Das Imaret: Der Schlüssel zum muslimischen Gemeinwesen

Ausgabe 89

(iz). Im Jahre 1332, während der Herrschaft des Khalifen1 Sultan Orhan Gazi Pascha, wurde die Stadt Iznik [das antike Nicäa] zur neuen Hauptstadt für das blühende muslimische Gemeinwesen, welches von Zentralasien bis nach Osteuropa reichte. Vorher war die Stadt Teil des Byzantinischen Reiches, bis sie vom Khalifen Sultan Osman Gazi Pascha, dem Vater von Orhan, eingenommen wurde. Der legendäre Osman war der Begründer und Ausgangspunkt dessen, was später als Osmanisches Devlet bekannt werden sollte.

Hier in Iznik begann die Einrichtung des ersten Imarets durch den Khalifen Orhan. Bedeutsamerweise wurde in der gleichen Stadt einige Jahre später ein weiteres Imaret von Nilüfer, der Frau Orhans, ins Leben gerufen. Das wichtige Vorbild für dieses Engagement in den sozialen und zivilen Angelegenheiten wurde durch die geehrten Frauen des Propheten, die „Mütter der Gläubigen“, darunter vor allem ‘A’ischa, die bedeutende gelehrte Frau des Islam, in der Frühzeit gesetzt. Diese Frauen waren aktive Teilnehmerinnen am sozialen und politischen Leben Madinas. Ihr Erbe lebte bei anderen bedeutenden Frauen des Islam fort.

Zentren der Fürsorge Die Imarets waren städtische Zentren, die Fürsorge für die Älteren und Armen bereit stellten, genauso wie zahlreiche andere soziale Dienstleistungen, die für die allgemeine Öffentlichkeit von Nutzen waren. Obwohl diese beiden Einrichtungen von der damaligen politischen Führung oder auch einer einflussreichen Ehefrau errichtet worden sind, stellt die Stiftung einer solchen nicht per se eine Funktion von Regierung dar. Eher wurde die Gründung von Städten, inklusive des Baus von Straßen, Kliniken, öffentlichen Bädern und Schulen als „wohltätige Handlungen“ (Sadaqa) um Allahs willen von all jenen, die dazu in der Lage waren, verstanden. Diese Tradition, die vom osmanischen Sultan angenommen wurde, gehörte zu den bedeutenden prophetischen Handlungen.

Freiwillige Spende als Ausgangspunkt Die Gabe einer Sadaqa, die freiwillig um Allahs willen geleistet wird, wurde benutzt, um die Kernbereiche eines Imarets zu bauen: Eine Moschee, neben der ein Markt eingerichtet wurde. Diese Märkte waren manchmal eingegrenzte freie Flächen, die an eine Moschee gebunden waren, aber entwickelten sich zumeist zu großen, bedeckten Hallen und wunderschön gearbeiteten Bazare für den Handel. Angeschlossen an Moschee und Markt waren bei den Imarets eine Madrassa (Schule), eine Klinik, sehr oft auch ein Krankenhaus und beinahe immer eine Suppenküche für die Armen.

Finanzierung der Imarets durch die Stiftungen Die Betriebskosten für diese Einrichtungen wurden üblicherweise durch Auqâf [pl. des arab. Waqf] bereitgestellt. Dies waren Stiftungen, die gezielt Einkommen erwirtschafteten, beispielsweise durch die Vermietung von Immobilien. Diese Einkünfte wurden gezielt für den Erhalt und Betrieb eines Imarets oder auch eines bestimmten Teils davon gestiftet. Ein Waqf konnte zum Beispiel ein bestimmter Obstgarten sein, ein Teil einer landwirtschaftlichen Fläche oder ein Gebäude, welches sich für die Vermietung eignete. Jede dieser Einkommensquellen diente zur Finanzierung einer spezifischen Dienstleistung im Rahmen eines Imarets.

Prophetisches Vorbild Der Erhalt von Moschee und Markt, der Betrieb einer Herberge, in der reisende Händler drei Tage lang freie Logis erhielten (eine vom Propheten hoch gelobte Form der Gastfreundschaft), der Betrieb einer Suppenküche oder eines Badehauses, aber auch der Betrieb von sehr komplexen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Universitäten wurde durch das Mittel der Auqâf erzielt. Die Umwandlung von Eigentum in einen Waqf wurde vom Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, eingerichtet und von seinen Gefährten nachgeahmt. Es war der zweite Khalif, ‘Umar ibn Al-Khattab, der die erste Herberge für reisende Kaufleute, die Madina von außerhalb besuchten, bauen ließ. Die fremden Händler waren drei Tage lang die Gäste von ‘Umars Gastfreundschaft. Sie wurden durch die Erleichterung bei der Unterkunft und die Gastfreundschaft angeregt, nach Madina zu kommen, und die einheimische Gemeinde profitierte somit vom gestiegen Handel der Stadt mit anderen Orten. Neben dem Bittgebet (Du’a) eines Sohnes oder einer Tochter für ihre verstorbenen Eltern und den nutzbringenden Büchern, die ein Gelehrter oder ein Schaikh nach seinem Tod hinterlässt, gehört die Einrichtung eines Waqf zu den Dingen, die Segen mit sich bringen, solange sie in Gebrauch sind. Das Eigentum der Stiftung wechselt von ihrem Stifter dauerhaft zu Allah, während die Verwaltung einem ernannten Wakil (Aufsichtsperson) übertragen wird. Dadurch, dass die Auqâf bis zum Ende der Zeiten festgeschrieben sind, erhalten sie auch den besonderen Schutz von Allah.

Eine der Ursachen für den Erfolg des Islam, gerade in Südosteuropa, war die flächendeckende Errichtung der Imarets. So wurde beispielsweise die Stadt Sarajevo in Gänze als ein Imaret errichtet. Während der Regierungszeit von Sultan Mehmet im 15. Jahrhundert ging die Anzahl der Imarets und der Stiftungen in die Tausende. Die überwiegende Mehrheit dieser Institutionen wurde von normalen, aber wohlhabenden Muslimen ins Leben gerufen, während die Sultane und ihre Familien die bedeutsame prophetische Praxis vorlebten und durch den Bau neuer Imarets Beispiele setzten.

Der gesellschaftliche Nutzen, den die Stiftung der Imarets nach sich zog, war beträchtlich. Derjenige, der die Stiftung ins Leben rief, übergab deren Leitung dem Wakil, der als leitender Verwalter wiederum ein Gehalt für die Erfüllung seiner Aufgaben erhielt. Die Abläufe in dem Waqf beziehunsgweise dem Imaret wurden von einem Richter (Qadi) überwacht, wie dies im islamischen Recht und der Lebensweise der Leute von Madina festgelegt worden war. Mit dem Wachstum der Imarets wuchs die Anzahl der Arbeitsplätze in den jeweiligen Gemeinden und Städten. Mit der Ausbreitung des Islam wuchs auch die Anzahl dieser Einrichtungen, und muslimische Städte entstanden in Osteuropa, Zentralasien und Afrika.

Ein komplexes Netzwerk Innerhalb des Netzwerkes der Imarets entstanden komplexe Aufgaben und Gewerke. Der Handel und Künste sowie Berufsgruppen wie die der Ärzte wurden darüber hinaus durch die Bildung von Gilden und Zünften gestärkt. Diese Gilden waren ein wichtiger Bestandteil des sozialen Modells der Muslime: Sie setzten Qualitätsmaßstäbe, genauso wie sie Unterstützung und Hilfe für ihre Mitarbeiter bereit stellten, die von der Berufsausbildung für junge Auszubildende bis zur Gesundheitsvorsorge und zum Pensionsfond für ältere Mitglieder reichten. Oft wuchsen die Gilden zu starken, autonomen und nicht selten sehr wohlhabenden Körperschaften an, die sich in ihrem Aufbau an den sufischen Tariqats ausrichteten und tiefe Brüderschaft und spirituelle Höflichkeit zum Ziel hatten. Gleiche Regeln für Moschee und Markt Wesentlicher Bestandteil eines jeden Imarets ist – genauso wie der Markt – die Moschee. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Der Markt ist wie die Moschee“, das heißt beide müssen frei zugänglich sein, ohne ein Eintrittsgeld oder besondere Privilegien. Die Moschee muss immer sauber gehalten werden und gut beleuchtet sein, und die Bereiche für die Toiletten und die Gebetswaschungen müssen besonders betreut werden, um Hygiene und Gesundheit zu erhalten. Ähnliches gilt aber auch für den Markt, denn dieser muss gleichermaßen freien Zugang für Käufer und Verkäufer bieten, er muss sauber sein und frei von Korruption, sprich Wucher, Betrug und Ausbeutung. Um diese beiden Geschenke, die den Leuten von Madina vom Propheten gegeben worden sind, kreist die gesamte Wohlfahrt der muslimischen Gesellschaft. Aus diesem Modell entstammt auch das arabische Wort für Gemeinwesen, „Dawla“, eines der arabischen Schlüsselwörter im Qur’an, welches einen periodischen Wechsel, Rotation oder Abwechslung beschreibt und damit den regelhaften Fluss und die Bewegung von Reichtum in der muslimischen Gemeinschaft beschreibt. Von Grundschulen bis zur Universität, von öffentlichen Parkanlagen zu Büchereien, von Gesundheitszentren bis zu Universitätskliniken – die Imarets blühten während des gesamten osmanischen Dawlat bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es war eine Lebensweise, welche verschiedene qur’anische und prophetische Anweisungen miteinander verband. Dazu zählten die Schaffung freier Märkte, um den Menschen einen gerechten Zugang zum Wirtschaftsleben zu ermöglichen, die Einrichtung von Stiftungen, die – nach dem Vorbild Medinas – ein hochkomplexes soziales und wirtschaftliches Netzwerk schufen, sowie die Gilden, die ein Arbeiten jenseits der heute bekannten Parameter der abhängigen Arbeit erlaubten. Ergänzt wurde dieses dynamische soziale Umfeld durch die Tatsache, dass die unterschiedlichen muslimischen Gemeinwesen – es sei denn in Zeiten des Verfalls und des Niedergangs – keine Fiskalstaaten waren, das heißt ihre Basis nicht in einer erzwungenen Steuer- und Abgabenlast hatten.

Wohlfahrt ohne Steuern Das heißt, die Gesellschaften finanzierten sich – anders als heute – nicht durch eine immer größer werdende Abgabenlast, da die islamische Offenbarung nur eine sehr geringe Anzahl von Abgaben verpflichtend macht. Eine allerdings, die Zakat, hat in der qur’anischen Offenbarung den gleichen Stellenwert wie das Gebet. Allerdings dient diese nicht dem Aufbau und Erhalt von staatlichen Strukturen, sondern muss innerhalb kürzester Zeit an die acht im Qur’an festgelegten Gruppen von berechtigten Empfängern verteilt werden. Generell lässt sich sagen, dass in Zeiten des Aufstiegs und der Blüte der Reichtum in den muslimischen Gesellschaften bei den Gilden und Stiftungen lag und die politischen Autoritäten durch die Regeln des islamischen Rechts keinen Zugriff auf diesen hatten.

Während im Augenblick die staatlichen Sicherungssysteme nur noch eine begrenzte Haltbarkeit aufweisen und die private, vom Vermögen abhängige Alterssicherung als einzige Alternative gepriesen wird, haben Muslime ein interessantes Modell in ihrem Erbe. Während die Versicherungskonzerne ihre Einkünfte beinahe ausschließlich in die spekulative Sphäre investieren, gingen die Gilden, denen durch das Eindringen des Kolonialismus ein Ende bereitet wurde, einen anderen Weg. Die Gilden reinvestierten einen Teil der Einkünfte ihrer Mitglieder in ihre Produktion, in Immobilien und in Stiftungen. Damit hatten sie die Möglichkeiten, abgabenfrei alte Mitglieder oder deren Witwen zu unterstützen. Gerade in Zeiten der verbissenen Auseinandersetzung mit einem vermeintlich religiösen und hochpolitischen Bild der Islam in der Öffentlichkeit haben Muslime abseits dieser Kontroverse Angebote für die nichtmuslimische Gesellschaft zu machen. Diese sind in sich ein Aufweis für den eigentlichen Charakter des muslimischen Gemeinwesens als Methode der allgemeinen Wohlfahrt, die ihre Berechtigung nicht aus einer Ideologie, sondern aus der Göttlichen Offenbarung selbst bezieht.

1 Nach dem osmanischen Selbstverständnis (siehe Prof. M. Maksudoglus Arbeit über die osmanische Geschichte) begann das osmanische Khalifat bereits mit dem ersten Sultan und Begründer der Dynastie, Osman Gazi Pascha.