Als die Sarrazins noch Muslime waren

„Muslime waren und sind Teil dieses Kontinents und ihr Kultur- und Wissenschaftsbeitrag ist maßgebend für die europäische Entwicklung. Daher ist es eine gemeinsame Aufgabe, das revisionistische mittelalterliche Entwicklungs- und Geschichtsbild, das uns in Schulbüchern bis heute verfolgt, zu korrigieren.“

(iz). Der Philosoph Nietzsche sah in der Philologie und der Geschichtswissenschaften Gegenmittel gegen Lüge und Mythos. Einer dieser hartnäckigen Mythen ist die irrige Vorstellung eines kulturell-religiös harmonischen Europas, dass in gerader Linie auf ein „jüdisch-christliches“ Erbe zurückschauen könne.

Längst machen aktuelle – und ältere – Forschungen klar, dass das Gewebe der europäischen Geschichte von islamischen beziehungsweise muslimischen Perioden und Beiträgen durchwoben ist. Eines der spannenden, aber wenig bekannten Beispiel dafür, waren die relativ kurzlebigen arabischen Emirate im alpinen Raum – auf dem Gebiet der heutigen Schweiz.

Hierzu sprachen wir mit dem Schweizer Muslim Markus Klinkner. Der studierte Ökonom und Unternehmer, der im Nebenstudium eine zertifizierte Ausbildung am Islamologischen Institut in Wien belegte, hat unter anderem in Archiven hierzu gesucht. Auf was Markus Klinkner stieß, war alles andere als eine historische Wanderlegende. In der Islamischen Zeitung gab er Auskunft.

Islamische Zeitung: Mitte August überraschte ein online-Portal mit einer Zusammenfassung eines Ihrer Texte. Der Inhalt scheint, im Kontrast zu mancher Debatte, abenteuerlich… Sie behandeln das Kapitel einer Jahrzehnte anhaltenden Geschichte von „Sarazenen“ auf dem Gebiet der heutigen Schweiz. Wie sind Sie darauf gestoßen?

Markus Klinkner: Geschichte hat mich schon immer fasziniert und auch der Versuch, sich in die jeweilige Zeit zu versetzen und diese aus verschiedenen Perspektiven nachzuvollziehen. Auf muslimischen Webseiten fand ich vor Jahren verschiedene Erwähnungen einer kurzen unrühmlichen chweizer Sarazenenzeit, jedoch beinhalteten diese oft nur wage Vermutungen und es fehlten Quellenangaben. Daneben gab es verschiedene, eher universitäre Arbeiten seitens der Universität Zürich aus dem 19 Jahrhundert. Und diese stützten sich weitestgehend auf ein Werk aus dem Jahr 1836 von Reinaud, das Fehler enthält, oder Vermutungen und Sagen.

Dies verstärkte mein Interesse, zunächst die Grundlagen dieser wagen Angaben kritisch nachzuvollziehen. Ich begann deshalb mit verschiedenen Buchrecherchen und analysierte verschiedene Chroniken aus dem 10. Und 11. Jahrhundert. Schnell zeigte sich, dass es keine umfassende oder gar strukturierte Sammlung zu dieser Epoche unserer Geschichte gab.

Bei allen Resultaten unterscheide ich konsequent zwischen klaren Belegen wie zeitgenössischen Chroniken einerseits und andererseits zwischen Indizien oder Spuren – wie Namensgebungen oder Funde. Die eindeutigen Belege dienen der Erarbeitung der tatsächlich verfügbaren Faktenlage. Indizien hingegen können diese Fakten nur untermalen, um das Bild zu ergänzen, also mögliche Veranschaulichungen liefern.

Islamische Zeitung: Stammt aus dieser Periode der berühmt-berüchtigte Familienname Sarrazin?

Markus Klinkner: In der Schweizerischen Familienforschung beziehungsweise Genealogie lässt sich die muslimische Namensabstammung des Familiennamens „Sarrazin“ nachvollziehen. Die Genealogie des deutschen Familienstamms der Familie verweist zunächst nach Frankreich, was auch für die Familie des Herrn Sarazzin zutrifft, die als Hugenotten gemäss Ahnenforschung aus Lyon (Frankreich) vor mehreren hundert Jahren einwanderten. Die französische Genealogie wiederum verweist unumstösslich – wie die Schweizerische – auf den muslimischen Ursprung und den Weg der Familie über Al-Andalus.

Islamische Zeitung: Können Sie uns beschreiben, wie diese Muslime in diesen Teil der Alpen kamen und wie sie sich entwickelten?

Markus Klinkner: Ja, das lässt sich sehr genau beschreiben, da zahlreiche Quellen den Ausgangspunkt der Alpenroute in Südfrankreich (heutiges St. Tropez) und ihren andalusischen Ursprung beschreiben. Auch die gewählten Routen von Südfrankreich in Richtung der Schweizer Alpen durch die im heutigen Frankreich liegende nordöstliche Provence sowie durch das italienische Piemont und die ligurischen Berge lassen sich nachvollziehen. Die Alpen erreichten die Sarazenen um das Jahr 920. Zudem ist bekannt, dass die Kommandostrukturen der Emire und späteren Khalifen von Cordoba zunächst über den muslimischen Gouverneur der Insel Mallorca nach Südfrankreich und von dort den Sarazenen der Alpen führten.

Zur Entwicklung selbst kann festgehalten werden, dass in der ersten Phase der Alpensarazenen (ca. 920-942) aufgrund verschiedener Überfälle auf Städte, Klöster und Rompilger ein rauerer Wind herrschte als in der Zweiten (942-973). In dieser zweiten Phase sind Eheschließungen mit den damals noch autochthonen Landestöchtern dokumentiert und es bildeten sich neue Ortschaften in urbar gemachten Alpentälern. Zudem ist diese zweite Phase auch die Zeit des Handels mit nördlichen Regionen sowie der Pachtverträge über größere Länderrein in der französischsprachigen Schweizer Romandie.

Zu den Entwicklungen dieser Zeit gehören die Suonen (alpine Wasserführungen) oder neuartige Getreidearten. Daneben gab es verschiedene Nutzbauten wie Brunnen, Öfen oder Befestigungen. Nach der Vertreibung 973 verblieben verschiedene Sarazenen bis ins 11 Jahrhundert versteckt in den Alpen. Spezielle Erwähnung findet zudem ihre alpine Ortskunde sowie ihr Respekt vor christlichen Würdenträgern sowie ihren Insignien.

Islamische Zeitung: Wie das online-Magazin Sie zitierte, waren das wohl nicht nur Anomalien oder „Räubernester“. Erwähnt werden Handelsabkommen und generell Einigungen, die darauf deuten lassen, dass man die Sarazenen in den Alpen anerkennt. Wie muss man sich das vorstellen?

Markus Klinkner: Während in der früheren Phase bis 942 bis dato keine Strukturen bekannt sind, fängt die zweite Phase durch die Überlassung der Alpen durch König Hugo mit einem frühmittelalterlichen Paukenschlag an. König Hugo hatte die Sarazenen im Jahr 942 aufgrund des französischen Geschichtsverlaufs bereits bis St. Tropez in Südfrankreich zurückgeschlagen und hätte sie vernichten können. Stattdessen offerierte er den Sarazenen zur Überraschung aller umliegenden Herrscher die Alpen.

Die christlichen Chronisten dieser Zeit verstanden dies überhaupt nicht und dichten wutentbrannt und empört böse Verse gegen den König. In der mitteleuropäischen Geschichtsschreibung wird die Alpenüberlassung damit erklärt, dass König Hugo die verbündeten Sarazenen als Abwehrschild gegen seine Widersacher nördlich der Alpen, insbesondere den Marktgrafen Berengar, dessen Vater er tötete, und die Schwaben einsetzen wollte. 
Aus arabischen Quellen geht jedoch noch ein weiterer Grund für dieses Handeln hervor. König Hugo ging ein Freihandelsabkommen mit dem Umayyaden Kalifen Abdurrahman III. ein. Dieses erstreckte sich von Andalusien bis Genua und brachte dem lokalen Adel Wohlstand und Reichtum, der bis heute wirkt, wie am Beispiel der ursprünglich genuesischen Fürstenamilie Grimaldi bzw. Canella in Monaco aufgezeigt werden kann.
 Wie aber reagierte der größte mitteleuropäische Machthaber des 10. Jahrhunderts – Kaiser Otto I.? Er arrangierte sich mit dieser Situation. Die zuvor unsicheren Alpentransversalen wurden durch die Übergabe an die Sarazenen nun sicher und die Inseln der ottonischen Macht, einige Städte wie Chur oder Klöster wurden nun nicht mehr behelligt. Zudem standen die Sarazenen unter der Herrschaft des damals viel weiter entwickelten Andalusiens. Ob Medizin, Technik oder Philosophie – Al-Andalus war das Zentrum des Wissens und es lohnte sich eine gute Beziehung zu suchen.

Nicht zu vergessen sind zudem die schmerzlichen Erfahrungen des deutschen Kaiserreichs im 10. Jahrhundert mit den Magyaren, die als wildes Heer, so wie auch die Sarazenen wahrgenommen wurden, bereits Ottos Reich unter anderem in der Schweiz und in Süddeutschland verwüsteten.

Zudem war das ottonische Reich bereits durch die fatimidischen Muslime, eine der drei großen Mittelmeermächte dieser Zeit, durch deren Vordringen in Italien bedroht. Ein Bündnis der muslimischen Mächte war also eine existentiell latente Gefahr für den deutschen Kaiser.

Der von den Chronisten Widukind III und Luitprand berichtete Umstand, dass Otto I. mehrere diplomatische Gesandtschaften nach Cordoba an den Hof des Khalifen entsandte und er dort erbat, die Alpentransversalen offen zu halten und die ottonischen Gebiete zu verschonen, zeigt, dass Otto I. die von König Hugo erlassene Übertragung der Alpen duldete und und die Zuständigkeit des Khalifen für die Alpenregion anerkannte.

Islamische Zeitung: Wie hat die Kirche und deren damalige Führung reagiert? Man würde eigentlich Empörung vermuten…


Markus Klinkner: Man war empört, wie die Ode des späteren Bischofs Luitprand von Cremona überdeutlich aufzeigt. Wie in den Chroniksammlungen der Mainzer Akademie der Wissenschaften nachzulesen ist, beklagt sie in exzentrischen Worten, dass den frommen Christen die Alpen verwehrt und den maurischen Verbrechern übergeben wurden.

Anders als wenige Jahrzehnte danach in der Zeit der päpstlichen Kreuzzüge war die Kluft zwischen der Kirche und den Muslimen weniger religiös-polemisch und ein Zusammenleben war möglich und fand in den Alpen und Voralpengebieten auch statt. Zudem waren die Alpen zu einem großen Teil nicht christlich beziehungsweise katholisch, sondern autochthon heidnisch. Im Wallis wurde beispielsweise der Jupiterberg (heutiger Großer St. Bernhard) bis ins 15. Jhdt seinen Namen behielt angebetet.

Islamische Zeitung: Haben diese Muslime auf dem Gebiet der heutigen Schweiz nachweisliche Spuren hinterlassen?

Markus Klinkner: Ja. Nachdem bis vor wenigen Jahren noch wild über Ortschaftsnamen spekuliert wurde, stehen heute Ortschaften wie die Walliser Gemeinde Saas-Fee zu ihrer Geschichte und werben sogar mit ihrem sarazenischem Ursprung sowie ihren verschmolzenen Stammbäumen.

Erst vor ein paar Jahren wurde zudem erstmalig ein Gentests mit einem aus dem Wallis stammenden Schweizers gemacht und entsprechende sarazenische Spuren nachgewiesen. Dies freute mich sehr, da ich solche Tests schon lange forderte, denn sie können Belege dienen.

Verschiedene Münzfunde, Wasserleitungen und andere sarazenische Bauten – aber auch Familiennamen bis hin zu Wappen und Flurnamen – müssen aus heutiger Sicht, wie auch weitere Indizien, ernst genommen und weiter untersucht werden. Zudem lassen sich in zahlreichen lokal aufbewahrten handschriftlichen Chroniken des 10. und 11. Jahrhunderts weitere Spuren wie Vertragsnennungen oder Datierungen sarazenischer Präsenz finden. Die Spuren führen quer durch die Schweiz von Graubünden im Osten bis an den Genfer See im Westen, vom Tessiner Südkanton bis vor das nördliche Basel und fügen sich nahtlos an die durch Primärquellen belegte Zeitspanne und ihre geografischen Verortung ein.

Islamische Zeitung: Schweizer sind ja auch im Ausland für einen eigenständigen, unabhängigen Charakter bekannt, der Wert auf Freiheit legt. Gibt im Charakter der Bevölkerung Elemente, die von den Sarazenen kommen könnten?

Markus Klinkner: Nein, das glaube ich nicht, denn die Schweizergeschichte besteht aus einem sehr bunten Völkergemisch, man denke nur an die Etrusker, Römer, Alemannen Hunnen, Kelten, Helvetier, Sarazenen oder Burgunder.

Schweizer unterscheiden sich zudem selbst wiederum regional beispielsweise kulturell, je nach Sprachregion oder den umgebenden Lebensraum sei dieser städtisch, ländlich oder alpin. Es wünscht sich doch jeder Mensch, frei und unabhängig zu sein, also nicht nur insbesondere die Schweizer.

Islamische Zeitung: Haben wir es mit einer wirklichen Neu-Entdeckung des Themas zu tun oder ist diese Episode des Alpenraumes längst bekannt?

Markus Klinkner: Die Aufarbeitung fand bislang nicht wirklich statt. Eine strukturierte wissenschaftliche Ausarbeitung von Belegen wurde nur sehr spärlich gemacht und man mischte Belege und Indizien oft durcheinander, sodass keine seriöse Arbeit entstehen konnte. Hinzu kommt eine überhebliche Polemik des 19. und frühen 20 Jahrhunderts in den Geschichtswissenschaften, die ein wissenschaftliche Aufarbeitung verhinderte.

Das Resultat waren dürftige Aussagen über eine wilde Horde von Sarazenen, die die Alpen überfielen vermischt mit spekulativen Diskursen über Sagen, Berg- und Ortschaftsnamen. Da man zudem fast ausschließlich Sekundärquellen verwendete, wurden frühere Wanderungen durch das Gebiet der heutigen Schweiz von Sarazenen im 9 Jahrhundert, aus Frankreich kommend, falsch zugeordnet. Die Unterscheidung der beiden sarazenischen Phasen wurde nicht gemacht und die übergeordneten Verhältnisse, die die Alpen als Enklave der andalusischen Khalifen erkennen lässt, fehlte ebenso wie eine umfassende Auswertung der zeitgenössischen Chroniken des ottonischen Kaiserreichs. Ebenfalls werden bestehende arabisch-sprachige Quellen bis dato vernachlässigt beziehungsweise scheinen unbekannt zu sein.

Aus dieser Perspektive heraus kann man nicht nur von einer Neuentdeckung sprechen, sondern von einer erstmaligen Grundlagenerarbeitung einer wichtigen Schweizer Phase im 10 Jahrhundert. Der Umstand, dass dies auch die Karten der muslimischen Geschichtsbeschreibung ändern muss, zeigt, dass es nicht nur die Schweizer Geschichte betrifft. Entsprechende Anfragen kamen bereits aus Kairo und Medina sowie von weiteren führenden muslimischen Historikern.

Islamische Zeitung: Nun sind heute ja einige Schweizer Politiker auf den Spuren der späteren Kreuzfahrer unterwegs. Wie würden Blocher & Co. reagieren, wenn man ihnen davon erzählt?



Markus Klinkner: Sicher mit Interesse. Gerade Herr Blocher ist sehr Geschichtsinteressiert, wie seine Ausführungen zum 500-jährigen Gedenken zur Schlacht von Marignano zeigen. Zudem war er auch persönlich mit Geschichte konfrontiert, als man auf dem Areal seinen Unternehmens in Ems ein Massengrab aus dem späten 18. Jahrhundert fand.

Auch wenn ich die simplifizierten Lösungsvorschläge rechts-bürgerlicher Vertreter meist nicht teilen kann, erachte ich es als sportlich, die Meinung anderer zu respektieren und ihre Argumente als Herausforderung zu betrachten. Es waren meist radikale Ideen wacher Denker, die Weiterentwicklungen anstießen und direkt oder indirekt durch ihre Widerlegung den Fortschritt der Menschheit bewirkten auch, wenn sie zunächst irritierend oder gefährlich wirkten.

Islamische Zeitung: Ist das Thema der alpinen Sarazenen auch ein Symbol für einen anderen Umgang mit dem muslimischen Anteil der europäischen Geschichte.

Markus Klinkner: Der Umgang mit dem islamischen Beitrag unserer etnhno-zentrisch geprägten europäischen Kulturgeschichtsschreibung benötigt per se einer dringenden Aufklärung und Aufarbeitung. Damit wird auch dieser kleine Teil der Geschichte symbolisch wichtig, da er insbesondere gemeinsame Wurzeln bis in die Familienstammbäume hinein aufzeigt anstelle einer isolierten widersprüchlichen Entwicklungen.
Das Bild des Geschichtsunterrichts, dass nach den Römern und Germanen ein homogenes christliches Europas zeichnet ist augenscheinlich durch den europäischen Balkan bereits so nicht haltbar und damit auch die Vereinnahmung von Entwicklungen wie der Renaissance oder der Aufklärung und über 800 Jahre Geschichte des europäischen Westens, über 500 Jahre südlich der Alpen und bis heute im östlichen Europa werden leider kaum in ihren Kontext gebracht.

Dazu kommen unzählige weitere gemeinsame Epochen wie die der Tataren oder anderer muslimischer Bevölkerungsanteile in den europäischen Ländern.

Muslime waren und sind Teil dieses Kontinents und ihr Kultur- und Wissenschaftsbeitrag ist maßgebend für die europäische Entwicklung. Daher ist es eine gemeinsame Aufgabe, das revisionistische mittelalterliche Entwicklungs- und Geschichtsbild, das uns in Schulbüchern bis heute verfolgt, zu korrigieren.