Nermina Zolj-Sabanovic erinnert an den 20. Jahrestag des Massakers von Srebrenica

Ausgabe 240

(iz). Mit Zahlen konnte ich noch nie gut umgehen. Kopfrechnen habe ich gehasst. Telefonnummern habe ich mir nie merken können und auf meinem Kontoauszug schaue ich nur, ob ein Plus oder Minus vor den Zahlen steht.

Doch eine Zahl beschäftigt, verfolgt mich geradezu und das ist die Zahl 8.372. 8.372 Kinder, Jugendliche und Männer waren es nämlich, die in jenem schwarzen Juli 1995 in Srebrenica unschuldig ermordet wurden. 8.372 stehen für Srebrenica, Tod, Völkermord, Krieg.

20 Jahre sind seither vergangen, gemessen an einem Menschenleben eine lange Zeit. Gemessen am Lauf der Geschichte nicht mehr als ein kurzer Augenblick. Und nun sitze ich hier, schreibe diese Zeilen an einem warmen Frühlingstag, während ich meiner Tochter beim Toben auf dem Spielplatz zusehe. Die Sonne scheint, Kinder lachen, schreien, die Luft riecht nach Frieden…

Normalerweise würde ich lesen, die Kinder beobachten, den Sonnenschein genießen, doch Srebrenica ist in diesen Tagen ein grosses Thema. Wir bereiten die Info-Veranstaltung vor, die Demo steht an und so hängt gerade alles irgendwie mit dem Krieg zusammen. Die Gedanken, die ich mir mache, passen nicht hierher. Zu morbide sind sie, zu verstörend… Ich lasse meinen Blick schweifen und denke: Was, wenn jetzt hier eine Granate einschlägt? Was, wenn ein Heckenschütze jetzt eines dieser unbekümmerten Kinder erschiesst?

Ein absolut unrealistisches Szenario, ich weiß, und ich danke Gott und meinem Schicksal dafür. Das Schicksal meinte es gut mit uns: Meine Eltern entschieden sich Anfang der 1990er nach langem Hin und Her, doch in Deutschland zu bleiben, ich ging in die Schule, alles lief nach Plan. Im Januar ‘91 wurde mein Bruder in die JNA, die jugoslawische Nationalarmee einberufen – nicht ahnend, was uns bevorstehen sollte, feierten wir noch mit ihm in Capljina, wo er stationiert war. Mein Vater stolz, meine Mutter besorgt, ich mit meinen 12 Jahren ohne Plan, was da gerade passiert.

Kurz darauf, die Meldung, dass Slowenien ein eigenständiger Staat wird, erste Panzer der JNA fahren auf slowenischen Boden und mit den ersten Kriegsbildern in Slowenien verbinde ich vor allem die Angst um meinen Bruder. Ich habe heute noch seine verzweifelte Stimme im Ohr, als er meinem Vater sagt, dass er doch nicht auf sein eigenes Volk schießen kann. Unzählige Telefonate, einige durchweinte Nächte, Tage voller Panik und 10.000 DM später stieg mein Bruder aus dem Flugzeug und erst jetzt, da ich selber Mutter bin, verstehe ich im Ansatz, wie befreiend ihre Tränen gewesen sein müssen, als meine Mutter ihn in den Arm nahm.

Der Krieg nahm seinen brutalen Lauf, hinterließ eine blutige Spur durch den Balkan, erst in Slowenien, dann in Kroatien. Jeden Tag erschreckendere Bilder, beunruhigendere Nachrichten, zu Hause wurde immer weniger gelacht und doch war das alles noch irgendwie fern für mich 12-jähriges Kind.

Der Krieg brach dann in Bosnien aus und wurde für mich greifbarer, grausamer und unmenschlicher, als immer mehr Familienmitglieder zu uns flohen: Eine Cousine, die von Heckenschützen getroffen wurde und der man das Bein amputieren musste; eine weitere, die von Granatsplittern so schwer verletzt wurde, dass sie seitdem rechtsseitig gelähmt ist; meine Tante, Serbin, hochschwanger mit zwei kleinen Kindern…

Wir lebten zeitweise zu neunzehnt in vier Zimmern, teilten unsere Ängste, unsere Sorgen auf kleinstem Raum. In Erinnerung geblieben sind mir vor allem das Zusammenzucken, jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, in Erwartung einer weiteren Hiobsbotschaft und die fassungslosen, entsetzten Blicke, wenn wir uns abends vor dem Fernseher versammelten und hilflos dabei zusahen, wie Häuser brannten, unschuldige Menschen vertrieben und ermordet wurden…

Dann, im Juli 1995, die Bilder in Srebrenica. Ratko Mladic, wie er Kindern, deren Väter er später erschießen lässt, Schokolade gibt, wie er die Frauen beruhigt: „Es wird euch nichts passieren.“ Bilder von niederländischen Soldaten, die „auch nur ihre Pflicht taten“, Bilder von Massenexekutionen. Bilder, die ich heute, 20 Jahre später, immer noch vor meinen Augen habe und die ein Grund sind, warum ich jetzt diese Zeile schreibe.

Der Krieg fand schließlich ein Ende. Ein Teil meiner Familie ging zurück nach Bosnien, mein Onkel und meine Tante nach Amerika, meine Cousine mit ihrer Familie nach Australien. Das Leben ging weiter, ich beendete meine Schule, meine Ausbildung, der Krieg schien nicht mehr als ein böser Traum…

Bis ich dann 2006 bei meiner Freundin Emina zu Besuch war. Ihre Mutter, ein liebenswerte, starke Frau, setzte sich zu uns an den Tisch, machte sich eine Zigarette an und sagte nur: „Wir können ihn beerdigen.“ Sie meinte ihren kleinen Sohn, der mit ihrem Mann zusammen auf der Flucht in den Wäldern Srebrenicas erschossen wurde. Sie rauchte, erzählte ruhig und gefasst, bis ihr bei dem Satz „Das einzige was ich von ihm habe, ist seine Kleidung…“, die Tränen kamen. Ich sah sie an und hatte meine Mutter damals am Frankfurter Flughafen vor Augen…

Zwei weinende Mütter, eine, deren Sohn noch lebt und eine, die nicht einmal ein Foto ihres toten Sohnes hat. Nach 10 langen Jahren der Trauer, der Wut und der Verzweiflung konnte sie damals ihren Sohn endlich beerdigen und ihren Frieden finden. Jedes Jahr ist sie seitdem in Srebrenica. Jedes Jahr am 11.07. weint und trauert sie an seinem Grab. Sie weint um ein Leben das ausgelöscht wurde, bevor es überhaupt begann.

Ihre Tränen sind der Grund, warum ich bei „Stuttgart #Srebrenica“ mitmache. Ihre Tränen sind der Grund, warum ich am 11.07. auf die Strasse gehe. Ihre Tränen sind einer von 8372 Gründen, warum ich 20 Jahre später sage: Ich bin Srebrenica, ich vergesse nicht!

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