Die tatarischen Muslime zeigen, dass Islam in Europa ohne große Aufregung möglich ist. Eine Reportage von Mieste Hotopp-Riecke

Das zweihundert Jahre alte Tatarengrab bei Kleinbeucha zog von März bis Mai Schüler, Akademiker und Heimatforscher Sachsens, Deutschlands, Litauens, Tatarstans und der Ukraine an, um sich mit Interkulturalität, den Muslimen der Napoleonkriege und den rezenten Islamdebatten zu beschäftigen.

(iz). In den Islamdebatten der Medien und der Politik wird seit Jahren mehr oder weniger heftig debattiert, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht. Bei einem Jugendprojekt und auf einem Symposium in Sachsen war zu hören und zu erleben, dass Muslime schon seit über 300 Jahren dazu gehören: In Militär, Diplomatie, Kunst und Wissenschaft hinterließen vor allem Tataren ihre Spuren in Sachsen und Preußen.

In einer Geschichts- und Medienwerkstatt namens „Pathfinder“, gefördert durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, und auf einem Symposium „Für wen kämpfte Jussuf?“ wurden Herkunftsgeschichte und Todesumstände des tatarischen Offiziers „Jussuf, Sohn des Mustafa“ zum Anlass genommen unterschiedliche Facetten im Kontext Islam, Integration, Geschichte und Pädagogik zu beleuchten. Fest steht, dass Jussuf vor 200 Jahren zwischen Leipzig und Borna bei Kleinbeucha – angeblich mit Pferd – bestattet wurde und das Grab seitdem von Muslimen – Angehörigen „aus dem fernen Rußland“ – und sächsischen Nachbarn gepflegt wird.

Nun haben sich jugendliche Migranten aus Marokko, Tatarstan, Irak, Polen, Tatarstan und Westsahara zusammen mit deutschen Jugendlichen mit tatarisch-deutscher Geschichte, aber auch mit der eigenen Migrationsgeschichte und Kultur (Speisen, Kleidung, Sprache) des jeweils Anderen beschäftigt. Ein massenhaftes Zusammentreffen von Vertretern islamischer Kulturen und christlichen Menschen Preußens, Schlesiens, Böhmens und Sachsens stellte die Zeit der Napoleonkrige dar. Die Napoleonischen Kriege gipfelten in der Völkerschlacht, die mittlerweile 200 Jahre zurück liegt. Das monumentale Völkerschlachtdenkmal in Leipzig erinnert daran. Doch es gibt auch andere weniger monumentale Zeugnisse, die an die damaligen Schlachten erinnern. Schlachten, in denen auf allen Seiten der Kombattanten muslimische Tataren fochten, aber auch Baschkiren, Kirgisen, Kumüken sowie die turksprachigen christlich-orthodoxen Tschuwaschen und buddhistische Kalmüken kämpften neben Preußen, Polen, Franzosen und Russen gegen die jeweils feindlichen Heere. In Kleinbeucha bei Leipzig zeugt die Inschrift „Yusuf, der Sohn des Mustafa“ auf dem sogenannten Tatarengrab von dieser wenig beachteten Facette der Geschichte.

Wer aber war nun dieser Sohn des Mustafa, Yusuf. Unter anderem dies herauszufinden, war Anlass eines interdisziplinären Projekts mit Wissenschaftlern, engagierten sächsischen Nachbarn, Schülern und SchülerInnen, die in und um Leipzig leben, aber ganz verschiedene Herkunftsländer und kulturelle Hintergründe haben. Das gemeinsame Symposium war der Höhepunkt der dreimonatigen Veranstaltung auf dem versucht wurde, die Frage nach der Identität des muslimischen Offiziers aus dem Osten zu klären.

Doch das vom Institut für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan Studien (ICATAT) und dem Heimatverein Bornaer Land e.V. initiierte Symposium hatte- unterstützt vom Leipziger ZEOK1 – nicht nur zum Ziel, die näheren Umstände seines Todes und der damaligen Geschehnisse zu klären.

Vielmehr war der 200. Todestag von Jussuf Anlass sich generell mit deutsch-muslimischen Interkulturkontakten in Vergangenheit und Gegenwart zu beschäftigen. Die historische Rolle der tausenden Tataren und Baschkiren, die auf den Seiten Frankreichs, Russlands, Preußens und Polens in den Napoleonkriegen kämpften, waren so nicht die alleinigen Themen der Vorträge, sondern auch Erinnerungskultur der Tataren, die Rolle der Krimtataren als letzter europäisch-islamischer Großmacht oder xenophobe Tatarenstereotypen in Schulbüchern wurden diskutiert.

Auch für die Bevölkerung von Kleinbeucha, die zum Entspannen oder zum Rendezvous seit Jahrzehnten „zum Jussuf gehen“, war es etwas besonderes, als nach 200 Jahren internationale Wissenschaftler, lokale Heimatforscher und Vertreter der polnisch- litauischen Tataren, der Wolga- Tataren und der Krimtataren an diesem kleinen aber besonderen Grab bei Leipzig stehen und gemeinsam ein Toten-Gebet sprechen. Dies war für mich einer der emotionalen Höhepunkte des Wochenendes, so der Außenbevollmächtigte Ali Khamsin vom Nationalrat der Krimtataren aus Bachtschisaray. Bekir Ganiyev, Delegierter der krimtatarischen Nationalversammlung Qurultay, hielt die Andacht am Grab auf arabisch und krimtatarisch, umringt von den engagierten Bürgern Kleinbeuchas und Mitgliedern des Festvereins Beucha. Dessen Mitglieder – Steinmetze, Gastwirte, Gartenbauer und Schreiner – sorgten zusammen mit dem Heimatverein des Bornaer Landes e.V. in den letzten Jahren für die umfassende Restaurierung des Grabes (IZ berichtete am 28.1.2012).

Gertraud Matthes, die in Marketender-Tracht gekleidete Frau vom „Königlich-Sächsischen Chevauleger-Regiment Prinz Clement“ aus Pegau legte nach dem zweisprachigen Gebet Blumen nieder am Grab, das so lange schon gepflegt und in Erinnerung gehalten wird. Irakische und tatarische Mädchen nutzen die Gelegenheit und suchen das Gespräch mit der Frau, die aus heutiger Sicht ungewöhnliche Kleidung trägt und nun schon den zweiten Tag von den Mädchen beobachtetet wird. Sie tuschelten zuvor und glaubten nicht an die Erklärung von Dr. Theiligaus Berlin, wonach dies nicht die Alltagskleidung der Frau sei, sondern die Regimentsfarben der damaligen Zeit widerspiegele. „Tragen sie das immer“, war dann auch die erste Frage. Nein, damit zeige ich, wie die Frauen damals aussahen. Mich interessiert, wie die Leute lebten, was sie kochten, arbeiteten und eben wie sie sich kleideten. Diese Uniform sei etwas besonderes, erklärte die Frau, die im normalen Leben als Masseurin arbeitet und gestressten Menschen Momente der Entspannung schenkt.

Diese Uniform zeichnete sie als Marketenderin aus und berechtigte die damaligen Trägerinnen sich im Kriegslager aufzuhalten. Denn die hundertausenden einfachen Soldaten mussten verpflegt werden. Sie hatten durch Händlerinnen wie ich sie heute anhand der Tracht darstelle, die Möglichkeit sich Nahrung zu kaufen. „Dann laufen sie nicht immer so rum“, fragt Nika, Kind griechisch-polnischer Eltern. Nein im normalen Leben trägt sie übliche Kleidung. Auch über die orientalische Kleidung der anderen Muslime in den damaligen Armeen wurde angeregt diskutiert, zum Beispiel über Rüstäm, den kaukasisch-ägyptischen Leibmameluken Napoleons oder die sorbischen Janitscharen am Sächsischen Hof.

Die Jugendlichen, die in Leipzig, Kitzscher und Borna zur Schule gehen, studieren oder arbeiten, beobachten, reflektieren und dokumentierten die Tagung und die Exkursion. Sie sind moderne Pfadfinder auf historischen Pfaden, so schmunzelnd Dr. Marat Gibatdinov vom Geschichtslehrerverband Tatarstans: „Und fällt ihnen etwas auf?, fragte er die umstehenden Jugendlichen. Ja, sagt Julia, 16 Jahre: „Das hatten wir im Geschichtsunterricht so gar nicht. Das war ja eine bunte Schar von Kämpfern mit unterschiedlichen Religionen, Herkunftsländern, Sitten und Bräuchen.“

Dies zu verdeutlichen sei ebenfalls ein Ziel der Veranstaltung, so Prof. Dr. Jakubauskas aus Vilnius, Historiker und Vorsitzender der islamisch-tatarischen Gemeinden Litauens. Der ruhige große Mann berichtet den Mädchen und Jungs von seinen Erfahrungen auf der Pilgerreise nach Mekka und von den Begräbnisritualen in seiner Heimat: Auch bei den Tataren Polens und Litauens werde Wasser verspritzt und an die Kinder Almosen vergeben, genau wie bei Jussuf hier in Sachsen vor 200 Jahren.

Interkulturelle Geschichte in einen regionalen Kontext zu setzen, wie es das ICATAT Berlin-Magdeburg in seine Bildungsprogrammen tue, dafür sei das Tatarengrab von Kleinbeucha wie geschaffen, so Dr. Marat Gibatdinov. Als Historiker an der Akademie der Wissenschaften Tatarstans kenne er das Grab schon seit Langem und thematisiere es in seiner Heimat. Andere, wie etwa die krimtatarischen Gäste, waren das erste Mal hier. Die Erhaltung des Grabes habe auf jeden Fall gezeigt, dass ein Miteinander der Kulturen, Akzeptanz, Toleranz auch schon vor zweihundert Jahren möglich und normal war. Gerade Tatarstan und die Republik Krim zeigten heute, dass ein europäischer Islam ohne große Aufgeregtheit möglich sei, so Ali Khamsin nach der Al-Fatiha am Grabe Yusufs, des Sohnes von Mustafa.