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Abgründe der Eskalation in Indien

Ausgabe 320

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Foto: arindambanerjee, Shutterstock

Die regierende BJP in Neu Delhi unternimmt nichts, um die täglichen Steigerungen des Hasses auf und die Gewalt gegen Muslime zu unterbinden.

(iz). Wenn ein beliebter Schauspieler vor einem möglichen Genozid an einer religiösen Minderheit warnt, muss die Lage in seiner Heimat bedrohlich sein. So geschah es im Interview, dass Naseeruddin Shah, einer der populärsten Darsteller Indiens, dem Magazine „The Wire“ gab. „Wenn es hart auf hart kommt, werden wir uns wehren… Wenn es dazu kommt, werden wir es tun. Wir verteidigen unsere Häuser, unsere Familie, unsere Kinder.“

Was war geschehen? Auf einer Konferenz der rechtsradikalen Bewegung Hindu Mahasabha forderte Pooja Shakun Pandey, eine ihrer führenden Köpfe, die Anwesenden zum Mord an den Muslimen des Landes auf. „Wenn 100 von uns Soldaten werden und bereit sind, zwei Millionen (Muslime) zu töten, dann werden wir gewinnen… Indien schützen und es zu einer Hindu-Nation machen“, sagte Pandey in einem Video. Wie Aufnahmen des dreitägigen Treffens im nordindischen Haridwar zeigen, reagierte die anwesende Menge mit tosendem Applaus.

Im In- und im Ausland stießen ihre faschistoiden Aussagen auf Empörung und Wut. Verärgert sind viele Inder auch angesichts einer fehlenden Antwort der religiös-nationalistischen Regierungspartei BJP und ihres Ministerpräsidenten Modi. Sie forderte bisher weder Verhaftungen, noch kommentierte sie den Vorgang sonderlich. Das verwundert nicht, entstammt die Partei dem gleichen Lager und betrieb in den letzten Jahren eine Politik, die auf die konsequente Diskriminierung von Minderheiten wie Muslimen, Christen und Kastenlosen angelegt ist. Auch die BJP  hängt der Hindutva-Ideologie an, die aus Indien ein rein hinduistisches Land machen will.

Während Politik und Exekutive passiv blieben, regierte der Oberste Gerichtshof Indiens. Mitte Januar kündigte er dem nordindischen Staat Uttarakhand (in dem Haridwar liegt) Untersuchungen der Forderungen nach einem „Genozid“ an. In der entsprechenden Petition, die von der pensionierten Richterin Anjana Prakash eingereicht wurde, heißt es, dass die Reden, die auf der Versammlung der religiösen Hindu-Führer gehalten wurden, „nicht nur eine ernste Bedrohung für die Einheit und Integrität unseres Landes darstellen, sondern auch das Leben von Millionen muslimischen Bürgern gefährden“.

Gregory Stanton, renommierter Völkermordforscher aus den USA, sieht in Indien (namentlich in Assam und in Kaschmir) „Anzeichen und Prozesse“ eines Genozids. „Wir warnen davor, dass es in Indien durchaus zu einem Völkermord kommen kann“, sagte Stanton auf einer Anhörung des US-Kongresses. Das Menschheitsverbrechen sei kein Ereignis, sondern ein Prozess. Es bestünden Parallelen zwischen der Politik von Ministerpräsident Modi und dem Umgang der burmesischen (Myanmar) Regierung gegen die muslimischen Rohingya 2017.

Muslime machen nach offiziellen Angaben (ihre eigenen sind höher) 14 Prozent der rund 1,4 Milliarden Inder aus; Hindus rund 80. Laut einer Studie von Pew Research (September 2021) nehmen die Geburtsraten aller Religionsgemeinschaften ab. Seit 1951 habe sich die religiöse Zusammensetzung kaum geändert. Der Präsident der Jamiat Ulama-i-Hind, die größte sozioreligiöse muslimische Organisation, beschuldigte die Regierung, bei Hasstiraden gegen ihre Gemeinschaft wegzuschauen.

Trotz ihrer großen Zahl sind Indiens Muslime seit langer Zeit in Politik und Gesellschaft komplett marginalisiert. Auf einem Treffen zu ihrer Rolle in der Politik sagte der ehemalige Abgeordnete Mohammad Adeeb am 6. Februar, Muslime hätten keinen öffentlichen Status. „Alle Parteien gehen auf Distanz zu Muslimen, weil sie befürchten, dass sie bei Wahlen weniger Stimmen erhalten und politisch leiden würden, wenn die Muslime ihrer Partei nahestehen.“ Tasleem Rehmani, Präsident des Muslimisch-Politischen Rates von Indien, beklagte, dass es an belastbaren Daten über die Community fehle: „Wir wissen nicht einmal, welchen Status wir in Bezug auf Bildung, Politik und Gesellschaft haben.“