
(iz). Im westlichen Denken hat das Wort Flucht keinen guten Klang. Es klingt nach Sich-davon-Stehlen, Verantwortungslosigkeit, Desertion. Mit dieser Abwertung des Fliehens korrespondiert, dass der Urmythos des Westens, die Passion Christi, die Geschichte einer (freiwilligen) Selbstauslieferung ist: der Messias ließ sich, anstatt sich der drohenden Festnahme zu entziehen, widerstandslos verhaften, und als ihm später der Statthalter im Verhör goldene Brücken baute – „weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich freizugeben, und Macht, dich zu kreuzigen?“ –, schlug er diesen Fluchtweg aus.
Die Passion des Heilands ist mythengeschichtlich bekanntlich nicht präzedenzlos. Auch von Sokrates, dem Vor-Denker des Christentums, ist bekannt, dass seine Freunde ihn vor seiner Hinrichtung aus dem Athener Gefängnis schmuggeln wollten; auch er lehnte ab und trank stattdessen den Schierlingsbecher.
Das Opfer, das Hineinsterben in die Ausweglosigkeit, die dadurch aufgehoben und aufgelöst wird, ist der Urtopos des abendländischen Denkens. Doch ist dieser Topos mythohistorisch nicht konkurrenzlos: Im morgenländischen Islam, aber auch in den christlichen Apokryphen stirbt Jesus von Nazareth nicht am Kreuz, sondern kann sich seiner Hinrichtung entziehen, geht nach Osten (Indien) und lebt dort noch viele Jahre als Prediger. Der Islam selbst kreist zentral um eine Fluchtgeschichte, die eine Befreiungsgeschichte ist: seine Zeitrechnung beginnt mit dem Haddsch, der Flucht des Propheten von Mekka nach Medina. Und die jüdische Überlieferung ist geradezu an Fluchtgeschichten entlanggebaut: beginnend mit der Vertreibung aus dem Paradies (die vielleicht kein erzwungenes Exil war, sondern eine Flucht in ein besseres Leben), über die Flucht vor der Sintflut mit der Arche und die Auswanderung Abrahams nach Kanaan bis zum abenteuerlichen Auszug Mose aus Ägypten.
Der jesuanische Mythos hingegen hat den Topos des Auszugs nur noch in Gestalt der Flucht nach Ägypten konserviert, als Jesus noch ein kleines Kind ist, gleichsam ein frühes retardierendes Element in seiner Biographie, die da noch nicht Leidensgeschichte ist; sie wird es erst mit seiner Lehrrede im Tempel als Zwölfjähriger, zu der er passend von der Mutter, der Figur des Lebens, ausreißt.
Auch der heutige postkoloniale Diskurs hat eine antifugale Grundrichtung: das In-die-Fremde-gehen, um dort eine neue Heimstatt zu finden, wird als intrusiv und besitzergreifend verurteilt, jedenfalls, soweit es die europäische Vergangenheit betrifft. Doch im Fliehen und Auswandern liegen Rettung und Glück, ja mehr noch: im Fliehen liegt das Wesen des Menschen in seiner Vergegenständlichung.
Wer läuft, spürt dieses Glück. Er baut eine Spannung auf, die durchs Erreichen des Ziels aufgelöst und befriedet wird. In dieser Spannung antizipiert sich der Spannungsbogen der eigenen Biographie: die indefinite Linearität des Lebens zwischen Geburt und Tod wird beim Laufen mit hohem Puls unter Kreislaufvolllast bestimmt und greifbar; die sonst so vage Zielhaftigkeit seines Lebens, das ja fast immer eher ein Dahinleben, ein Gelebtwerden ist, eignet sich die Laufende wieder an, gewaltsam, aber gegen den eigenen Körper, die eigene Schwäche.
Man läuft „unmittelbar zu Gott“, der den Menschen ausgeschieden hat in die Einöde des Planeten, hier eine Heimstatt zu finden; „zu“ hier nicht verstanden als Präposition der Richtung, sondern des Ortes, der Lage. Im Sich-aufrecht-halten beim Laufen reaktualisiert der Mensch nicht nur den Lauf für sein Überleben, der am Anfang seiner anthropologischen Biographie steht: die einsamen Wanderungen durch die Savanne, dann out of Africa, über die arabische Halbinsel in den Rest der Welt, der früheste Heroismus des Homo sapiens; er reinszeniert darin auch das erste Über-den-Dingen-stehen, das früheste Überschauen der Natur, aus der man nun entbettet war: Jetzt stand der Mensch und wies den Sternen, das königliche Angesicht, wie Schiller schreibt. Nirgends spürt man die Aufrechte des Körpers, in der sich die Aufrechte des Geistes ausdrückt, so sehr wie beim Rennen, in der höchsten Anspannung, am Rande der höchsten Erschöpfung.
In dieser höchsten Anspannung ist der Laufende überall zuhause. Wie ein kämpfendes Tier, ein sich befreiendes Entführungsopfer erobert er sich in Blitzesschnelle eine neue Umgebung, eine neue Stadt, die ihm zwei Tage zuvor bei der Landung am Flughafen noch völlig unbekannt gewesen. Aber es ist keine gewaltvolle Eroberung, sondern eine Eroberung des Geistes, der sein Umfeld, der die eigene Körperlichkeit herrisch und herrlich unter seinen Bann zwingt, um das ihm vertraute körperliche Leben zu retten.
Alle Lebensgeschichten sind Fluchtgeschichten. Die Reisewut junger Generationen waren und sind Geschichten der finalen Abnabelung von Eltern- und Großelternhäusern, über denen noch der habituelle Alp von Krieg, Vertreibung und Verbrechen lastete. Und es sind private Fluchtgeschichten: In dem Musikvideo zum Song „Drive Darling“ des Popduos BOY sieht man, wie zwei Frauen in winterlicher Landschaft im Auto davonfahren. Sie verlassen ihre vertraute Umgebung und ihr liebes Haus, sie fliehen vor einer gescheiterten, womöglich gewaltvollen Beziehung. Immer wieder sieht man im Musikvideo den Partner, den eine der Frauen verlassen hat, kalt und bedrohlich auftauchen. Es ist ein tieftrauriges Lied, das indessen ein klagendes, kleines Glück verheißt: das Glück der Sicherheit, die die beiden Frauen im Auto in der Ferne, im Abstand finden werden – und sei es um den Preis der völligen Zurücklassung des Besitzes, des materiellen und des seelischen.
Von Aufständen der „Sonderkommandos“ in den Vernichtungslagern der Nazis weiß man, dass die Flüchtenden oftmals den „einfachen“ Wunsch hatten, unter freiem Himmel und im Laufen zu sterben, anstatt im Lager elendiglich zu verrecken. Sie wussten um den elektrisch geladenen Zaun, die Minengürtel vor dem Lager, die mit Maschinengewehren besetzten Wachtürme. Sie wussten, dass ihr Vorhaben schier aussichtslos war, aber sie wollten unter freiem Himmel sterben, und deshalb wagten sie das Aussichtslose und brachen aus. So liest man es in den Memoiren vieler Überlebender von Auschwitz, Treblinka, Sobibor. Der Mensch ist schon da frei, wo seine Befreiung beginnt, nicht erst, wenn ein bestimmter Befreiungsplan aufgeht.
„Wir schnellen“, schreibt Remarque, „mit einem Ruck in einem Teil unseres Seins beim ersten Dröhnen der Granaten um Tausende von Jahren zurück. Es ist der Instinkt des Tieres, der in uns erwacht, der uns leitet und beschützt. Er ist nicht bewusst, er ist viel schneller, viel sicherer, viel unfehlbarer als das Bewusstsein.“ Also geht es uns beim Laufen: der Mensch wird wieder zum Tier, aber zum bewussten Tier, das sein Leiden und sein Freiwerden mit jeder Faser seines Wesens und seines Geistes erlebt und spürt.
Im Sport des Laufens, das ein Nicht-zu-laufen-aufhören, ein In-Bewegung-bleiben ist, erfährt der Mensch seine Bindung an und durch das Göttliche so intensiv wie vielleicht sonst nur in der Kunst. Selbst im Triumphieren, wenn man spürt, dass die Reserven für das gewählte Tempo reichen und ein neuer Rekord winkt, bleibt man demütig, weil man weiß, dass mit dem nächsten Schritt vorwärts der jähe Einbruch kommen kann – und irgendwann auch kommen wird. Selbst im Ziel ist man nicht „am Ende“. Das unterscheidet das Hoch des Läufers von der postkoitalen Tristesse mit ihrem verstörten „was will ich eigentlich hier“: indem man ankommt, spürt man, dass es nie darum ging, „anzukommen“, sondern darum, wegzulaufen, auszubrechen. Damit ein neuer Weltbezug entstehen kann, müssen die falschen weltlichen Bezüge aufgekündigt werden, abgeschüttelt im Schweiß, in der Salzkruste auf der Haut. Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, aber ein Anfang ist nur da, wo der Mensch auf die Reise geschickt wird. Diese Reise auf und durch die Welt vollzieht sich horizontal, aber sie hat zugleich eine vertikale Dimension: die durch die Aufrechte zum Überweltlichen, zu dem der Laufende mit jeder Aufwärtsbewegung wiederhinstrebt.
„Jede Verringerung von Entfernung auf der Erde“, schreibt Hannah Arendt in einer berühmten Passage in Vita activa, „kann nur um den Preis einer vergrößerten Entfernung des Menschen von der Erde gewonnen werden, also um den Preis einer entscheidenden Entfremdung des Menschen von seiner unmittelbaren irdischen Behausung.“ Wer von Berlin nach Hamburg reist, steigt dazu in ein Auto, die Bahn, ein Flugzeug; er stellt seine Füße auf den Untergrund des Fahrzeugs und verlässt damit den irdischen Untergrund. Im Jahr 1705 aber reiste der zwanzigjährige Johann Sebastian Bach zu Fuß vom Thüringischen Arnstadt nach Lübeck, um dort bei dem großen Organisten Dietrich Buxtehude in die Schule zu gehen. Vierhundert Kilometer, Fuß vor Fuß setzend, wanderte der junge Bach quer durch Norddeutschland und blieb doch die überwiegende Zeit dieses Marsches mit wenigstens einem Fuß auf der Erde.
Gleich Bach stellen auch wir Laufende die Verbindung unseres Körpers zur Erde, um die uns die Kommodität moderner Mobilität gebracht hat, wieder her. Wir „nehmen nicht den Zug“, wir „gehen“ zu Fuß. In dieser Demut vor der Erde verneigen wir uns zugleich vor dem Höchsten. –
Das Glück des Laufens erschöpft sich aber nicht im Rettenden der Flucht. Man kann nicht laufen, ohne fokussiert zu sein: anstatt beim Laufen „den Kopf freizukriegen“, ist es vielmehr so, dass man den Kopf frei haben muss, um laufen zu können. Ist hier aber ein Anfang gemacht, so erledigt den Rest die körperliche Anstrengung. Laufen ist ein iteratives Sichzusammenreißen; die Selbstgespräche des Tages, kreisend um zu erfüllende Pläne, erlittene Demütigungen und deren rasende Vergeltung: bei einer Anstrengung über Stunden hinweg mit einem Puls von konstant über 160 Schlägen kommen sie zwingend zum Erliegen. Die schlechten Gedanken fallen buchstäblich ab von einem, aufgelöst in Ströme von Schweiß.
Stattdessen machen manche Laufende eine andere, konträre Erfahrung: die der Einkehr und Reue. Recordari volo foeditates meas transactas, meiner begangenen Schandtaten möchte ich mich besinnen, schreibt Augustinus und fährt fort: unruhig ist unser Herz, bis es ausruht in Dir, o Herr. Wegen welcher Lächerlichkeiten habe ich mich aufgeregt, bin ich ungerecht gewesen gegen andere, habe ich mich versündigt. Wie die unnötigen Nöte sich verflüchtigen im Angesicht der Riesenaufgabe, diesen Lauf zu Ende zu bringen: so werden die aufgeladenen schlechten Gedanken und Gefühle fortgeschwemmt im Rausch der freigesetzten Hormone.
Das ist das Glück des Laufens: die Reinigung der Seele, „die zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht“. Mit jedem Schritt, jedem Herzschlag stirbt so die Laufende hinein in ihr eigentliches Ich; so nähert sie sich, hinabgestiegen ins Tierische des Fliehens, dem Göttlichen in sich. Diese Spannung zwischen dem animalischen und dem theischen Pol, in der das Menschsein sich vollzieht: im Laufen wird sie wirklich.
Der Autor ist passionierter Freizeitläufer und nahm wenige Tage vor der Niederschrift am Kopenhagener Halbmarathon teil.