Zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Wie die Menschen in Kairo den Fastenmonat begehe

Ausgabe 217

(iz). Vor vielen Jahren, als noch ein Kalif in Ägypten regierte, lebten Mariam und ihr Bruder Murad mit ihren Eltern in einer kleinen Gasse am Rand von Kairo. ­Tagsüber spielten die Beiden oft mit ihren ­Cousins und Cousinen bei ihrer Tante Khadidscha. Gemeinsam machten Spiele wie Murmeln werfen oder Verstecken einfach mehr Spaß. Aber auch in Kairo geht ein Tag irgendwann zu Ende, und in der Dämmerung konnte man die bunten Murmeln im Hof leicht verlieren, und Versteckspielen war dann richtig unfair für den, der suchen musste. Meist muss­ten Murad und Mariam auch schon zum Maghrib-Gebet wieder zu Hause sein. Wie bei allen anderen Nachbarn war es dann ziemlich dunkel zu Hause. Elektri­sches Licht gab es noch nicht und Kerzen oder Öllampen waren teuer. Meist gingen alle Menschen sehr früh schlafen.

Ganz anders war das im Ramadan: die Menschen brachen nach dem Sonnenuntergang ihr Fasten. Den ganzen Tag hatten sie nichts gegessen und ­getrunken, und besonders die Kinder, die das Fasten zu ersten Mal ausprobierten, freuten sich sehr, wenn die Sonne endlich untergegangen war.

Auch wenn das Geld nicht in allen Häusern zu einem großen Festessen reichte, schmeckte doch auch eine einfache Mahlzeit nach einem Fastentag besonders lecker.

Nach dem Essen beteten die Menschen gemeinsam in den Moscheen und lasen bis in die Nacht hinein im Qur’an – dem Buch Allahs. Dazu waren die Häuser und Straßen hell erleuchtet. Die Nächte waren nicht mehr dunkel und einsam. Oft kamen zum Essen auch Verwandte und Freunde zu Besuch und brachten ihre Kinder mit. In Kairo gab es – wie in vielen anderen Städten – noch einen ganz besonderen Brauch: Die Kinder durften mit eigenen selbstgebastelten Laternen den Nachtwächter oder sogar den Khalifen der Stadt begleiten, die dann am Abend auf einen Hügel vor die Stadt gingen, um den Beginn und das Ende der Fastenzeit genau zu bestimmen.

Bevor alle ge­spannt auf die dünne Mondsichel am Nachthimmel warteten, trug jedes Kind stolz seine Laterne durch die Gassen: Das Licht leuchtete durch das bunte Glas in allen Farben in die Nacht hinaus, und ein fröhliches Kinderlachen begleitete den Khalifen und den Nachtwächter auf ihrem Rundgang. Fanuus – Ramadanlaternen.

Obwohl das Licht in den Nächten des Ramadan in allen muslimischen Ländern eine wichtige Rolle spielt – wird doch in den Nachtstunden oft lange gebetet und auch gegessen –, stammt der Ge­brauch einer Ramadanlaterne aus dem Ägypten des Fatimiden-Khalifats.

Der Khalif, der als religiöses Oberhaupt des Staates mit Hilfe der Mondsichtung den Beginn beziehungsweise das Ende des Fastenmonats Ramadan bestimmte, wurde bei seiner für das alltägliche Leben der Menschen so wichtigen Tätigkeit von einer aufgeregten und gespannten Kinderschar begleitet. Viele von ihnen trugen aufwändig verzierte Fanuus-Laternen und sangen Lieder, um den Fastenmonat Ramadan willkommen zu heißen.

Traditionell wurde der Fanuus aus dünnen, bunten Gläsern gefertigt und inwendig von einer Kerze oder ­Öllampe hell erleuchtet. In heutigen Zeiten be­dient man sich gern auch einer batteriebetriebenen Glühlampe, auch wenn dann der Gewinn an Sicherheit mit einem Verlust an Charme bezahlt wird. Die Kinder der vergangenen Jahrhunderte liebten ihren Fanuus, denn das war die Gelegenheit, zu einem eigenen Licht zu kommen. Und das war nicht nur irgendein gewöhnliches Licht, nein, das Licht der Kinder leuchtete in allen erdenklichen Farben. An den langen Abenden nach dem Fastenbrechen ­trafen sich die Kinder in den Gassen und Stra­ßen, und da es damals noch keine elektrische Straßenbeleuchtung gab, war der einzige Lichtschein außerhalb der Häuser der bunte Schein des Fanuus. Ge­mein­sam wurde gespielt, den Erzählungen der Alten gelauscht oder gesungen.

Auch heute noch verwandeln sich einige Tage, bevor der Ramadan beginnt, viele Straßen in Ägypten in große Fanuuswerkstätten. Die Kunsthandwerker sind dann bemüht, so viele Fanwanijs (Mehrzahl von Fanuus) wie nur irgend möglich herzustellen. Schließlich ­möchte jedes Kind baldmöglichst eine Laterne besitzen und singend und schwingend durch die Straßen ziehen.

Dabei werden die Fanuus-Macher nicht gerade reich. Wie vielen anderen Handwerkern muss ihnen eine kleine Straßenecke oder ein kleiner Alkoven genügen. Da der Bedarf an Fawanijs jedes Jahr groß ist, beginnt die Herstellung der bunten Laternen oft schon sechs bis neun Monate vor dem Ramadan.

Dabei folgen Form und Größe des Fanuus nicht mehr nur den alten geometrischen Formen oder traditionellen Mustern wie Minarett, Baum oder Halbmond, man findet auch Raketen, Autos oder Flugzeuge. Aber eines haben alle doch gemeinsam: Spaß für die Kinder.

Doch auch die Erwachsenen schmü­cken ihre Häuser und Torbögen mit den traditionellen Laternen. Dabei gibt es sowohl billige asiatische Plastikimporte mit flackerndem elektrischen Licht, die gleichzeitig die neuesten Hits abspielen, als auch wertvolle Familienerbstücke zu bewundern.

Die anfängliche Angst der ägyptischen Handwerker, billige Importware würde ihre aufwändigeren Produkte ­verdrängen, hat sich als unbegründet herausgestellt, denn die meisten Ägypter sind sich ihrer Traditionen wohl bewusst. Und so ­laufen auch jetzt die Kinder abends durch die Straßen, schwingen ihre Fawanijs, gehen von Tür zu Tür und singen „Wahawi ja Wahawi …“