"IZ-Begegnung" mit dem Juristen, Autoren und Bürgerrechtsexperten Dr. Rolf Gössner über Hintergründe zum Thema NSU und Sicherheitsdienste

Ausgabe 214

(iz). Die immer noch nicht befriedigend aufgeklärten Untaten der Nazi-Ter­rorgruppe NSU sowie ihre vielen, offenkundigen Überschneidungen zu den Sicherheitsbehörden haben für Deutschland ein vergleichbares Skandalmaß angenommen, wie es bei den USA die Kriege gegen Vietnam oder den Irak waren. Das dominante mediale Narrativ geht von der Erklärung aus, wonach eine Bande ausländerfeindlicher Nazikiller unglückliche Inkompetenzen auf Behördenseite ausnutzen konnte. Jenseits dubioser Verschwörungstheorien bleibt genug Anlass für substanzielle Gedanken in Sachen Inlandsgeheimdienst. So stellt sich neben dem NSU-Skandal gerade für Muslime die Frage, welche Rolle die Verfassungsschutzämter in der deutschen Islamdebatte spielen.

Zum Thema NSU, Verfassungsschutz und V-Leuten bei radikalen Gruppierungen sprachen wir mit dem langjährigen Fachmann Dr. Rolf Gössner. Er ist Rechtsanwalt, Publizist und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin). Er ist Mitherausgeber des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Reports“, als solcher ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille 2008; 2012 mit dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und Publizistik und 2013 mit dem Bremer Kultur- und Friedenspreis. Dr. Rolf Gössner schrieb zahlreiche Bücher zu den Themen Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte, zuletzt beispielsweise „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Neonazis im Dienst des Staates“.

Islamische Zeitung: Herr Gössner, Sie engagieren sich seit langen Jahren für Bürgerrechte und sind bekannt als Kritiker des Verfassungsschutzes. 2012 erschien ihr Buch „Geheime Informanten“ in aktualisierter Form (als E-Book). Sie selber wurden 38 Jahre lang grundrechtswidrig vom Verfassungsschutz beobachtet. Für viele Menschen war es bis zum NSU-Skandal nicht denkbar, dass der Verfassungsschutz in kriminelle Machenschaften verstrickt sein könnte. Wurden Sie von diesem Skandal überrascht?

Dr. Rolf Gössner: Diese Neonazi-Mordserie mit zehn Toten ist unfassbar und schockierend – nicht minder unglaublich und schockierend ihre skanda­löse Nichtaufklärung und die Ausblendung des rassistischen Hintergrunds durch die Sicherheitsbehörden. Tatsäch­lich hatte ich schon lange, bevor die Mordserie bekannt wurde, die heillosen Verflechtungen des „Verfassungsschutzes“ (VS) in gewaltbereite ­Neonaziszenen enthüllt und das V-Leute-Unwesen als unkontrollierbar und demokratiewidrig kritisiert. In meinem Buch „Geheime Informanten. V-Leute des Verfassungsschutzes: Kriminelle im Dienst des Staates“ ist dokumentiert, was nun so großes Erstaunen und Entsetzen verursachte. Meine These war schon damals: Der VS hat Neonazi-Szenen und -Parteien über seine bezahlten und teils kriminellen Spitzel mitfinanziert und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Über sein unkontrollierbares V-Leute-Netz ist der VS selbst Teil des Neonazi-Problems geworden, jeden­falls konnte er, wie wir sehen, kaum etwas zu dessen Bekämpfung beitragen.

Für mich war es schon aus eigener Betroffenheit wirklich erschreckend, wie sich Neonazis und rechter Terror unter den Augen des VS und seiner Zuträger fast unbehelligt entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen konnten – während derselbe VS – neben vielen anderen linken Gruppen und Antifaschisten – mein Engagement als Anwalt, Journalist und Bürgerrechtler mit ideologischer Verbissenheit über vier Jahrzehnte lang beobachtete und dabei ­meine Bürgerrechtsarbeit in einer über 2.000-seitigen geheimen Personenakte registrierte und als „verfassungsfeindlich“ einstufte. Von Anfang an ­grundrechtswidrig, wie das Verwaltungsgericht Köln 2011 urteilte.

Islamische Zeitung: Der NSU-Untersuchungsausschuss unter Vorsitz des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy erweckt den Eindruck, dass die Ungereimtheiten in diesem Fall aufgedeckt werden könnten. Wie schätzen Sie die Arbeit des Untersuchungs­ausschusses ein?

Dr. Rolf Gössner: Die Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschus­ses des Bundestages ist äußerst wichtig und hat bereits ein wenig Licht ins Dunkel gebracht. Auch andere parlamentarische Ausschüsse mühen sich um Aufklärung; so hat der Thüringer gerade einen aufschlussreichen Zwischenbericht vorgelegt. Allerdings war für Kenner des Milieus schon frühzeitig absehbar, dass sich die Mitglieder dieser Ausschüsse an dem Verdunkelungssystem der Geheim­dienste die Zähne ausbeißen werden. Genau so ist es gekommen. Doch eine zahnlose Kontrolle ist keineswegs neu, ­gerade wenn es um Geheimdienste geht, die mangels Transparenz und Kontrollierbarkeit Fremdkörper darstellen in einer Demokratie. Deren Geheimhaltungssystem umschlingt eben auch Parlamente und Justiz, die den VS und sein Wirken kontrollieren sollen und deshalb regelmäßig daran scheitern. Meine Vorhersage: Die ganze Wahrheit werden wir nicht erfahren, allenfalls Bruchstücke.

Tatsächlich sind die Sicherheitsbehör­den, in erster Linie der VS, mit geradezu krimineller Energie damit beschäftigt, die Spuren ihres Versagens und ihrer Versäumnisse, ihrer Ignoranz, ideologischen Verblendung und Verflechtung in das NSU-Umfeld zu verdunkeln und zu vernichten. Und die Serie der dreisten Vertuschungen reißt nicht ab. Man muss sich das vorstellen: Vorsätzliche Akten- und Urkundenvernichtung, also behörd­liche Beweismittelunterdrückung in einem Fall von zehnfachem Mord an neun Migranten und einer Polizistin, ­mehreren Sprengstoffanschlägen und bewaffneten Banküberfällen. Offenbar haben diese „Sicherheitsbehörden“ Gewichtiges zu verbergen.

Die Vertuschungsmanöver und Schred­deraktionen sind keineswegs vereinzelte Skandale oder Ausrutscher, sondern systembedingt, um das Geheimhaltungssystem rund das V-Leute-Geflecht aufrechterhalten zu können. Der alles domi­nierende „Quellenschutz“ verhindert rückhaltlose Aufklärung und rechtsstaatliche Verfahren und rangiert offenbar selbst vor Mordaufklärung. Mit einem demokratischen Rechtsstaat ist dies wohl kaum zu vereinbaren.

Islamische Zeitung: Wenn über die V-Mann-Praxis gesprochen wird, ist immer nur die Rede vom rechten Millieu. Die Rolle der V-Leute etwa im salafistischen Millieu kommt gar nicht zu Sprache. Halten Sie es für möglich oder für wahrscheinlich, dass es im salafistischem Millieu V-Männer gibt, die tragende Rollen einnehmen in diesen Szenen, ähnlich wie es im rechten Spektrum der Fall ist?

Dr. Rolf Gössner: Da „Extremistischer Islamismus“ und „Salafismus“ Beo­bachtungsschwerpunkte der VS-Arbeit sind, ist davon auszugehen, dass auch in diesen Bereichen mit menschlichen Quellen, also V-Leuten, gearbeitet wird, solche rekrutiert und geführt werden. Dass dies in derart großem Stil passiert, wie im Bereich des „Rechtsextremismus“, ist nicht anzunehmen – zumal es weit größere Zugangsprobleme gibt – etwa hinsichtlich Mentalität oder Verständigung -, als beim „Rechtsextremismus“. Ob V-Leute in führenden Funktionen salafistischer Gruppen tätig sind, kann ich nicht sagen.

Islamische Zeitung: Gibt es beim Verfassungsschutz unterschiedliche Fraktionen? Etwa Teile, die wirklich Verfassungsschutz betreiben, und ­Teile, die Interessen dritter Parteien verfolgen?

Dr. Rolf Gössner: Eine solche Aufspaltung in unterschiedliche Fraktionen innerhalb der VS-Behörden ist mir nicht bekannt. Da kaum kontrollierbare Geheimorgane zu Verselbstständigung und Machtmissbrauch neigen, ist jedoch man­ches denkbar und der Thüringer VS unter seinem ehemaligen Präsidenten Helmut Roewer ist hierfür ein schillerndes Beispiel.

Islamische Zeitung: Der Bremer Verfassungsschutz trat auf einer Veranstaltung des Landesinstituts für Schule in Bremen auf und referierte vor pädagogischen Fachkräften über den ­Islam. Etabliert sich gerade der Verfassungsschutz als eine weitere Einrich­tung der politischen Bildung?

Dr. Rolf Gössner: Der VS macht seit geraumer Zeit einen gehörigen Wandel durch und zwar eine Öffnung weit ­hinein in die Gesellschaft. So dringt er speziell in die politische Bildung vor. Er betreibt – nach seinem grandiosen Image- und Vertrauensverlust – eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, nicht zuletzt aus Akzeptanz- und Legitimationsgründen: so etwa mit Hilfe von kostenfreien Wander-Ausstellungen, Broschüren, Veranstaltungen und Vorträgen zu „Extremismus“-Themen aller Art. Er mischt sich meinungsbildend in den öffentlichen Diskurs und die politische Willensbildung ein und munitioniert dabei auch massiv die Medien; mehr und mehr wirkt er hinein in zivilgesellschaftliche Projekte sowie in Schulen und Hochschulen, Bildung, Wissenschaft und Forschung.

Auch die von Ihnen genannten Aktivi­täten des Bremer VS, der sich ebenfalls um mehr Offenheit bemüht, führen meines Erachtens zu einer inakzeptablen Kompetenzüberschreitung und zu einer ideologischen Beeinflussung zivilgesellschaftlicher Institutionen. Denn der VS ist und bleibt ja ein Geheimdienst mit geheimen Strukturen und Methoden. Wenn nun die gleiche Behörde meinungsbildend in die pädagogische Weiterbildung etwa zum Thema Islam einbe­zogen wird, schadet man nach meiner Auffassung dem interkulturellen ­Dialog massiv und verspielt Vertrauen.

In der Geheimdienst-Perspektive des VS werden Islam und Muslime nach wie vor als Problemfall der „Inneren Sicherheit“ behandelt. Politische Bildungsarbeit, die ihren Namen verdient und ihrem Auftrag zur Menschenrechtsbildung gerecht wird, muss demgegenüber gerade frei, kritisch und weitgehend staatsunabhängig sein – ein Inlandsgeheimdienst hat hier meines Erachtens nichts zu suchen; aus gutem Grund gibt es für Bildungsmaßnahmen dieser Art auch ­keine Gesetzesgrundlage.

Islamische Zeitung: Die IZ schreibt seit Jahren von einem privaten Verfassungsschutz. Sehen Sie auch in Deutschland eine Art Privatisierung des Verfassungsschutzes durch zum Beispiel Journalisten, Sozialwissenschaftler und Unternehmen? In den USA ist schon seit Jahren zu beobach­ten, dass immer mehr Teile des Sicher­heitsapparates privatisiert werden? Kann man also vom „offiziellen“ und einem „privaten“ Verfassungsschutz sprechen, in dem etwa Sozialwissenschaftler und Journalisten zur „Feindbekämpfung“ rekrutiert werden?

Dr. Rolf Gössner: Eine Privatisierung der „Feindbekämpfung“ ist durchaus denkbar, besonders ihres ideologischen An­teils. So wirkten und wirken immer wieder sog. Vorfeld-Organisationen und private Pressure-Groups des VS in der Gesellschaft. Auch Medienvertreter lassen sich mitunter in VS-Dienste einspan­nen, in eine Art Geschäft auf Gegenseitigkeit (Informationen gegen Informationen). Es gibt Journalisten, die waren oder sind als Informanten von Geheimdiensten oder als Informelle ­Mitarbeiter verpflichtet. Und es gibt welche, die sich – teils gutgläubig – in Desinformationskampagnen oder gar Operationen von Geheimdiensten einbinden lassen oder sich entsprechend instrumentalisieren ließen. Darüber hinaus arbeiten auch Wissen­schaftler für den VS oder stehen in seinen Diensten. So rekrutiert der VS an Universitäten und Instituten Sozial-, Politik- und Islam-Wissenschaftler und finanziert Forschungsprojekte. An ­Schulen bietet der VS Lehrmaterial, Referenten und Bildungsarbeit an und betreibt Fort- und Weiterbildung in „Demokratieerziehung“ für Lehrer, Sozialarbeiter und andere Multiplikatoren.

Das nennt sich „Verfassungsschutz durch Aufklärung“ – ausgerechnet durch eine letztlich demokratiewidrige Geheiminstitution, die selbst demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widerspricht und die durch ihre Skandalgeschichte, zwielichtigen Praktiken und Bürgerrechtsverletzungen längst jegliche Legitimation eingebüßt haben müsste. (Interview: Eren Güvercin)

Islamische Zeitung: Lieber Herr Dr. Gössner, wir bedanken uns für das ­Gespräch.