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Hintergrund: Traditionelles Heilen lässt sich nicht im Rahmen der konventionellen „Schulmedizin“ verstehen. Von Dr. Rehan Zaidi

Ausgabe 203

Unser Vertrauen in die moderne Medizin ist erstaunlich. Noch bemerkenswerter ist es, wie schnell sich dieses Vertrauen durch eine Krankheit wandeln kann. Jedes Jahr werden in Ländern wie den USA Milliar­densummen für „Alternativmedizin“ ausgegeben. Die bloße Menge der Personen, die vom jetzigen Zustand der Gesundheitsversorgung enttäuscht werden, treibt viele medizinische Einrichtungen dazu, ihre konservative Einstellungen zu ändern.
Weltbekannte US-Krankenhäuser wie John Hopkins, die Mayo Clinic und an­dere Top-Kliniken haben längst mit der Einbeziehung ergänzende Therapieformen begonnen, selbst wenn sie nur mit chinesischen Nadeln behandeln. Akupunktur ist, wie die meisten östlichen Be­handlungsmethoden, in ihrem ­Nutzen beschränkt, wenn sie ausschließlich im Sinne der modernen Medizin zur An­wen­dung kommt. Dies gilt für den Vergleich mit ihrer 4.000-jährigen, traditio­nellen Anwendung.
Immerhin, die westliche Medizin er­kennt an, dass der Osten die eine oder an­dere Sache beizutragen hat. Andere machen genau das Gegenteil: Während der Westen seinen neugefundenen Res­pekt für antike Therapien stolz zur Schau stellt, kehrt der Osten seine eigenen me­dizinischen Traditionen schüchtern unter den Teppich.
Machen wir ein Experiment und legen Gesundheit auf eine Seite der Waage und Krankheit auf die andere. Der Fokus der traditionellen Behandlungspraktiken liegt auf Seiten der Gesundheit. Im Gegensatz dazu konzentriert sich westliche Me­dizin auf die Krankheit.
Beeinflusst von der Philosophie des französischen Mathematikers Rene Descartes und seiner Nachfolger, fixierte sich die westlichen Wissenschaft auf das Zählbare. Informationen, die mit Gefühlen, Erfahrung und Qualität zu tun haben, werden zurückgewiesen. In der ­Medizin bewirkt die cartesianische Weltsicht, dass der Körper nicht mehr als eine ­Maschine behandelt wird. Ein Instrument, das – mit nur geringer Beziehung zum Ganzen – auf seine einzelnen Bestandteile reduziert werden kann.
Ebenso wird Krankheit behandelt. Sie wird auf eine mess- und greifbare Einheit im Körper reduziert. Was heißt das? Wenn man sich krank fühlt, aber keine physische Krankheit nachweisbar ist, dann gibt es „wirklich“ keine Krankheit. Die Maschine scheint in Ordnung zu sein. Im schlimmsten Fall bekommt man den taktlosen Satz „es ist alles in ­deinem Kopf!“ zu hören.
All dies leitet sich aus der grundlegenden Annahme ab, wonach die Abwesenheit von Krankheit Gesundheit be­deutet. Aber Gesundheit bedeutet mehr für die meisten Leute. Nur, weil ein Person nicht krank ist, bedeutet es nicht, dass sie gesund ist. Die Behandlungsfor­men des Ostens verfügen – im ­Gegenteil – seit Langem über eine ganzheitliche Sicht auf den Körper, den Verstands und das Universums. Aspekte wie Gefühle und Dispositionen sind in diesem Modell eng mit dem Körper verbunden. Daher werden sie bei einer Behandlung mit in Betracht gezogen.
Daher gilt Gesundheit als ein Gleichgewicht von Geist, Körper und Seele. Es stellt profunde und subtile Indikatoren für eine Krankheit dar, bevor sie sich körperlich manifestiert. Aber beide Weltbilder ergänzen sich: Die westliche Medizin konzentriert sich auf Krankheit, die östliche auf das Wohlbefinden. Beide sind wichtige Bestandteile eines umfassenden Heilsystems.
Nachdem viele die Erfahrung machen, was herkömmliche Systeme für die meis­ten chronischen Langzeitprobleme anbieten, wenden sich Patienten unausweich­lich den altbewährten östlichen Traditio­nen zu. Zu diesen Traditionen zählt dies des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben.
Der Gesandte Allahs, der die göttliche Botschaft überbrachte, leistete auf verschiedenen Feldern auch einen Beitrag mit seiner Weisheit. Die Medizin ist eines davon. Diese Tradition wurde als „Tibb An-Nabawwi“ oder „Medizin des Propheten“ bekannt. Jedes seiner Worte und jede seiner Handlungen wurde umsichtig über die Jahrhunderte hinweg be­wahrt. Sie ist ein göttlich inspiriertes Wissen – zum Nutzen der Menschheit. Dies ist einer der Gründe, warum Muslime ihn als Barmherzigkeit für die Welten bezeichnen. Die Tatsache, dass sein medizinischer Ansatz im engen Zusammenhang mit anderen Traditionen des Ostens steht, beweist für Muslime darüber hinaus den Wert dieser prophetischen Weisheit. Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Konzepten ist die Ganzheitlichkeit. Eine Sicht, die bereits vor mehr als tausend Jahren den Wert der Beziehung zwischen Geist, Körper und Seele unterstrich. Ein The­ma, dass von der modernen Wissenschaft erst in den letzten 20 Jahren entdeckt wurde – und mit der größtmöglichen Skepsis.
Es gibt viele, weitere vergleichbare Konzepte zwischen der prophetischen Weisheit und anderen Heilmethoden wie der chinesischen Medizin. Beide ­Systeme betonen Prozeduren wie Schröpfen, Kräutertherapie und Ernährungsumstel­lung. Hier liegt der Schwerpunkt auf Vor­sorge, Ausgeglichenheit und die Rolle, die die Seele bei der Gesundheit steht.
Unglücklicherweise werden solche Therapien nur im geringen Maße von konventionell gebildete Mediziner verstanden. Viele Ärzte haben versucht, sich mit der medizinischen Praxis zu beschäftigen; den meisten ist es nicht ­gelungen. So wurde das Schröpfen bei gleichzeitigem Aderlass wiederholt durch die ­Brille der modernen Medizin analysiert und „erklärt“ – mit guter Absicht. Auch wenn die diversen Erklärungsversuche ein Licht auf bestimmte Randaspekte werfen können, gehen sie an den wichtigsten thera­peutischen Aspekten der Prozedur ­vorbei. Hier wir eine sehr spezifische und von prophetischer Weisheit inspirierte Handlung auf einen bloßen Aderlass reduziert. Das ist die Folge des Verharrens in einem Deutungsmuster, bei dem das einzige was zählt, Protein und die Menge der Zellen sind.
Wir werden wenig erreichen, wenn wir die Methoden anderer medizinischen Traditionen innerhalb unseres eigenen Verständnisrahmens beurteilen. ­Solange die vorherrschende Medizinwissenschaft diese Therapien reduktionistisch seziert – unter der Vorstellung, dass nichts existiert, was nicht unter dem Mikroskop gesehen werden kann -, werden wir östli­chen Modelle sarkastisch als „unwissenschaftlich“ und „Quacksalberei“ zurückweisen. Unser Verständnis von der prophetischen Medizin bleibt so begrenzt. Es ist, als stünde man so nah vor den Bäumen, dass man den Wald nicht mehr sehen kann.
Um sich von dieser begrenzten Sichtweise zu befreien, ist es das Mindeste, das wir tun können, die grundlegende Philosophie zu verstehen – mit Bescheidenheit. Sicherlich, die Anerkennung der tausenden Jahre der Erfahrungswerte, die traditionelle Kulturen vor uns angesammelt haben, würde uns ebenfalls nicht schaden.
Wenn wir die westliche Medizin nicht durch den immensen Reichtum ergänzen, den traditionelle Heilmethoden an­zubieten haben, überlassen wir die Welt der Gnade eines einseitigen Medizinsys­tems. Die Folgen dessen sind noch größer für die Muslime. Wir verfügen in unserem Erbe über eine medizinische Tradi­tion voll tiefer Weisheit und Reichhaltig­keit, wie sie von unserem geliebten Propheten, möge Allah in segnen und ihm Frieden geben, praktiziert wurde.
Indem wir strikt auf dem Feld der westlichen Medizin verbleiben, verlieren wir nicht nur unser Erbe an Heilmetho­den, sondern auch eine wertvolle Beziehung zu unserem Propheten.