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Hannah Arendt – für ein Denken ohne Geländer

Foto: zabanski, Shutterstock

Sie wollte denken ohne Geländer. Hannah Arendt war eine faszinierende politische Denkerin. Die Bonner Bundeskunsthalle widmet ihr jetzt eine Ausstellung.

Bonn (KNA). Ohne ihre Arbeit sei das 20. Jahrhundert gar nicht zu verstehen, schrieb der Schriftsteller Amos Elon. Die deutsch-jüdische Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) hat zwei Begriffe definiert, die das vergangene Jahrhundert prägten: „totale Herrschaft“ und die „Banalität des Bösen“.

Nach dem Deutschen Historischen Museum in Berlin widmet sich nun die Bundeskunsthalle in Bonn der politischen Denkerin. Es ist eine Ausstellung in Ausnahmezeiten: Aufgebaut im viermonatigen Lockdown, zu besichtigen nur mit Abstandhalten und Maske. Doch wer die Themen überblickt, mit denen sich die bei Hannover geborene und im säkularen jüdischen Milieu von Königsberg aufgewachsene Arendt auseinandersetzen musste, hat wenig zu klagen.

Arendt äußerte sich über Totalitarismus, Antisemitismus, die Lage von Flüchtlingen, den Eichmann-Prozess, Zionismus, die Rassentrennung in den USA, Studentenproteste und Feminismus. Nichts davon ist heute abgeschlossen. Ein in der Ausstellung gezeigtes provisorisches Ausweispapier der US-Behörden von 1949 dokumentiert die Odyssee der vor den Nazis nach Frankreich und später in die USA geflohenen Jüdin, die das Schicksal eines staatenlosen Flüchtlings am eigenen Leibe erfuhr.

Wer eine Ausstellung über eine Intellektuelle konzipiert, muss kreativ sein, um das Interesse des Publikums zu wecken, wie auch Kuratorin Katharina Chrubasik mit Blick auf die rund 300 Ausstellungsstücke betont. Die Zahl der dreidimensionalen Objekte ist begrenzt: Arendts Zigarettenetui etwa und ein elegantes Pelzjäckchen, das Adressbüchlein ihres Freundes Hans Jonas, die Minox-Kamera, mit der sie Freunde porträtierte. Weil Arendt den Schriftsteller Rolf Hochhuth im Streit um die Rolle von Papst Pius XII. im Holocaust unterstützte, fand auch die Papst-Soutane aus Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ den Weg nach Bonn.

Ansonsten begegnen dem Besucher zahlreiche Fotos, schriftliche Dokumente und Ausgaben ihrer Bücher. Auf Bildschirmen lässt sich das berühmte Fernseh-Interview Arendts von 1964 mit Günter Gaus nachverfolgen – sie war die erste Frau, die er interviewte. Und in Nischen laden historische Tondokumente ein, sich mit dem Denken Arendts, etwa zur „Rassentrennung“ in den USA, zum Eichmann-Prozess und den internationalen Studentenprotesten auseinanderzusetzen.

Ein prägnantes Ausstellungselement sind drei riesige, mitten im Raum hängende Bildschirme: Sie zeigen fast meditative Kamerafahrten um ein riesiges Modell des Krematoriums II Auschwitz-Birkenau. Hunderte gipsweiße Figuren repräsentieren die Hunderttausende Menschen, die in der Hölle des Vernichtungslagers ermordet wurden.

Arendts Leben und Werk waren alles andere als gradlinig: Das beginnt schon mit ihrem Verhältnis zum Freiburger Philosophen Martin Heidegger: Ihr Liebhaber aus Studientagen, der ihren Aufbruch ins Denken ermöglichte, mutierte zum Nazi und Antisemiten. Den tiefsten Schock, sagte sie im Rückblick, verursachten ihr im Nationalsozialismus „nicht die Feinde, sondern die Freunde“. Dennoch blieb sie mit Heidegger nach 1945 in Verbindung.

Vereinnahmen ließ sich die Denkerin nicht: Mit ihrer 1951 in den USA erschienen Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ zog sie sich den Unmut der Linken zu, da sie Kernmerkmale des Nationalsozialismus mit denen des Stalinismus zwar nicht gleichsetzte, aber doch verglich. Der Studentenbewegung in Deutschland attestierte sie mangelnden Realitätssinn angesichts des Kommunismus. Auch zur Frauenbewegung hielt diese unabhängige Frau Distanz.

Arendt, die sich für einen bewaffneten Kampf der Juden gegen Hitler ausgesprochen hatte, wandte sich nach 1945 auch vom Zionismus ab. Israel, so ihr Urteil, drangsaliere die arabische Bevölkerung. Auf massiven Protest stieß auch Arendts Bericht mit dem Untertitel „Die Banalität des Bösen“ über den Prozess gegen Eichmann in Jerusalem 1963: Eine verfolgte Jüdin schien Taten und Täter zu bagatellisieren, so der Vorwurf.

Hannah Arendt hielt das nicht davon ab, sich öffentlich einzumischen. Sie berief sich auf kein Programm, keine Partei und keine Tradition. Es ging ihr um politische und historische Urteilskraft – um ein „Denken ohne Geländer“.