Ein Spiegel der Gesellschaft

Ausgabe 246

(iz). Mazen Dukhan sitzt an einem regnerischen Novemberabend in der ersten Reihe bei einer Diskussion mit Vertretern von WHO, UNDP und UNHCR in der alten ukrainischen Hauptstadt Kharkiv. Laut UNHCR befinden sich in der Ukraine insgesamt um die 8.000 asylsuchende Flüchtlinge aus dem Ausland. „So viele kommen an einem Tag zu uns nach Deutschland“, bemerkt Mazen Dukhan sarkastisch.

Er ist Teilnehmer der Medienwerkstatt „Minorities in Media / Media of Minorities“, die – finanziert vom Auswärtigen Amt Deutschlands – Flüchtlinge, Journalisten und Minderheitenvertreter zusammenführt. Jeweils eine Woche diskutierten, bloggten, fotografierten und filmten sie in der Ukraine und in Deutschland gemeinsam rund um die Themen Minderheiten und Medien.

Flüchtlinge aus Syrien, aus Afghanistan und von der russisch annektierten Krim sowie ukrainische Binnenflüchtlinge aus dem Donbass oder Vertreter autochthoner Minderheiten treffen selten aufeinander, begegnen jedoch oft den gleichen Problemen, haben ähnliche Sorgen und Lösungswege dafür, die anderen noch unbekannt sind. Deshalb führt diese Medienwerkstatt diese unterschiedlichen Menschen zusammen. Möglich macht dies die „Landesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung“ (lkj) aus Sachsen-Anhalt, die im Rahmen des Programms „Dehnungsfuge. Auf dem Lande alles dicht?“ solche Austausche organisiert.

„Dehnungsfuge“? Dieser Begriff ist bewusst aus dem Baujargon entlehnt, denn diese besondere Fuge gleicht das Quellen und Schwinden von Rissen an Brücken und Gebäuden aus. So wie reale Risse zwischen Bauteilen und Materialien sollen symbolische Risse in der Gesellschaft zwischen Alt und Jung, zwischen Flüchtlingen, Migranten und Alteingesessenen, zwischen Stadt und Land oder auch zwischen Kultur und Kommerz ausgeglichen werden. „Die Kunst der Dehnungsfuge besteht darin, in einem Gemeinwesen unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse auszutarieren und zu variieren. Wir wollen dem demographischen Wandel in ländlichen Regionen in vier Bundesländern und Phänomenen wie Islamophobie und Rechtsextremismus etwas entgegensetzten – online und offline; mit Kunst und Diskurs“, sagt Torsten Sowada von der lkj in Magdeburg. Und dies gelinge nur, wenn man sich kennenlernt, vernetzt, miteinander Neues probiert. Dank der Förderung des BMFSJF im Programm „Demokratie leben“ soll dies nachhaltig in fünf Jahren aufgebaut werden.

Muslime aus aller Welt
Deshalb wird bei internationalen Projekten versucht, auf die neue Situation in Deutschland einzugehen, jüngst Geflüchtete mit einzubinden. So besteht die Gruppe, die in die Ukraine reist, nicht nur aus deutschen Medienmachern und VertreterInnen der Sorben, Friesen und Dänen aus Deutschland, sondern auch Muslime aus Afghanistan, Mali und Syrien – Journalisten, Juristen und Informatiker – sind aktiv dabei. Gemeinsam mit krimtatarischen Aktivisten des einzigen Fernsehsenders der Krim-Muslime, ATR, der nun von Kiew aus senden muss, besuchen Mazen, Ali, Mohammad und ihre KollegInnen unterschiedliche Institutionen in der Ostukraine und in Schleswig-Holstein, produzieren gemeinsam Presseartikel, Reportagen und organisieren öffentliche Diskussionen.

Rosana Trautrims, Dehnungsfugen-Projektleiterin in Rendsburg, und Hamid Ariarman freuen sich über die auf fünf Jahre langfristig terminierte Projektarbeit. Trautrims aus Brasilien und Ariarman aus Afghanistan arbeiten zur Zeit an der dritten Ausgabe von ASADI (Freiheit). Diese Zeitschrift von Geflüchteten in Rendsburg für andere Flüchtlinge aber auch für Deutsche erscheint auf Persisch, Arabisch und Deutsch und die Eindrücke aus dem Minority-Media-Workshop sollen noch frisch hinein: „Wir wollen mit unseren Texten und Reportagen denen Orientierung geben, die neu zu uns ­gekommen sind, aber auch denen die Kultur der Flüchtlinge und ihre Fluchtgründe näher bringen, die schon lange hier wohnen“ so Trautrims im islamischen Kulturzentrum „Barakat“ in Kharkiv (www.islamkharkov.org/).

Hier im Gebiet Kharkiv leben 450.000 Binnenflüchtlinge und alle Gemeinden, ob muslimisch, christlich oder jüdisch, helfen, wo sie können, denn, so der norwegische UNHSCR-Büroleiter von Kharkiv, Aslak Solumsmoen: „Der ukrainische Staat allein kann angesichts der immensen Wirtschaftseinbrüche von fast 20 Prozent diese Aufgabe nicht allein stemmen“.

Der Imam Damurali Madadow der Gemeinde im „Barakat“ weiß, wie es ist, als Flüchtling neu anfangen zu müssen: Er selbst gehört zu den Ahiska-Türken. Diese wohnten in Georgien, wurden von Stalinn nach Zentralasien deportiert und versuchen seit dem Ende der Sowjetunion nach Georgien zurückzukehren. Trotz internationaler Verträge und Lippenbekenntnissen Georgiens wird den autochthonen Muslimen die Rücksiedlung in ihre kaukasische Heimat bis heute verwehrt. So strandeten Tausende Familien von ihnen in Russland und der Ukraine, auch die fünfköpfige Familie von Imam Madadow. Nun kümmert er sich ehrenamtlich um Arbeitsmigranten, um Studenten und Flüchtlinge, die sich in „Barakat“ zusammenfinden.

Jede Gruppe für sich hat Probleme genug: Jordanische Studenten wurden von jungen Ukrainern so zusammengeschlagen, dass zwei von ihnen per Flugzeug zur Behandlung in die Heimat ausgeflogen werden mussten. Dies seien Einzelfälle, so Imam Madadow. Die Zeiten von Skinheadübergriffen und rassistischen Pöbeleien seien Gott sei Dank vorüber. Um die Probleme der Tausenden Binnenflüchtlinge sowie den Ausbau und Betrieb des islamischen Zentrums kümmert sich die Gemeinde gemeinsam. Durch Spenden von Mitgliedern wird die Sonntagsschule finanziert. Ramez Sarwary, afghanischer Projektteilnehmer aus Rendsburg, stellt fest: „Während sich in Deutschland oft rein türkische, bosnische oder arabische ­Moscheegemeinden gebildet haben, sind die Gemeinden hier in der Ukraine sehr gemischt. Das macht den Zugang für Flüchtlinge leichter.“ Ob Tatare, Tadschike, Usbeke oder Aserbaidschaner – jeder findet so sofort Anschluss in den Gemeinden.

Blaue Pässe und Fingerabdrücke
Um überhaupt solche Begegnungen durchführen zu können, war viel Ausdauer und Energie nötig. Viele Anträge und Briefe mussten geschrieben werden, um Menschen mit Flüchtlingsstatus Pässe und Reiseunterlagen zu besorgen und die TeilnehmerInnen diverser Muttersprachen miteinander zu vernetzen. Während die deutschen TeilnehmerInnen kein Visum für die Ukraine brauchen, musste für die Medienmacher aus Afghanistan und Syrien jedes Visum bezahlt werden und bei der Einreise in die Ukraine noch ausdauernd Überzeugungsarbeit geleistet werden. Den ukrainischen Grenzbeamten waren deutsche blaue Flüchtlingspässe und Plastikkarten mit Aufenthaltstiteln völlig unbekannt. „Sie werden sich wohl daran gewöhnen müssen“, mutmaßt der Kurde Ali Kinny aus Rendsburg, ebenfalls Mitglied der Gruppe, denn solche Austauschprogramme solle es weiter geben, der Bedarf an Information und gegenseitigem Lernen bleibt angesichts der Flüchtlingszahlen und fortgesetzter Kriege wohl leider weiter hoch.

Alim Aliev, krimtatarischer Teilnehmer aus Lemberg, ergänzt: „Nicht nur unsere syrischen und afghanischen Freunde hatten Probleme, hierher zu kommen. Auch für uns aus der Ukraine und der Krim ist eine Einreise in die EU seit dem Juni dieses Jahres schwerer. Konnte man bisher für solche Projekte Gruppenvisa beantragen, muss nun jeder Teilnehmer per Fingerabdruck in Kiew oder Odessa einen eigenen EU-Einreise-Antrag stellen, teils tagelange Reisen im Vorfeld dieses Austausches waren so nötig geworden. Europa hat seine Mauern – für viele in Deutschland unmerklich – elektronisch höher gezogen.

Doppelt ausgegrenzt: Die Tataren der Krim
Seit der Annexion der Krim durch die Russländische Föderation haben etwa 40.000 Bewohner von der Halbinsel flüchten müssen und versuchen, in der Festland-Ukraine ein neues Leben aufzubauen. Genau so ergeht es in der Ukraine mehr als 1,5 Millionen Binnenflüchtlingen, die vor dem Krieg im Osten der Ukraine im Norden und Westen Zuflucht suchen.

Möchten krimtatarische Akademiker wie Rüstem Kirimli*, Dozent für orientalische Philologie und Journalismus von der Krim, an solchen Projekten wie jetzt in Rendsburg, Hamburg und Kharkiv teilnehmen, müssen sie doppelte Hindernisse überwinden: Einerseits sich um Visa für die EU bemühen, andererseits über die nicht ungefährliche „Grenze“ zwischen der nunmehr russischen Krim und der Festland-Ukraine reisen. Emotional und kontrovers verliefen teils die Diskussionen um die Krim und ihre Zukunft.

Während die Gäste, die direkt von der Krim kamen, vorsichtig, eher gemäßigt und eingeschüchtert wirkten (auf das Benutzen der Worte „Okkupation“ und „Annexion“ stehen in Russland heute hohe Strafen), konnten sich die krimtatarischen Teilnehmer, die bereits flüchten mussten beziehungsweise ausgebürgert wurden, deutlicher äußern, wie man eine sichere Zukunft für die Tataren der Krim erreichen könnte. Ökonomische und rechtliche Hindernisse sowie ein Klima der Angst, der Repression und Einschüchterung bestimmen derzeit das Klima auf der Krim aus krimtatarischer Perspektive.

Umso wichtiger ist die Arbeit von krimtatarischen Journalisten des einzig verblieben Senders ATR. Dieser musste nach Lizenzentzug durch Russland von der Krim nach Kiew umziehen und versucht nun von dort, die Menschen auf der Krim mit Nachrichten, Kultur und Religion zu versorgen. Reportagen vom Projektaufenthalt in Rendsburg und Hamburg stießen hier auf großes Interesse, denn noch nie erschien ein Fernsehteam der Muslime von der Krim zum Beispiel bei einer Gemeinde westafrikanischer Muslime in Hamburg.

Zuerst sind wir Menschen
Beeindruckt waren die dortigen Vorstandsmitglieder um den Imam der Hamburger Ar-Rahma-Moschee, Adam Abdalla, vom großen Interesse an Hintergründen zur afrikanisch-muslimischen Gemeinde aber auch von den entbehrungsreichen Lebensläufen der TeilnehmerInnen aus der Krim, aus Mali, Syrien und Afghanistan.

Tief bewegt hatte alle die Schilderung von Mazen Dukhan, wie er erschrocken feststellen musste, dass man verroht, abstumpft bei soviel Erfahrung von Tod und Krieg: „Ich freute mich, dass ich den Text auf einem Aushang lesen konnte und brachte den Zettel mit zu meiner Deutschlehrerin, einer alten Dame in Rendsburg, die dies ehrenamtlich tut. Auf dem Aushang war eine getötete Katze zu sehen, was die alte Frau sehr entsetzte und schmerzte, während ich nur lachen konnte und mich über die Fortschritte meiner Deutschkenntnisse freute. So weit war es gekommen, ich sah zu viele tote Kinder, um mit einer toten Katze Mitleid zu empfinden“.

Imam Abdalla sagte im Gespräch mit der gemischten Projektgruppe, es sei immens wichtig, solche Begegnungen zu ermöglichen und angesichts der Massenflucht in der Ukraine und in Deutschland helfe man, wo man könne, denn „zuerst sind wir Menschen, Muslime, die Gutes tun wollen“. Jedoch stelle dies sowohl die zahlenmäßig kleinen Gemeinden in der Ostukraine wie auch die noch junge Gemeinde aus Westafrika in Hamburg vor große Herausforderungen. „Denn während wir mit dem Erhalt unserer eigenen Gemeinden befasst sind und viel Hilfe organisieren, passiert auch immer wieder Unvorhergesehenes in der alten Heimat“. Im Projektzeitraum geschahen sowohl die Anschläge in Paris und Bamako als auch die Krimblockade und völliger Stromausfall für die 1,9 Millionen Bewohner auf der Krim durch gesprengte Hochspannungsleitungen.

Welch hohen Stellenwert die Medienarbeit von Muslimen für Muslime, von Minderheiten für Minderheiten selbst, aber auch für die Mehrheitsgesellschaft einnimmt, wurde auf mehreren Podien an der Karazin-Universität Kharkiv und am Nordkolleg Rendsburg mehrfach betont: „Ob die Zeitschrift ASADI der Flüchtlinge in Rendsburg, die sorbischen, türkischen und friesischen Medien in Deutschland, der krimtatarische Fernsehsender ATR oder die Zeitschrift Minarett aus Kiew, der Zustand der Medien von Minderheiten spiegelt immer auch den Zustand unserer Gesellschaften wider, ist ein Messwert für Demokratie, Menschenrechte und Vielfalt in unseren Ländern“, so Barbara Oertel von der Tageszeitung „taz“ aus Berlin. Sie hatte ebenfalls die weite Reise nach Kharkiv angetreten. Und auch sie möchte wiederkommen wie Mazen Dukhan aus Rendsburg. Dann vielleicht nicht als Teilnehmer eines Projektes, sondern als die Organisatoren eines gemeinsamen Medienprojektes von Ost bis West für Nord und Süd.