
Was darf man lesen? Für den Deutschen Bibliotheksverband ist die Antwort klar: Alles, was man will. Nur dem Grundgesetz dürfen die Bücher, die man sich ausleiht, nicht widersprechen. Diese Einstellung teilt nicht jeder.
Berlin (KNA). Ein Kochbuch des Verschwörungstheoretikers Attila Hildmann, ein Kinderbuch mit dem Wort „Indianer“, ein anthroposophisches Buch zum Thema „Impfen“: So unterschiedlich diese Werke sind, gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auf gesellschaftliche Debatten beziehen lassen und sehr unterschiedliche Emotionen wecken – bei manchen geht das so weit, dass sie die Verbreitung dieser Bücher mit Argwohn sehen und dies am liebsten unterbinden würden. Aus einer öffentlichen Bibliothek ausleihen können – das soll man sie nicht.
Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv), der rund 9.000 Büchereien vertritt, beobachtet bundesweit einen zunehmenden Druck auf Bibliotheken, bestimmte Werke aus ihrem Bestand zu entfernen. „Wir sehen diese Entwicklung mit großer Sorge“, erklärte dbv-Bundesgeschäftsführerin Barbara Schleihagen am Donnerstag in Berlin. Es gebe vornehmlich von rechten, aber auch von linken Gruppierungen entsprechende Bestrebungen. Auch Leserinnen und Leser forderten vermehrt das Entfernen bestimmter Bücher.
Meistens handle es sich dabei um politische Literatur, aber auch um religiöse oder esoterische Werke. „Häufiger wird auch das Entfernen von Kinderbüchern verlangt“, so Schleihagen weiter. „Es gibt in der Gesellschaft eine starke Sensibilisierung dafür, welche Bücher man Kindern zu lesen geben möchte und welche nicht.“
Ähnliche Erfahrungen hat auch die Bibliothekarin Janin Präßler mit interkulturellen Büchern gemacht. So habe eine Mutter vehement gegen das Vorhandensein eines aus Saudi-Arabien stammenden Buches protestiert, in dem ein kleines Mädchen sich auf das Tragen des Kopftuchs freute, erzählt die Fachbereichsleiterin der Stadtbibliothek Treptow-Köpenick von ihrer Arbeit. Auch Bücher von Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht oder die Veröffentlichungen zum Thema Einwanderung des Berliner Ex-Senators Thilo Sarrazin seien immer wieder Gegenstand von Bestandsdebatten.
Für Präßler dagegen ist das Thema Zensur ein rotes Tuch. „Bibliotheken sind demokratische Einrichtungen. Sie garantieren den freien Zugang zu Medien für alle“, betont sie mit Nachdruck. „Wer sind wir, dass wir den Menschen vorschreiben, was sie zu lesen haben? Es geht doch auch um den mündigen Bürger. Wer seine Medizin auspendeln will, kann das gerne tun“, so Präßler mit Blick auf esoterische Literatur.
Im vergangenen Jahr ging der Protest gegen bestimmte Bücher sogar bis zur Zerstörung: So wurden in der Zentralbibliothek des Berliner Bezirks Tempelhof-Schöneberg mehrfach heimlich Bücher zerrissen, die sich kritisch mit rechten Tendenzen beschäftigten oder linke Theorien vorstellten. Meistens wird Forderungen nach Entfernung jedoch durch E-Mails Nachdruck verliehen, manchmal werden auch Flyer in bestimmte Bücher gelegt. Auch das Bibliothekspersonal wird teilweise angegangen, wie Schleihagen berichtet.
Als eine Ursache für den verstärkten Druck, den Bibliotheken bundesweit wahrnehmen, sieht sie eine Tendenz zu Hass und Hetze im Internet. „Natürlich muss es Diskussionen um bestimmte Bücher geben – dies ist Zeichen einer lebendigen Demokratie“, so die Bibliothekarin. Das Fachpersonal, das die Bibliotheken betreue, müsse aber in der Auswahl seiner Bestände unabhängig bleiben. Einzig Bücher, die strafrelevante Inhalte aufweisen – etwa antisemitische oder volksverhetzende Schriften – kämen nicht in den Bestand von Bibliotheken.
„Die Grundlage von Bibliotheken ist die Meinungs- und Informationsfreiheit. Wir haben zum Beispiel Bücher von Impfgegnern genauso im Bestand wie Werke von Impfbefürwortern, damit sich jeder seine eigene Meinung bilden kann“, betont Schleihagen.
Dabei entscheide jede Bibliothek grundsätzlich für sich, wie sie ihren Bestand aufbaue. Neben finanziellen Vorgaben spielt demnach auch der Standort und die Nachfrage eine Rolle, welche Bücher angeschafft werden. „Da muss man immer wieder abwägen.“
Ich denke, man darf das Problem nicht bei rechten oder linken Extremisten verorten wollen. Da drückt es sich nir besonders scharf aus, es liegt aber viel tiefer und ist viel weiter verbreitet. Der Bildungsbegriff, der hinter dem Wort Meinungsfreiheit verborgen ist, hat als solcher seine Bedeutung verloren. Wer mag sich denn heute noch die Mühe machen, sich überhaupt eine Meinung zu bilden – schön mit Pro, Contra, Fazit, also mit vorausgehender Denkarbeit, wenn es doch genauso gut möglich ist, mal kurz ein paar Infos zu einem bestimmten Trend plus die zugehörigen Affekte zu inhalieren und das dann als „Meinung“ zu vertreten? Wer auf diese Weise Recht haben will, fasst jeden Anderen automatisch als Konkurrenten auf und muss ihn notwendigerweise aus dem Spiel kicken wollen, es geht gar nicht anders. Wo Meinungsbildung zu mühsam ist, hat Meinungsfreiheit ihr Recht verloren, es gibt keinen Raum mehr, wo man sie entfalten könnte, und keine Metaebene, auf der man sich begegnen könnte. Es fehlt die Disziplin und die Kunst, also das Können zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung – und damit auch der Bedarf an verschiedenartiger Lektüre.