Lost in ­Grundgesetz

Ausgabe 256

Montage: IZ Medien

(iz). In der Frankfurter Allgemeinen beschrieben Cem Özdemir und Ahmad Mansour in einem gemeinsamen Gastbeitrag vom 28.08.2016 die Bedingungen einer „zumutbaren Integration“. Sie offenbaren damit exemplarisch die immer unzumutbareren Verirrungen des gegenwärtigen „islamkritischen Diskurses“. Die Nachhaltigkeit dieser Aberrationen und ihre kontinuierliche Verbreitung durch populäre Medien wie die FAZ zwingt jeden Bürger mit Herzblut für unser Grundgesetz zum deutlichen und lauten Widerspruch.
Am Beispiel ihres Gastbeitrages machten die Autoren drastisch sichtbar, auf welchem gefährlichen verfassungsrechtlichen Holzweg führende Politiker unseres Landes unterwegs sind und wie offen mittlerweile auch in sogenannten Leitmedien die Aufforderung zum Verfassungsbruch und die Relativierung unseres Grundgesetzes artikuliert werden können – ohne dass es jemandem auffällt.
Merkwürdige Koalition
Dass in diesem Gastbeitrag ein Autorenduo auftritt und seine gedankliche Koalition erkennbar werden lässt, muss in seiner Bedeutung wahrgenommen werden. Ahmad Mansour ist – in seiner Funktion als Programmdirektor der European Foundation for Democracy (EFD) mit ihren auch ausländischen Verbindungen und Unterstützern in antimuslimische und islamfeindliche Netzwerke verstrickt. Das Muslimische Forum Deutschland (MFD), dessen Sprecher er ist, kann vor diesem Hintergrund auch als Ableger oder „verlängerter Arm“ jener ausländischen antimuslimischen Netzwerke in Deutschland verstanden werden.
Dieser Hintergrund ist nicht verborgen. Er ist kein Geheimwissen. Jeder, der sich die Mühe einer halbwegs aufmerksamen Internetrecherche macht, kann diese Verbindungslinien nachverfolgen. Somit erscheint die Rolle Özdemirs als Co-Autor des Gastbeitrages zumindest als grob fahrlässige Unterstützung dieser antimuslimischen Netzwerke – wenn sie denn nicht vorsätzlich erfolgt. Dies zu wissen, ist von großer Bedeutung für die inhaltliche Analyse des Textes.
Denn die gedanklichen Ausführungen beider Autoren stellen sich bei näherer Betrachtung als Mimikry, als verfassungswidrige Grundhaltung im Tarnkleid des Plädoyers für unser Grundgesetz dar. Oder wie Adorno es formuliert: „Nur am Widerspruch zwischen dem, was etwas zu sein beansprucht, und dem, was es wirklich ist, lässt sich das Wesen einer Sache erkennen.“
Formal wie ethisch ist der Widerspruch, der sich darin offenbart – und der bereits in der Grundkonstellation der Autorenschaft und der Rolle Mansours im antimuslimischen Diskurs angelegt ist – eine Bankrotterklärung für die vielbeschworene Wertegemeinschaft, auf die sich beide Autoren ja explizit beziehen. Nur verstanden haben sie diese offenkundig nicht.
Antimuslimische Narrative
Wen meinen beide, wenn sie fragen: „Doch wenn man dieses Land verachtet oder für moralisch minderwertig hält: Warum sollte man dann hier leben wollen?“ In diesem Satz offenbart sich das Spiel mit den Ausschaffungsphantasien, die sich auch in den rechtspopulistischen Exzessen unserer südlichen Nachbarn, in der Schweiz und Österreich, ihren Weg in die Mitte der Gesellschaft und der politischen Landschaft gebahnt haben.
Sie sind die gedankliche Fortsetzung der „Das Boot ist voll“-Rhetorik der 1990er Jahre. Das ist eine makabre Metapher angesichts der überfüllten Flüchtlingsboote, die im Mittelmeer versinken. Sie sind die Folge einer Rhetorik, die vehement die Nichtdazugehörigkeit einer Religion betont. Die angeblich feine Differenzierung, dass der Islam nicht, aber die Muslime sehr wohl zu Deutschland gehörten, ist in Wirklichkeit eben keine. Sie ist nur die „Taqiyya“, die pseudo-intellektuelle Verstellung des segregierenden Geistes, der Andersdenkenden „nahelegt“, doch das Land zu verlassen, wenn es einem hier nicht passt.
Dieser Geist taucht dann auch in diesem Gastbeitrag wieder auf und ist nichts anderes, als das nach rechts augenzwinkernde Spiel mit dem Gedanken der Deportation. Er erscheint nur ungeschickt verhüllt in der Burka des Vorwurfs der Undankbarkeit.
Konditionierung auf Ausgrenzung
Ähnlich das rhetorische Spiel mit anderen Narrativen der antimuslimischen Szene: Die Autoren formulieren ausdrücklich, man müsse das „Übel an der Wurzel packen“. Dieses soll die „islamische Radikalisierung“ sein, nicht etwa „islamistische“ oder „extremistische“ Radikalisierung. Denn diese Unterscheidung gibt es in der antimuslimischen Szene nicht. Die Wurzel allen Übels ist immer und stets der Islam selbst.
So verwundert es auch nicht, dass im Anschluss gleich die islamischen Religionsgemeinschaften als „Teil des Problems“ beschrieben werden, sodass der Leser nur noch die Assoziation von „islamischer Radikalisierung“ zu „islamische Verbände“ als „Teil des Problems“ nachvollziehen muss. Fertig ist die Konditionierung zu Ablehnung, Distanz und Ausgrenzung islamischer Religionsgemeinschaften.
Man muss wissen, dass genau dieser Effekt bei der Arbeit antimuslimischer Netzwerke bezweckt wird. Nur so können die „islamkritisch“ sublimierten Botschaften in Mansours Texten dekodiert werden. Und der Bundesvorsitzende der Grünen macht sich diese Methoden und ihre Inhalte nun öffentlich zu eigen. Wie solche Methoden und Inhalte noch zum Postulat „Freiheit ist unser höchstes Gut“ und dem Appell zum „zivilisierten Umgang“ mit Konflikten passen sollen, bleibt das Geheimnis der Autoren. Und eine Distanzierung von solchen Methoden bleiben das MFD und sein Initiativkreis weiterhin schuldig.
Um 60 Jahre veraltet
Juristisch betrachtet, fallen Cem Özdemir und Ahmad Mansour im verfassungsrechtlichen Verständnis – ähnlich wie Özdemirs Parteikollege Volker Beck – um Jahre hinter den Stand der Rechtsprechung zurück. Wo es bei Beck noch knapp elf Jahre sind, um die er die gerichtlich konkretisierten Voraussetzungen für Religionsgemeinschaften verfehlt, sind es bei beiden Autoren fast 60 Jahre.
Denn sie schreiben tatsächlich diese Sätze: „Mit einem Blick in die Verfassung werden natürlich nicht alle moralischen Fragen automatisch beantwortet. Das Grundgesetz steht für uns jedoch über der Bibel, dem Koran oder anderen Heiligen Büchern. Es ist die Grundlage für unser friedliches Zusammenleben und für ein besseres Leben als in den Ländern und Regionen, aus denen Menschen flüchten müssen. Allen Neuankömmlingen sollten wir ein Grundgesetz in ihrer Sprache schenken und den Inhalt lebensnah erklären.“
Der „islamkritische Diskurs“ der letzten 15 Jahre hat uns derart verblendet, unser Verständnis von Recht und Rechtsordnung derart über den Haufen geworfen, uns mit hysterischer Panikmache und plumpen Falschbehauptungen dermaßen in die Irre geführt, dass hier ein von der Bundeszentrale für politische Bildung zum „Botschafter für Demokratie und Toleranz“ gekürter „Import-Experte“ und ein gestandener Bundespolitiker mit Vizekanzler-Ambitionen nicht dagegen gefeit sind, sich öffentlich derart in Widerspruch zu unserem Grundgesetz und dem etablierten Verfassungsverständnis unserer Rechtsordnung zu begeben. Diese Tatsache wird von der FAZ vermutlich nicht als der Skandal veröffentlicht, der er eigentlich ist, sondern als „liberaler“, „humanistischer“ Beitrag. Auch diese Entwicklung in der medialen Begleitung der „Islamkritik“ muss uns besorgen.
Grundgesetz ist keine Offenbarungsschrift
Was in den obigen Sätzen mitschwingt, ist ein Verfassungsverständnis, das dem Grundgesetz eine Bedeutung als quasi Bekenntnisschrift zuschreibt. Aber tatsächlich wird keine einzige moralische Frage mit Blick in das Grundgesetz beantwortet. Es ist keine Glaubensschrift und verlangt vom Bürger kein Bekenntnis im Sinne einer Gewissensentscheidung oder eines Für-wahr-Haltens. Das Grundgesetz formuliert Schutzrechte des Bürgers vor dem Staat und durch den Staat, nicht Ansprüche des Staates an seine Bürger – erst Recht keinen Anspruch auf spirituelle Wahrheit.
Der ständige Versuch, religiöse Schriften in ein Subordinationsverhältnis zum Grundgesetz zu zwingen, offenbart eine tiefe Verunsicherung über die Koordinaten der eigenen Existenz. Und dieser spiegelt im Grunde nichts anderes wider, als ein kulturhierarchisches Konzept, in welchem das Grundgesetz als Art säkulare Heilsbotschaft sakralisiert wird, um im Geltungsanspruch mit religiösen Offenbarungsschriften konkurrieren zu können.
Das ist absurd, denn es gibt mit Blick auf den Islam kein solches Konkurrenzverhältnis. Das Grundgesetz ordnet sich überhaupt nicht dem Wahrheitsanspruch irgendeiner Religion über. Es erklärt sich in religiösen Fragen vielmehr kategorisch für nicht kompetent. Es kommt auch nicht einmal im Ansatz auf die Idee, ein dem Staat genehmes „Islamverständnis“ zu fördern. Denn der Staat kann und darf nicht wissen, was ein gutes „Islamverständnis“ sein soll. Bereits das wäre ein Schritt in Richtung Verfassungsbruch. Aber gerade den fordern Özdemir und Mansour im Vertrauen auf die Unfehlbarkeit ihrer eigenen behaupteten Expertise.
Und es ist auch nicht so, wie Özdemir und Mansour verkünden: Das Grundgesetz ist nicht die Grundlage für unser friedliches Zusammenleben. Es ist die Grundlage dafür, dass sich der Staat seinen Bürgern gegenüber friedlich verhält. Das verträgliche Zusammenleben der Bürger regelt das einfachgesetzliche Recht. Im zivilrechtlichen Bereich mit Blick auf die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander und im strafrechtlichen Bereich zur Durchsetzung des Schutzes von Rechtsgütern.
Zurück in die 1950er
Es gilt seit der bedeutsamen Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1958 eben nicht die unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten. Bis dahin wurde durchaus noch die jetzt wieder von Özdemir und Mansour proklamierte Ansicht vertreten, wonach die Grundrechte unmittelbar für das Zusammenleben der Bürger Wirkung entfalten. Also im Bereich des Privatrechts zum Beispiel als Verbotsgesetze oder im deliktischen Bereich als Schutznormen wirken sollen. Offenbar wollen Özdemir und Mansour zurück in die 1950er und den „Neuankömmlingen“ ein Grundgesetz in die Hand drücken, an das sie zu glauben und an das sie sich zu halten haben, als enthielte es für den einzelnen Bürger unmittelbar wirksame Gebots- und Verbotsnormen.
Für die eindeutige und gefestigte Rechtsprechung seit 1958 ist aber klar, dass Grundrechte nur eine mittelbare Drittwirkung haben. Sie strahlen über sogenannte Generalklauseln, die Einbruchstellen für das Grundgesetz, mittelbar in das materielle Recht hinein, das den Bürger betrifft. Sie beschreiben eine Grundrechtsordnung, die für die legislative Gewalt bei der Normensetzung und für die Exekutive und Judikative bei der Ausführung und Anwendung des Rechts bindende Wirkung entfaltet. Das Grundgesetz errichtet also eine objektive Werteordnung, die für alle Staatsgewalt als unmittelbares Recht bindend ist, für den Bürger aber nur mittelbar Wirkung entfaltet. Damit sind die Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat.
Die Bürger haben sich an die geltenden Gesetze zu halten, darauf kommt es an, und nicht darauf, ob sie diese Gesetze für wahr halten oder an sie „glauben“. Die staatliche Gewalt muss bei jeder Setzung neuer Rechtsnormen, bei ihrer exekutiven Umsetzung und gerichtlichen Anwendung die Grundrechtsordnung achten. Diese Grundrechtsordnung zu kennen und zu verinnerlichen ist für die Bürger wünschenswert, aber keine Frage des Glaubensbekenntnisses.
Offen verfassungswidrig
Wie wichtig es jedoch ist, immer wieder zu betonen, dass das Grundgesetz die Grundlage dafür ist, dass sich der Staat seinen Bürgern gegenüber friedlich und in Achtung ihrer Grundrechte verhält, wie wichtig also diese Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat tatsächlich sind, wird in der Auseinandersetzung mit den offen verfassungswidrigen Forderungen Özdemirs und Mansours deutlich.
Die beiden Autoren sind im Gastbeitrag dazu bereit, unsere Verfassungsordnung für islamische Religionsgemeinschaften abzuschaffen oder zumindest zu relativieren. Sie sprechen ihnen den durch das Grundgesetz selbst definierten Status einer Religionsgemeinschaft nur auf Grundlage politischer Willkür ab. Die Autoren behandeln die islamischen Religionsgemeinschaften nicht nach dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Özdemir und Mansour sprechen ihnen die Rechte auf Selbstverwaltung und Selbstbestimmung ab, die in den inkorporierten Artikeln der Weimarer Reichsverfassung festgeschrieben sind und sie umgehen die gesetzlichen und gerichtlich festgelegten Voraussetzungen des Religionsgemeinschaftsstatus. Das Autorenduo fordert ein Beiratsmodell, das außerhalb unserer Verfassungsordnung steht. Sie wollen das grundgesetzlich geschützte Erziehungsrecht von Eltern nach eigenen ideologischen Vorstellungen einschränken, ja geradezu vorsätzlich gegen dieses Grundrecht handeln.
Und all das wollen sie mit dem Rekurs auf eine vermeintlich höhere Werteordnung legitimieren. Diese konstruieren sie in Ermangelung gedanklicher und argumentativer Konsistenz und in krassem Widerspruch zu der eigentlichen Funktion der Grundrechte – über eine Sakralisierung des Grundgesetzes.
Ethischer Offenbarungseid
Özdemir und Mansour bemühen die Ereignisse der Kölner Silvesternacht und betreiben dabei einfach nur eine schamlose politische Instrumentalisierung der Opfer. Den „Neuankömmlingen“ und hier geborenen muslimischen Bürgern fehlt es nicht an einer Wertebildung. Denn auch ihren Wertvorstellungen nach und auch nach den Rechtsordnungen ihrer Herkunftsländer ist die sexuelle Nötigung von Frauen ein Verbrechen.
Und auch die Beispiele des Handschlages und des Schwimmunterrichts sind exemplarisch für die ethischen Doppelstandards und die bloß rhetorische Konstruktion einer Werteordnung durch die Ausführungen der beiden. Bei näherem Hinschauen erkennt man die argumentative Substanzlosigkeit, die nur durch die billige Scharade der „Islamkritik“ mühsam getarnt wird.
Es ist nicht nur diese Kurzsichtigkeit, mit der die Autoren einerseits im Gestus der zivilisatorischen Überlegenheit die Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Frauen beschwören, nur um dabei nicht zu bemerken, dass sie mit den beiden ins Feld geführten Beispielen Frauen und Mädchen gerade absprechen, selbst über ihre körperliche Integrität entscheiden zu dürfen. Nämlich darüber zu bestimmen, von wem und warum sie sich anfassen lassen oder weshalb und wie weit sie sich körperlich entblößen wollen.
Mein Fazit: Überlasst die „Neuankömmlinge“ den hier bereits lebenden Muslimen. Die werden ihnen schon klar machen, wie man nach Mölln, nach Solingen, nach Keupstraße, nach biologistischer Sarrazin-Debatte, nach immer noch unaufgeklärtem NSU-Komplex, nach 15 Jahren törichter „Islamkritik“ dennoch ein rechtstreues und gedeihliches Leben führen kann, ohne verrückt zu werden. Nichts anderes tun sie seit über 50 Jahren. Dabei haben sie, vielleicht sogar, ohne je einen Blick hinein geworfen zu haben, das Grundgesetz ganz offensichtlich besser verstanden und besser in ihre Worte und Taten integriert, als es Mansour und Özdemir mit ihrem Gastbeitrag in der FAZ gelang.
Denn ein solches pathetisches Plädoyer für unsere Verfassung bei gleichzeitig verfassungswidrigen Positionen kann man nicht mehr ernst nehmen.