Nicht nur Bilal

Ausgabe 301

Foto: YoPho, Adobe Stock

(Lamppost Education). Für viele Muslime ist Bilal ibn ­Rabah der typische Ausgangspunkt für Gespräche über das Schwarzsein und soziale Ausgrenzung. Heute jedoch ist er nur selten der Beginn für eine Diskussion über Glaube, Treue und Aufrichtigkeit gegenüber der ­prophetischen Mission.

Vielleicht liegt der Grund für die Überbetonung seiner „Rasse“ in dem Farbendenken und dass es eine immer größere Rolle im Leben der Leute seit Beginn der europäischen Aufklärung spielt. Vor­moderne Bevölkerungen unterschieden sich im Allgemeinen durch Sprache und gemeinsame Bräuche – und wenige durch Hautfarbe.

Das soll nicht heißen, dass bei­spielsweise Araber die phänotypischen Unterschiede zwischen sich und anderen ­Geo-Bevölkerungen wie Byzantinern, ­Levantinern und Persien ignorierten. Sie stuften diese wegen ihrer blassen Hautfarbe als „weiße“ (arab. hamra) ein. Sie betrachteten die „Weißheit“ der oben genannten Gruppen definitiv als Seltenheit unter der arabischen Bevölkerung.

Das heißt jedoch nicht, dass die „hellbraune“ (arab. asmar) und „dunkelbraune“ (arab. adam) Tönung der Araber, wie sie von Lexikografen beschrieben wurde, sie zu einer Subkategorie von „Schwarzen“ (wie jenen aus Äthiopien, Sudan und Nubien) machte. In der Tat, wenn man die phänotypische Beschreibung von Bilal liest, dann findet sich keine großartige Abweichung seines ­Aussehens von authentischen Arabern wie ‘Ali, dem Cousin des Propheten, Zaid und Usama. In bestimmten Berichten wurden diese als „sehr dunkelbraun“ (arab. adam schadid al-udma) beschrieben. Der äthiopische Hintergrund von Usama ibn Zaid schloss ihn nicht von der Zugehörigkeit zu den Arabern aus.

Trotz allem, was wir über Bilal und ­andere historische islamische Persönlichkeiten hören und lesen, muss man darauf achten, nicht zu viel Vertrauen in die ­Details zu setzen, die über das Leben ­einzelner Menschen berichtet werden. Der Grund dafür ist, dass frühe mus­limische Historiker weit weniger gewissenhaft bei der Geschichte waren als bei der Echtheit von Regeln, Praktiken und Aussagen des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben.

Mit anderen Worten: während wir uns der Umrisse der islamischen Geschichte und der wichtigsten Ereignisse im prophetischen Leben gewiss sein können, gerade wenn sie im Qur’an erwähnt ­werden, sollten wir kritischer sein, wenn es um die Einzelheiten im Leben individueller Charaktere geht. Eine Ausnahme zu dieser Regel jedoch stellt die Person dar, die populär Bilal genannt wird; ­insbesondere, weil unzählige Leute seine Geschichte überlieferten. Selbstver­ständlich besteht die Herausforderung, darin, jene Punkte herauszuarbeiten, an denen sich die Punkte der verschiedenen Berichte unterscheiden. Und darin, jenen Fakten zu folgen, die uns dabei helfen, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen.

Laut Ibn Khaldun unterlaufen Historikern, Qur’ankommentatoren und führenden Überlieferern häufig erzählerische und faktische Fehler. Das liege daran, weil sie sich auf bloße Überlieferungen verlassen – sowohl verlässliche als auch unverlässliche –, ohne ihre Quellen und Nacherzählungen zu überprüfen. Sie würden diese nicht mit der Waage der Weisheit und Kenntnis der Normen des bewussten Lebens abwägen, noch die Berichte einer kritischen Analyse unterziehen. Als Folge wichen sie von der Wahrheit ab und wanderten in einer Einöde von Täuschung und Fehler. Als Beispiel führt Ibn Khaldun die Berechnung von Reichtum und die Anzahl von Soldaten an, wenn sie in einem Bericht auftauchen. Sie müssten sich an ihren Quellen und deren Fundamenten messen.

Bilal war weder der einzige „schwarze“ Gefährte des Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Sein Bruder Khalid und seine Schwester Ghuraira waren ebenfalls Muslime äthiopischer Herkunft. Salman, der Perser, stellte eine andere Ausnahme in Arabien dar. Es muss jedoch bedacht werden, dass das, was in der vormodernen Welt als „rassische Minderheit“ galt, nicht dasselbe war, wie wir es heute verstehen. Erstens waren Konzepte wie Herkunft viel weniger biologisch bestimmt, als es heute wahrgenommen wird. Kulturelle Faktoren wie Sprache und gemeinsame Geschichte spielten eine Hauptrolle in der Gruppenzugehörigkeit und Solidarität. Fremdenfeindlichkeit ist nicht die exklusive Domäne einer bestimmten Gruppe. Alle Gesellschaften haben ihren Anteil daran, was sich aus einem genauen Studium der Geschichte ergibt.

Laut der meisten Berichte war Bilal ein „ethnischer“ Außenseiter in Arabien und ein freigelassener Sklave. Sowohl Stammesdenken als auch der Status als Sklave spielten eine Hauptrolle in der sozialen Ausgrenzung und Verletzlichkeit des Arabiens im 7. Jahrhundert. Das ist eine wichtige Tatsache. Wir sollten uns davor hüten, hier jede Art der Ausgrenzung und des Ausschlusses mit Farbe, „systematischem Rassismus“ oder einer anderen Form der Engstirnigkeit zu begründen.

Es geht mir darum, aufzuzeigen, dass es neben Bilal eine Reihe von Angehörigen anderer „Minderheiten“ im frühen Leben der Gemeinschaft muslimischer Pioniere in Arabien gab. Und obwohl sich ihr Minderheitenstatus nicht immer „ethnisch“ von dem ihrer Peiniger unterschied, funktionierte ihr Status dennoch so wie in einer Gesellschaft, die Minderheiten von wichtigen Rollen und Rechten ausschließt, was zu ihrer Unsicherheit und sozialen Entrechtung beitrug. Wie in anderen Gesellschaften der vormodernen Welt hatten Minderheiten, insbesondere ethnische, nur einen beschränkten Schutz vor physischem Schaden und begrenzten Anteil an der Herrschaft.

Es ist wahr, dass Bilal und andere Äthiopier nicht als befähigt galten, das Amt des Kalifen auszuüben. Das gleiche galt jedoch für alle Nichtaraber sowie für Araber, die kein Mitglied des Stammes der Quraisch waren. Weniger einflussreiche Positionen als die des Oberhauptes standen anderen jedoch offen. Das hatte weit weniger mit Hautfarbe zu tun als mit den Regeln des Tribalismus und anderer praktischer Erwägungen. Wie bereits festgestellt waren die meisten Araber sowieso hell- oder dunkelbraun. Daher kann jede Aussage, wonach „Schwarzen“ (zu denen üblicherweise die „Braunen“ und „Hellhäutigeren“ gezählt wurden), politische oder sozioökonomische Privilegien verweigert wurden, nur unter Mühen aufrechterhalten werden. Es gab zweifelsfrei viele Äthiopier im Arabien zur Zeit, als der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, erschien. Und eine Anzahl von ihnen nahm den Islam an. Während die gesellschaftspolitischen Beiträge der meisten von ihnen marginal waren, betrieb der Prophet eine Politik der Inklusion. Bilal hatte mehrere Rollen; und nicht nur, wie manche meinen, eine schöne Singstimme. Stammesdenken und der Status als Sklave waren die Hauptfaktoren für begrenzten sozialen Schutz und Machtteilung in Arabien und weniger die Hautfarbe. Das gilt auch für andere vormoderne Gesellschaften.

Vorliegende Geschichten über verfolgte Personen in der islamischen Früh­geschichte belegen die Aussage, dass der einzelne Faktor der Hautfarbe, insbe­sondere bei Schwarzen, geringe Auswirkungen hatte auf die Misshandlungen durch die heidnischen Araber. Es waren vielmehr die beiden Faktoren Tribalismus und der Status als Sklave, welche die ­frühen Anhänger des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, so verletzlich machten.

Entweder war der Stamm stark und leicht zu erreichen, oder man musste ein Schutzversprechen vor einem der lokalen Stämme einholen. Es musste jedoch sichergestellt werden, dass derjenige nichts tat, was der Stamm als aufrührerisch ­deuten würde, z.B. die Annahme des Islam als Religion. Tat man das während man Sklave oder Freigelassener war, war es noch riskanter.

Diese Tatsachen sind wichtig, denn es gibt die Tendenz – insbesondere angesichts einer gestiegenen Polarisierung beim Thema „Rasse“ – zur Deutung der Geschichte durch die Linse der Gegenwart. Dabei wird die Frage übersehen, ob die Wirklichkeit damals anders ­gedeutet wurde oder nicht. Wenn wir diesen Fehler vermeiden, indem wie ­unterschiedliche soziohistorische und kulturelle Zusammenhänge anerkennen, bekommen wir die Gelegenheit, die ­Brücke der soziopolitischen Trennung wieder aufzubauen, anstatt den Bruch auszuweiten.

Anmerkungen:

1. Farbendenken – das Konzept wurde ­während der Aufklärung beliebt, als Anthropologen wie Carl Linné damit anfingen, Menschen in „rassische“ Gruppen zu klassifizieren aufgrund ihrer anscheinenden Farbe. Damit gingen einher die Aufzählung stereotyper Eigenschaften innerhalb jeder Gruppe. In Bilals Zeit gab es keine Vor­stellung einer einheitlichen transnationalen oder panafrikanischen Gruppe namens „Schwarze“. Schwarze auf dem afri­kanischen Kontinent begriffen sich nicht als Mitglieder einer farb-essenzialis­tischen Ethnie. Die Menschen zogen die Interessen des Stammes oder des Clans denen anderer vor.

2. Ibn Manzur (711/1311) schrieb in seinem „Lisan al-‘Arab“: Die Roten (arab. al-hamra) beziehen sich auf die Nichtaraber (arab. ‘adscham) wegen ihrer Blässe. Denn ihre extreme blasse Färbung (arab. schuqra) ist ihre dominante Hautfarbe. Und die Araber pflegten die Nichtaraber, bei denen das mehrheitlich der Fall war, wie die Griechen, die Perser, und andere wie sie als „Rote“ zu bezeichnen.

3. Der bekannte Historiker und Hadith-­Gelehrte Adh-Dhahabi (748/1348) schrieb: Die Roten (arab. al-hamra) sind nach den Einwohnern des Hidschaz die blassen Weißen (arab. al-baida bi schuqra). Aber sie sind nur selten unter ihnen (das heißt, den Arabern). Ein Beispiel dafür ist das Hadith: (… ein roter Mann, der einem der Schutzbefohlenen (arab. mawali) ähnelt.“ Der Sprecher meint hier, dass er die Farbe der Schutzbefohlenen hatte, die von den ­Christen der Levante (arab. scham), Byzanz (arab. Rum) und der Perser (arab. ­‘adschami) gefangen wurden.