Was ist unser Verhältnis zu dieser Welt?

Ausgabe 275

Foto: Pxhere | Lizenz: CC0 Public Domain

Im vorliegenden Text des jungen marokkanischen Gelehrten Schaikh Murtada Elboumashouli geht es um ein ausgeglichenes Verhältnis zu den Dingen dieser Welt. Eine balancierte Lebensweise besteht, in der Nachfolge des Propheten und seiner Gemeinschaft, weder in einer vollkommen weltabgewandten „Askese“, noch im Festhalten an diese vergängliche Welt. Sie beschreibt vielmehr die islamische Praxis des „in der Welt Sein“, ohne dabei den Blick auf ihren Schöpfer und das nächste Leben zu verlieren. Somit korrespondieren die Worte des Gelehrten mit einer der grundlegenden Realitäten des Ramadan. Der gesegnete Monat, dessen Kommen sich bereits ankündigt, vermittelt durch seinen existentiellen Schock des zeitweisen Verzichts auf die Dinge der Welt – und das geht weit über das bloße materielle Essen und Trinken hinaus – dieses Wissen auf einer fundamentalen Erfahrungsebene.
(iz). Schaikh Muhammad ibn Al-Habib sagte in seinem Diwan: „Wer von uns abgeschnitten ist, hat nicht von der Süße des Lebens gekostet.“ Das Leben, von dem er hier spricht, ist nicht die diesseitige Welt (arab. dunja). Sondern vielmehr das Leben, über welches der Gesandte Allahs sagte, möge ­Allah ihn segnen und ihm Frieden geben: „Es gibt kein Leben außer dem Leben des Jenseits (arab. akhira).“
Niemand von uns kann in dieser Welt vollkommen in Frieden sein. Seid nicht zufrieden mit ihr und glaubt nicht, ihr hättet ein sorgloses Leben. Einer der Dichter sagte: „Bei Allah, würde ein Mann in dieser Welt tausend Jahre in Vollbesitz seiner Sinne und Kräfte leben, gesegnet mit jedem Luxus und wertvollem Ding (…).“ Das heißt, wenn er sich in jedem dieser tausend Jahre an den wertvollsten aller dieser diesseitigen Segnungen erfreut. „(…) sich an den besten Segnungen der Zeitalter erfreut, in denen er lebt (…)“ also in diesen eintausend Jahren. „(…) und kein einziges Mal von Krankheit heimgesucht wird (…)“, also in dieser ganzen Periode nicht erkrankt. „(…) wahrlich, er würde keine einzige Sorge fühlen (…).“ Kein einziges Mal in tausend Jahren hätte er Grund zur Sorge. Wäre das nicht gleich eines paradiesischen Lebens, voller Luxus und sorgenlos? Der Dichter fährt fort: „All das macht nicht die erste Nacht wett, die er in seinem Grab verbringt.“ In dieser ersten Nacht wird er befragt, „hast du jede Freude in der Dunja gesehen?“, und er wird antworten: „Nein, ich sah nichts. Ich war nur einige kurze Momente dort.“
Unser Meister Nuh (der Prophet Noah) lebte 1.700 Jahre. 950 davon verbrachte er, die Leute zu Allah zu rufen. Und obwohl er das tat, glaubten nur wenige an ihn. Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, widmete der Da’wa 25 Jahre und Millionen Leute folgen ihm. „Wie war es, all diese lange Zeit zu leben?“, wurde der Prophet Nuh gefragt. „Es war wie, wenn jemand einen Raum durch eine Tür betritt und ihn unmittelbar durch eine andere verlässt.“
Diejenigen, die von diesem Leben getäuscht werden, meinen, es würde für immer dauern. Sie sind ahnungslos und im Zustand des größtmöglichen Vergessens. Allah sagt im Qur’an: „Und das diesseitige Leben ist nur trügerischer Genuss.“ (Al-Hadid, 20)
Qarun war ein Mann von immensem Reichtum und er dachte, er habe das wirkliche Leben erlangt. Allah erwähnt im Qur’an, dass seine Schatzhäuser viele Schlüssel hatten. Diese allein waren so zahlreich, dass es einige Kamele brauchte, um sie von einem Ort zum nächsten zu bringen. Allah sagt: „Und Wir gaben ihm solche Schätze, dass deren Schlüssel wahrlich eine schwere Last für eine Schar kräftiger Männer gewesen wären.“ (Al-Qasas, 76) Die Leute seines Volkes kamen zu Qarun und erinnerten ihn an seinen Platz mit den Worten: „Sei nicht übermütig, denn Allah liebt nicht diejenigen, die zu übermütig sind.“ (Al-Qasas, 76) Denn Qarun war stolz auf seinen Reichtum und sagte: „Es ist mir nur gegeben worden aufgrund von Wissen, das ich besitze.“ (Al-Qasas, 78) Das heißt, er glaubte, alles wurde ihm gegeben wegen seiner Ideen, seiner Entscheidungen und seiner Kenntnisse. Dann nahm Allah seinen Reichtum in einem einzigen Moment hinweg – seinen Besitz, sein Haus. Er veranlasste die Erde, Qarun zu verschlingen. „Da ließen Wir mit ihm und mit seiner Wohnstätte die Erde versinken.“ (Al-Qasas, 81) Einige der Qur’ankommentatoren erwähnen, dass er mit jedem vergehenden Tag auf der Erde eine Körperlänge tiefer versinke.
In seiner Zeit – und das gilt auch für unsere, denn es ist so, als richtet sich der Vers auch an uns – gab es Leute, die genauso wie er sein wollten. Sie sagten: „Oh hätten doch wir das gleiche wie das, was Qarun gegeben worden ist! Er hat wahrlich gewaltiges Glück.“ (Al-Qasas, 79) Sie meinten, die Dinge, die ihm gegeben wurden, seien das wahre Glück. Als sie aber sahen, wie die Erde Qarun schluckte: „Und diejenigen, die sich am Tag zuvor (an) seine(r) Stelle (zu sein) gewünscht hatten, begannen zu sagen (…)“ (Al-Qasas, 81) Was sagten sie? Sie waren erstaunt von der Macht Allahs. In einem Augenblick wurde ein Reicher nicht nur arm, sondern verlor alles – sein Selbst und sein Leben eingeschlossen. „Ah sieh! Den Ungläubigen wird es nicht wohl ergehen.“ (Al-Qasas, 82) Wer nicht dankbar ist für die Segnungen Allahs und sie leugnet, wer arrogant ist und übermütig, wird niemals Erfolg haben.
Als der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, einmal spazieren ging, sprachen die Berge mit ihm auf eine versuchende Weise. Sie riefen ihm mit Honigworten: „Gesandter Allahs, willst du, dass wir uns in Berge voller Gold verwandeln, sodass du zum reichsten Mann aller Zeiten wirst?“ Aber er wies ihr Angebot zurück und entschied stattdessen, ein Mann zu sein, der ohne die Dinge dieser Welt (arab. zuhd) auskommt. Als er, Heil und Segen Allahs auf ihm, auf seiner Nachtreise (arab. miradsch) war, stieg er in den Himmel in Gesellschaft des Engels Dschibril (Gabriel) auf. Sie trafen auf eine Frau, die nach ihm rief. Als er sie sah, wandte sich der Engel an den Propheten und sagte: „Sprich nicht mit dieser Frau.“ Der Gesandte Allahs wollte wissen, wer sie sei. „Sie ist die Dunja“, sagte Dschibril. Imam Al-Busairi bezog sich in seiner „Qasida Burda“ auf diese Begebenheit, als er schrieb: „Hohe Berge aus Gold versuchten, ihn in Versuchung zu bringen, aber er verweigerte sich wegen seines großen Mutes. Seine Not diente einfach dazu, seinen Zuhd zu stärken.“
Das war ein Beweis dafür, dass der ­Prophet ein Mann des Zuhd war. Bereits zuvor kamen seine Leute zu ihm und boten ihm an, ihn zum reichsten Mann zu machen. Sie gingen zu seinem Onkel Abu Talib und sagten diesem: „Wenn es Reichtum ist, was er will, dann machen wir ihn zu unserem König. Willst Du Macht und Ruhm, dann machen wir Dich zu unserem Herrn und Führer. Unsere einzige Bedingung ist, dass Du die Leute nicht mehr zur Anbetung eines einzigen Gottes aufrufst.“ Als Entgegnung schwor der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, einen Eid: „Mein Onkel, selbst wenn sie die Sonne in meine rechte Hand und den Mond in meine linke geben würden im Austausch dafür, dass ich diese Sache hinter mir lasse, würde ich das nicht tun. Ich werde nicht von ihr ablassen bis zu dem Moment, in dem ich sterbe.“
Der Gesandte Allahs verstand die Haqiqa, die Wahrheit. Diejenigen, die in der Dunja versunken sind, vergessen das wirkliche Leben, das Jenseits (arab. akhira). Sie befinden sich im größten Zustand des Vergessens. Die Liebe zur diesseitigen Welt schafft einen Schleier auf ihren Herzen. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, gab seinem Gefährten Abu Huraira einen Rat: „Abu Huraira, wenn Liebe zur Dunja das Herz betritt, verschwindet Liebe zu Allah. Und wenn Liebe zu Allah in das Herz kommt, verschwindet die Liebe zur Dunja.“ Daher dürfen wir es niemals zulassen, dass sich die Dunja in unseren Herzen festsetzt.
Die Schaikhs sagen, dass die abstoßendste Sache, die ein Suchender tun kann, darin besteht, in der Gesellschaft der Leute dieser Welt zu sitzen. Sie fürchteten sich vor Zirkeln, in denen es bloß um weltliche Dinge geht. Das ist gefährlich für das Wohlergehen des Herzens.
Als Menschen bedürfen wir der Dinge dieser Welt. Aber das Recht sagt uns, dass wir in allen Dingen den Mittelweg wählen müssen. Daher darf diese Welt nicht unsere einzige Sorge sein. In einem der Bittgebete, die wir in unserer Litanei rezitieren, findet sich ein Gebet vom Propheten: „Mache diese Welt nicht zu unserer größten Sorge.“ Aber warum rezitieren wir nicht: „Mache diese Welt nicht zu unserer Sorge“? Allah will, dass wir uns für einen mittleren Weg entscheiden. Weder sollen wir uns ausschließlich auf diese Welt fokussieren, noch bloß auf die Akhira, sodass wir die Angelegenheiten dieser Welt ignorieren. Schaikh Muhammad ibn Al-Habib sagte in einem seiner Vorträge: „Sie sind beide Quellen für Schaden. Sobald man mit der einen zufrieden ist, verursacht die andere Schaden. Also steht in der Mitte zwischen ihnen.“
Es gibt zwei Verständnisse von Zuhd, die in der Lehre und in Anekdoten beschrieben werden. Für manche ist es, sich selbst von der Dunja und der Welt abzutrennen. Aber das ist etwas, über das der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Es gibt kein Mönchstum im Islam.“
Und die andere Sicht, die korrekte und wahre, beschreibt eine Person, die sich inmitten der Dunja befindet. Ihr Herz aber ist von der Welt abgeschnitten. Und so gehen wir zu den Worten des Propheten zurück: „Es gibt kein Leben außer dem Leben des Jenseits (arab. akhira).“
Daher müssen die Mu’minun den Mittelweg nehmen und sagen: „Unser Herr gib uns das Beste in der Dunja und das Beste in der Akhira“. Und sie müssen es vermeiden, wie jene zu sein, über die ­Allah sagt: „Unter den Menschen gibt es manch einen, der sagt: ‘Unser Herr, gib uns im Diesseits!’ Doch hat er am Jenseits keinen Anteil.“ (Al-Baqara, 200)