist eine tiefgläubige Nation. Christen wie Muslime können nicht nur faszinierende Geschichten von ihren jeweiligen Ursprüngen erzählen, sondern auch davon, wie sie durch Verhandlungen einen gemeinsamen Platz fanden.“ Girma meint, Kirchen und Moscheen hätten das Potenzial, mit einer „interreligiösen Friedensbemühung“ zu mobilisieren.