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Wie kommen wir zu mehr weiblichen Gelehrten?

Ausgabe 295

Foto: Bret Hartmann, TED

(Qarawiyyin Project). Man braucht wirklich mehr weibliche Gelehrte – diese Aussage ist immer wieder in muslimischen Gemeinschaften des Westens zu hören. Egal, ob es sich um eine Organisation auf der Suche nach einer Sprecherin handelt, oder um eine allgemeine Diskussion, die den Mangel an Wissen unter Muslimen beklagt: Die Bedeutung der Wissenschaft für Frauen wird regelmäßig als Faktor für die Bekämpfung der Probleme der muslimischen Gemeinschaft weltweit erwähnt.

Obwohl seit einiger Zeit häufiger beklagt: Die Gründe für den Mengenunterschied zwischen männlichen und weiblichen Gelehrten werden nur selten umfassend angesprochen. Für einige liegen diese simpel in der Mutterschaft, die Frauen an einem Studium hindern würden. Andere sehen ein Defizit bei Frauen, sich Vollzeit mit dem Din zu beschäftigen. Die mehrschichtigen Ursachen hinter diesem Phänomen sollten im Detail betrachtet werden, sodass wir bei funktionierenden Lösungen ankommen und unserer Gemeinschaft islamisch ausgebildete weibliche Vorbilder bieten können.

Bei manchen Themen müssen Muslime und Musliminnen dickere Bretter als nötig bohren. Eines davon ist die Möglichkeit und Rolle von Gelehrtinnen. Und das, obwohl historische Quellen deutlich machen, dass angefangen mit den Tagen ‘Aischas, möge Allah mit ihr zufrieden sein, Frauen einen signifikanten Anteil an der Vermittlung von Wissen hatten.

Einen historischen Vorläufer dieser Debatte finden wir in Westafrika. Der bekannte westafrikanische Gelehrte und Schaikh ‘Uthman Dan Fodio musste während seiner Lebenszeit mehrfach auf Einwände und rechtliche Fragen zeitgenössischer Gelehrter antworten. In der sich entfaltenden Debatte ging es nicht nur um die Frauenbildung alleine, sondern um die Teilnahme von Frauen am Handel und Berufsleben sowie ihrem ­Betreten des öffentlichen Raumes.

Es ist verpflichtend für eine Frau, so der Gelehrte, sich volles Wissen von ihren religiösen Pflichten wie Gebet, Fasten, Zakat, Hadsch sowie alltäglicheren Dingen wie Handel und Transaktionen ­aneignen müssen. Wenn ihr Ehemann nicht in der Lage sei, sie mit dem nötigen Wissen zu versehen, besteht für sie die islamische Pflicht, auf der Suche danach ihr Haus zu verlassen. „Verweigert er ihr die Erlaubnis“, sagt der Schaikh kategorisch in „Irschad“, dann sollte sie „ohne seine Erlaubnis hinausgehen“. Weder könne eine solche Frau dafür kritisiert werden, noch unterlaufe ihr dabei eine falsche Handlung. „Die Autorität sollte den Ehemann zwingen, seiner Frau Bildung zu verschaffen, so wie sie ihn zwingen sollte, sie zu versorgen. Nein, Wissen ist höherrangig.“

In einem Zeitalter, in dem die Reputation der Beredsamkeit eines Sprechers oft vor seinem Wissen kommen, ignorieren wir häufig den Aufwand an Bildung und Anstrengung, den Gelehrte in das Studium des Islam investieren.

Die Leute des Wissens widmen Jahre ihres Lebens für islamische Wissenschaften und reisen oft ins Ausland. Das ist ein Engagement, das zumeist in ihrer Jugend – ob an Universitäten, kleineren spezialisierten Einrichtungen oder bei einzelnen Lehrern – stattfindet, um ihre Fachkenntnis zu schärfen. Viele solcher Einrichtungen und Individuen finden sich in der muslimischen Welt. Der Umzug in solche Länder stellt die Beteiligten häufig vor zahlreiche Herausforderungen – angefangen von der Lebensgestaltung über die Anpassung an eine neue Kultur bis hin zur Intensität des Studiums.

Wenn das Leben eines Gelehrten von dieser Perspektive aus betrachtet wird, ist es offenkundig, warum es bisher weniger Gelehrtinnen gibt. Viele muslimische Einrichtungen des Lernens bieten weniger Möglichkeiten für Frauen als für Männer. Der lineare Prozess des Studiums ist oft nicht flexibel genug für viele Frauen, die Familie haben.

Von den vier wichtigsten islamischen Universitäten in Saudi-Arabiens ist keine zugänglich für alleinstehende Musliminnen aus dem Ausland. Die Fakultät von Medina hat keine Abteilung für Frauen, während das Dar Al-Hadith gute Arabischkenntnisse voraussetzt. Frauen ­können einen Studienplatz an der Umm Al-Qura-Universität beantragen. Sie brauchen dafür aber bisher einen männlichen Verwandten (arab. mahram), der mit ihnen reist und während des Studiums bei ihnen bleibt. Für die allermeisten Aspirantinnen sind das unpraktische ­Bedingungen.

Die renommierte Al-Azhar in Ägypten hat kein Arabischprogramm, was sie unzugänglich für Frauen macht, die die Sprache noch nicht beherrschen. Viele Universitäten in Syrien, die in der Vergangenheit Frauen aufnahmen, sind wegen des langjährigen Konflikts keine Option mehr. Während es im Westen Madrassen gibt, die vom asiatischen Subkontinent stammen, sind ihre Möglichkeiten für Frauen deutlich geringer als für Männer. Diese Institutionen bieten nur eingeschränkte Möglichkeiten für Frauen, die islamische Wissenschaften studieren möchten. Lernzentren in nordafrikanischen Ländern wie Marokko oder Mauritanien blühen weiterhin. Für Frauen aus dem Westen ist es allerdings häufig schwierig, sich in ihnen zurechtzufinden. Insbesondere, weil sie Arabisch voraussetzen.

Auch wenn sich die Lage in einigen Ländern langsam ändert, bleibt ein Studium in jungen Jahren ein Traum vieler Frauen. Viele entscheiden sich, zu warten, bis sie verheiratet sind, um Wissen auf diese Weise zu suchen. Stattdessen studieren viele im Rahmen ihrer Möglichkeiten daheim bei lokalen Einrichtungen oder über Onlinekurse.

Später im Leben stellt der lineare Ablauf der islamischen Bildung, wie er heute gelehrt wird, Hindernisse für Frauen mit mehreren Verantwortlichkeiten dar. Und hindert sie erneut daran, solche Vollzeitkurse zu besuchen. Betrachten wir die Frage ganzheitlich, dann ist ein Mangel an Gelehrtinnen in unseren Gemeinschaften zu erwarten. Und das ist kein Fehler auf Seiten der Frauen. Wenn überhaupt, dann zeigt diese Situation, dass der heutige institutionelle Ansatz in Hinsicht auf Wissen für weibliche Suchende nach Wissen nicht förderlich ist.

Neben der geringen Menge an ausgebildeten Musliminnen in den islamischen Wissenschaften werden sie auch in geringerem Maße gehört als ihre männlichen Widerparts. Nichtsdestotrotz gibt es längste eine Reihe muslimischer Frauen, die den Din studiert haben. Und sie sind entschlossen, ihr Wissen zum Nutzen der muslimischen Gemeinschaft einzusetzen. Und doch begegnet ihnen ein weiteres Hindernis – ein Fehlen an Organisationen und Strukturen, die bereit sind, ihnen eine Plattform zu bieten.

Das heutige Gebiet der Wissenssuche begünstigt die Berühmten und verlässt sich auf große Namen, um große Menschenmengen anzuziehen. Im Zeitalter sozialer Medien geht eine aktive Online-Präsenz auch mit Bekanntheit einher. ­Gelehrtinnen, die diese Reputation nicht haben und die keine vergleichbare ­Online-Präsenz betreiben, geraten hier ins Hintertreffen. Ohne bekannte Persönlichkeit oder Social Media-Plattform befürchten Veranstalter, dass das öffentliche Interesse gering ist und dass Geld für einen Veranstaltungsort und andere Ausgaben verschwendet wird.

Und so entwickelt sich ein Teufelskreis. Gelehrtinnen werden in geringerem Maße kontaktiert, um zu sprechen. Dadurch wird ihre Expertise auf ihrem Fachgebiet in geringerem Maße öffentlich. Und so erscheinen sie weniger profiliert, wenn sich die nächste Gelegenheit bietet, eine öffentliche Plattform zu bekommen.

War es das also? Ist es Musliminnen beschieden, Islam nicht auf dem Niveau ihrer männlichen Gegenstücke zu erlernen und auf vergleichbaren Plattformen zu sprechen? Absolut nicht.

Was das Erlernen des Islam angeht, haben die Schwestern selbst die Gelegenheit genutzt, den Din in ihrem eigenen Tempo in einem für sie geeigneten Umfeld zu lernen. In Ermangelung einer ganzheitlichen Reform unserer Institutionen (die auch auf die Agenda kommen sollte) ist dies vorerst die Lösung.

Soweit hörbare weibliche Stimmen betroffen sind, muss unsere Gemeinschaft erkennen, dass sie auch eine Rolle zu spielen hat. Wenn wir wirklich die Bedeutung von gebildeten weiblichen Vorbildern anerkennen, dann müssen wir unser Bestes tun, um Plattformen und Ermutigung für befähigte Frauen unter uns bereitzustellen.

Wir müssen nach gebildeten muslimischen Frauen suchen. Nicht als symbolische Ergänzungen für Veranstaltungen, sondern aus Respekt vor ihrem Wissen und dem Verlangen, dass sie anderen nutzen mögen. Das ist die gleiche Art und Weise, in der wir männliche Gelehrte behandeln sollten.

Das ist eine Chance für populäre muslimische Organisationen, Videoformate, Podcasts und Webseiten, die umfang­reiche Erfahrung von Frauen in der Gemeinschaft zu bemerken und zu finden. Wenn Gelehrtinnen weniger extrovertiert sind – ob aus Scheu oder einem Mangel an Erfahrung –, dann brauchen sie Unterstützung und Gelegenheiten, die sie andernfalls nicht erhalten. Diejenigen, die bereits über eine große ­Plattform verfügen, sollten es sich zur Aufgabe machen, qualifizierte muslimische Frauen zu präsentieren, sie zu „lancieren“ und dabei zu unterstützen, ihr Fachwissen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Allah, der Erhabene, sagt im 71. Vers von At-Tauba (Sure 9): „Die gläubigen Männer und Frauen sind einer des anderen Beschützer. Sie gebieten das Rechte und verbieten das Verwerfliche, verrichten das Gebet und entrichten die Abgabe und gehorchen Allah und Seinem Gesandten. Sie sind es, derer Allah Sich erbarmen wird. Gewiss, Allah ist Allmächtig und Allweise.“

Es gibt viele Probleme in unserer Gemeinschaft, die langfristige und komplexe Lösungen brauchen. Aber die Förderung gebildeter Musliminnen ist keines davon.

Aisha Hasan ist Gründerin von Qarawiyyin Project. Als graduierte Ökonomin ist sie auch Nahost-Forscherin. Darüber hinaus studiert sie islamische Wissenschaften und unterrichtet Qur’an. Sie war in den letzten zehn Jahren in ihrer Gemeinschaft aktiv, trat in Fernseh- und Radiosendungen auf und hielt Vorträge zu wichtigen Themen für muslimische Jugendliche.