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Wir brauchen eine ökonomische Vision

Ausgabe 274

Foto: IZ Medien

Es ist Zeit, dass Muslime wieder anfangen, Spitzenleistungen anzustreben. Zu lange waren wir damit zufrieden, gerade gut genug zu sein. Islam soll aber erneut ein Symbol für Herausragendes werden. Wenn wir in unsere Geschichte zurückschauen, ­sehen wir eine Vergangenheit der Errungenschaften. Was hat diese Vortrefflichkeit hervorgebracht? Wie haben sie das gemacht?

Muslimischer Handel hat im Mittelalter jede andere Art des Handels übertroffen. Die damaligen Muslime brachten herausragende kaufmännische Kulturen hervor. Wir denken heute häufig, es ginge in unserem Din bloß um das Seelenleben und das Jenseits. Doch der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, begann selbst als Händler. Als einer, der ehrlich (arab. sadiq) und vertrauenswürdig (arab. amin) war. Sein Haus war der Ort, an dem die Leute Wertsachen hinterlassen konnten, weil diese dort sicher waren. Dies war eine Zeit, als es noch keine Sicherheitsschlösser, Überwachungskameras und Banken gab. Wenn man in Mekka wertvolle ­Güter hatte und sie an einem vertrauenswürdigen Ort aufbewahren wollte, so ging man zu Al-Amin, Allahs Segen und Friede auf ihm. Er war Teil des kaufmännischen Lebens seiner Gemeinschaft. ­Seine erste Frau Khadidscha war seine Arbeitgeberin.

Die muslimischen Kulturen brachten es fertig, den Handel als Teil der Religion mit dem spirituellen Leben zu verknüpfen. Im Islam waren sie nicht voneinander getrennt. Und somit schufen sie ausgezeichnete Institutionen und Handelsrouten, welche zur Grundlage der weltweiten Wirtschaft wurden. Dies wurde beeinflusst durch eine spezifische Sicht auf Wohlstand und Reichtum.

Schauen wir uns also den Begriff der Wirtschaftsethik an, um zu verstehen, wie man ins Paradies gelangen kann. Nicht trotz, sondern gerade durch das Betreiben eines Unternehmens. Einige der Prophetengefährten (arab. sahaba) waren sehr arm, oder sie wurden reich und waren später wieder arm. Wie etwa Abu Bakr as-Siddiq, der dadurch ver­armte, dass er den Armen, Waisen, Witwen und anderen Bedürftigen half. Dies war seine Berufung und er wurde dafür geliebt.

Die Armen kamen einmal zum ­Propheten und sagten: „Oh Gesandter Allahs, die Reichen haben alle Vorzüge, die wir auch haben, denn sie beten wie wir es auch tun, aber sie geben zudem Sadaqa und wir sind nicht in der Lage dazu.“ Er antwortete: „Dies ist Allahs Gunst und Er gibt sie, wem Er will.“ Der Wohlstand einer Person hat in unserer Religion, die uns lehrt, dass das Herz der einzige Maßstab ist, keinen wirklichen Wert. Es ist sogar so, dass Eigenschaften wie Weichherzigkeit für gewöhnlich den Armen zueigen sind. Der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, traf die Entscheidung, mit den Armen zu leben.

Aber der zweite Kalif des Islam, ­‘Uthman ibn ‘Affan, wurde zum Beispiel „Al-Ghani“ (der Reiche) genannt. Und dies hat seinen berechtigten Platz in unserer Religion, denn dies gehört zur Reichhaltigkeit des Islam. Es gibt viele Punkte in der Gesellschaft, von derer aus auf die Ka’aba geblickt werden kann; viele Wege, auf denen jemand das Seelenheil erlangen kann. Diese Vielfältigkeit war einer der Gründe, wieso sich die mus­limische Gesellschaft vollkommen auf Allah ausrichten konnte. Wieso die Moscheen so schnell gebaut werden konnten – und auf so herausragende architektonische Art. Gleichzeitig bildete sich eine Wirtschaftsordnung und Handelsstruktur heraus, welche das Mittelalter prägen und den weltweiten Handel bis ins 16. und 17. Jahrhundert dominieren sollte.

Wir haben also diese ehrenvolle Tradition des Handels. Sie bildet die Grundlage, um die islamische Wirtschaftsethik zu verstehen. Der Begriff des „Adab al-Kasb wa Ma’ischa“ – die gute Art, den Lebensunterhalt (arab. kasb) zu verdienen und mit anderen umzugehen (arab. ma’ischa) – wird in Hunderten von ­Büchern behandelt. Al-Ghazali spricht in einem der Bücher seiner „Ihja ‘Ulum ad-Din“ über kasb. Man könnte fast grenzenlos über die Prinzipien unserer ökonomischen Vision sprechen.

Ein wichtiger Aspekt ist dabei die ­Zakat. Sie stellte sicher, dass eine sehr langanhaltende Anhäufung von Kapital nur schwierig umzusetzen ist. Sie ist einer der Gründe, wieso sich das Feudalsystem in der muslimischen Welt nie so entwickelte wie im Westen. Das Kapital wurde von der Zakat verbraucht und wenn jemand starb, wurde es nicht an den ältesten Sohn weitergegeben, sondern an eine Reihe von Erben. Angehäuftes Kapital wurde also mit jeder Generation aufs Neue aufgebrochen und umverteilt. Die Vorschriften zur Zakat und zur Erbschaft machten den fundamentalen Unterschied zwischen den muslimischen und christlichen Kulturen der Vergangenheit aus. Der Grund für diese Gesetze war die Gewährleistung, dass Reichtum im Umlauf bliebt. Unter den ersten Versen der Offenbarung des Qur’an waren Botschaften gegen die Plutokraten von Mekka. Sie teilten nicht mit den Armen. „Die Vermehrung lenkt euch ab, bis ihr die Friedhöfe besucht.“ (At-Takhaatur, 1-2). Die Gegner des Propheten waren auch Händler, aber von anderer Natur. Sie waren hartherzig, misshandelten Sklaven und Waisen und horteten ihre Reichtümer. Dies ist also ein wichtiges Prinzip in der qur’anischen Offenbarung; etwas, das gleich zu Beginn dargelegt werden musste.

Wir sehen, dass die Notwendigkeit des Umlaufs von Reichtum und der damit einhergehenden Fürsorge für die Armen die klassischen muslimischen Kulturen zum Resultat hatte. Hier gab es eine weitaus kleinere Polarisierung zwischen den Armen und den Reichen als wir sie in anderen Gesellschaften finden, wie etwa in den modernen USA. In Wahrheit gibt es dort weniger Möglichkeiten, die Erfolgsleiter zu erklimmen, als vielen bewusst ist. Und die Polarisierung wird mit dem neuen Steuersystem nur weiter vorangetrieben werden, was einer der Skandale der modernen Welt ist. Und es ist wohl auch die Achillesferse der Moderne.

Die Universität von Maryland in den USA veröffentlichte kürzlich eine Studie zum Aufstieg und Verfall von Kulturen. Zwei Faktoren sind demnach Ausgangspunkte, anhand welcher sich der Kollaps einer Zivilisation vorhersagen lasse. Die Umweltkrise ist der erste Aspekt – der Sauerstoff könnte uns ausgehen. Der zweite Aspekt ist die wachsende Ungleichheit zwischen Superreichen und ­extrem Armen. Sie würde zu immer ­größeren sozialem Unbehagen führen und sich auf mehr und mehr Länder ausweiten.

Im Kontext der klassischen muslimischen Kulturen hat dies nicht stattgefunden, denn wir hatten praktische Konzepte wie Sadaqa, Zakat und Stiftungen (arab. Auqaf). Die Waqf-Institutionen in Istan­bul wurden in den 1920er Jahren von den republikanischen türkischen Nationalisten zerstört. Ein Drittel des Lands in Istanbul war zuvor im Besitz der Auqaf. Ihre Funktion war grundlegend gemeinnützig. Soziale Dienste wurden demnach nicht durch den Staat, sondern die Großzügigkeit der Menschen sichergestellt. So wurden etwa Suppenküchen, Krankenhäuser oder öffentliche Brunnen zur Verfügung gestellt. Die muslimischen Gesellschaften erkannten eine wunderbare Art, Probleme zu lösen, ohne dass es dafür einer endlosen staatlichen Intervention bedurfte. Die Schönheit des ­Islam liegt darin, dass ein Gemeinwesen eigentlich nicht viel tut, während die Menschen durch ihre Verpflichtung ­Allah gegenüber sehr viel tun.

Imam Al-Ghazali sagt in seinem vorher erwähnten Buch, dass das erste Prinzip des Handels ist, dass wir in Erinnerung behalten werden. Allah beobachtet uns. Wir sprechen nie auch nur ein Wort, ohne dass Er uns hört. Das ist die Grundlage der islamischen Ökonomie. Steuern zu hinterziehen, ist ein säkulares Unterfangen. Wir können jedoch nichts vor dem Schöpfer geheim halten. Und die Zakat ist eine Pflicht. Sie zu umgehen, ist eine Art, mit Allah Spielchen zu spielen. Der kluge Gläubige wird dies nicht anstreben.

Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken, beobachtete das in seiner Gesellschaft: Die Basis des damaligen kaufmännischen Verhaltens waren Täuschung und Lüge. Also sagte er: „Alles hat seinen Schwachpunkt, und jener der Ökonomie ist es, zu lügen.“ Ich kenne die Versuchung ja selbst. Wenn ich etwas auf Ebay verkaufen möchte, mache ich mir wirklich die Mühe, jede Einzelheit zu wissen, die es über das ­Produkt, welches ich verkaufen möchte? ­Al-Ghazali beschrieb die trügerische ­Eigenschaft, Dinge als etwas zu präsentieren, was sie nicht sind. Der Gläubige muss die Wut des Propheten dagegen verspüren, andere zu täuschen. Der Muslim oder die Muslimin möchte als ehrenvolle Person mit Kunden ehrlich umgehen und Dinge ehrenhaft machen. Der Händler möchte Al-Amin, dem Vertrauenswürdigen, folgen.

Muslime haben weite Teil der Welt nicht durch Missionierung zum Islam gebracht, sondern durch Handel. Sie gingen nicht als Missionare nach Indonesien, China, Ostafrika, sondern um Güter zu verkaufen. Sie waren aber so großartig, ehrlich und wurden derart respektiert, dass die Leute neugierig wurden. Was machte sie zu dem, was sie waren? Was bewirkte diese herausragenden Charaktereigenschaften in ihnen? Was war so faszinierend am muslimischen Händler, der gleichzeitig auch ein brillanter Geschäftsmann war? Sie waren Menschen mit Würde und Ehre – denn sie wussten, dass Allah sie beobachtet.

Einiges in Al-Ghazalis Buch könnte uns heute obsolet erscheinen. In Wirklichkeit ist es das aber nicht. Der Prophet hat es zum Beispiel verboten, Fremde einen höheren Preis zahlen zu lassen als Einheimische. Die Menschen kannten damals nicht die Preise eines anderen Ortes. In Sarajevo vor 300 Jahren sorgten Zünfte dafür, dass ihre Profession nicht in Verruf gebracht wird. Wenn jemand einen Besucher hinterging, indem er ihn einen höheren Preis zahlen ließ, wurde gleich eine Zeremonie abgehalten. Ein grünes, seidenes Tuch mit den Versen des Qur’an wurde dann über die Güter dieses Händlers gelegt, er musste in seinem Laden mit offenen ­Türen sitzen und durfte so lange nichts verkaufen, bis der Obermeister der Zunft entschied, dass er seine Lektion gelernt hatte. Dann musste er etwas aus dem Qur’an rezitieren und der Meister entfernte das Tuch von seiner Ware, ­damit er sie wieder verkaufen durfte. Man brauchte keinen Staat, kein Finanzamt. Es war schlichtweg entgegen der Ehre dieser Gesellschaft, entgegen der Praxis der Futuwwa, seinen Kunden zu betrügen.

Ein anderes Beispiel ist das Wiegen von Gold und Silber. Die muslimische Praxis war es, immer zu Gunsten des Kunden etwas mehr in die Waagschale zu legen, als eigentlich vorgesehen. Dies gehört zum Adab des Händlers; sicherzustellen, dass der Kunde nicht zu wenig zurückbekommt. Auch wenn wir heute nicht mehr mit Gold handeln und es­ ­abmessen, ist das Prinzip jedoch immer noch gültig. Wir müssen sicherstellen, stets exakt zu sein. Eine weitere Regel ist, dass Fehler in der Ware niemals ver­heimlicht werden dürfen. Der Prophet sagte zu dieser Sache: „Wer betrügt, gehört nicht zu uns.“ Eine sehr alarmierende Aussage! Schauen wir uns touristische Orte in der arabischen Welt an: Es grenzt an ein Wunder, nicht betrogen zu ­werden.

Als Muslime wissen wir, dass wenn wir unseren Verdienst, unseren Handel, auf ehrenhafte Weise vollziehen und all die strikten Vorschriften einhalten, die uns der Prophet, auferlegt hat, eine Baraka al-Mal darin sein wird. Unser Geld wird eine Baraka, einen Segen innehaben. Und zahlreiche wundervolle Dinge werden mit diesem Geld und durch diesen Segen passieren. Gleichzeitig können Leute haufenweise Geld haben. Wenn jedoch keine Baraka darin ist, wird es zu Asche; nichts Gutes tritt daraus hervor. Dies ist ein immens wichtiges islamisches Prinzip.

Eine weitere wichtige Angelegenheit sind Schulden. Der Muslim ist dazu verpflichtet, seine Schulden schnellstmöglich zu begleichen. Dies ist Teil seiner Würde. Ebenso ist der Muslim, der anderen Geld leiht, dazu geneigt, ihnen das Begleichen ihrer Schulden so einfach wie möglich zu machen. Oft wird er ihnen die Schulden einfach erlassen. Auch dies gehört zur Ehre des Muslims. Es ist eine qur’anische Tugend.

Diese Gesetze sind dazu da, uns Ehre zu verleihen und die Vollzüglichkeit unseres Dins tatsächlich zu spüren zu bekommen.