Vergewaltigungen: Pandemie in der Pandemie

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Menschenrechtler und Politiker sind alarmiert: In Nigeria sind Missbrauch, Nötigung und Vergewaltigung an der Tagesordnung. Bei der Bekämpfung könnten traditionelle Herrscher und Religionsverteter eine Rolle spielen.

Abuja(KNA). Pauline Tallen bringt es auf den Punkt: „Es ist zum Albtraum geworden. Babys, die erst drei Monate alt sind, werden ebenso wie alte Frauen vergewaltigt. So schlimm ist die Lage“, sagte die Nigerias Frauenministerin am 6. August bei einer virtuellen Konferenz. Im Juli sprach sie von mindestens 3.600 Vergewaltigungsfällen, die während des Lockdown zur Eindämmung des Corona-Virus angezeigt wurden. Die Dunkelziffer dürfte aber um ein Vielfaches höher liegen. Nigeria hat 200 Millionen Einwohner. „Es ist eine Pandemie in der Pandemie“, so die Ministerin.

Vor allem junge Frauenrechtsaktivistinnen hatten das in den vergangenen Wochen durch Proteste deutlich gemacht – meist in Sozialen Netzwerken, mitunter auch auf der Straße. Mittlerweile haben alle 36 Gouverneure in ihren Bundesstaaten den Ausnahmezustand bezüglich geschlechtsspezifischer Gewalt verhängt. Doch in den lokalen Medien wird täglich über neue Fälle berichtetM aus allen Regionen, ohne Ausnahme.

Eine Gemeinschaftsinitiative der EU und der Vereinten Nationen setzt jetzt auf Vertreter von Kirchen und Moscheen und auf traditionelle Herrscher, die im Land bis heute einflussreich sind. „Sie haben eine wichtige Rolle“, so Comfort Lamptey, Nigeria-Repräsentantin der UN-Einheit für Gleichstellung und Ermächtigung der Frauen (UN Women) – und sie hätten auch mit Abstand die höchste Reichweite und den engsten Kontakt zur Bevölkerung. Bis heute wird ihnen viel Respekt entgegengebracht.

Missbrauch und Vergewaltigung seien eine „unheilige Gewalt“, sagt Sama’ila Mohammadu Mera, Emir von Argungu im Bundesstaat Kebbi. Der Islam spreche sich klar gegen Gewalt an Frauen aus. Daher müssten alle religiösen Meinungsführer die Initiative unterstützen. Nach Einschätzung von Benebo Fubara-Manuel, Präsident des Christlichen Rates von Nigeria, einem Zusammenschluss protestantischer Kirchen, muss wieder mehr über die Würde eines jeden Menschen gesprochen werden. Der Zusammenschluss hat die steigenden Fallzahlen wiederholt angeprangert und kritisiert mangelnde Strafverfolgung.

Tatsächlich haben bisher nur 10 der 36 nigerianischen Bundesstaaten das Gesetz zum Verbot von Gewalt gegen Menschen ratifiziert, obwohl es bereits 2015 beschlossen wurde. Es gilt als richtungweisend, um geschlechtsspezifische Gewalt besser strafrechtlich verfolgen zu können.

Eine Aufarbeitung der Fälle sowie „ernste Strafen“ fordert auch Frank Edet, der für den Obong von Calabar, den traditionellen Herrscher, arbeitet. Das reiche aber nicht aus. Auch dürften die Opfer nicht mehr stigmatisiert werden. Sexuelle Gewalt sei lange als ein Problem innerhalb der Familie gesehen worden. „Immerhin fangen die Menschen mittlerweile an zu sprechen“, so Edet. Vor allem Priester, Pastoren und Imame könnten diese Entwicklung weiter beeinflussen.

Doch es gibt auch Kritik an ihnen. Frauenrechtsaktivistin Aisha Usman aus dem nordnigerianischen Bundesstaat Kaduna, die Opfer von sexueller Gewalt und HIV-Infizierte betreut, prangert regelmäßig an, dass sich Imame und muslimische Gemeinschaften nicht gegen sexuelle Gewalt positionierten. Missbrauchsfälle würden verschwiegen, weil diese eine Schande für die Religion und die Gemeinschaft seien.

Zu Protesten in den Metropolen Abuja und Lagos kam es 2019, nachdem die Fotografin Busola Dakolo öffentlich einen Pastor der Freikirche Commonwealth of Zion Assembly (COZA), der Vergewaltigung bezichtigte. Die Mitglieder der Kirche kommen hauptsächlich aus der jungen städtischen Mittel- und Oberschicht. Sie sei damals noch ein Teenager gewesen. Aus ihrer Klage entstand eine erste öffentliche Debatte über Missbrauch durch Kirchenvertreter. Ein Gericht wies die Anschuldigungen jedoch zurück. Später hieß es dann, der Fall sei verjährt.