Zwischen Öffentlich und Privat: Anmerkungen zu den Innenhöfen in der muslimischen Architektur. Von Prof. Dr. Omer Spahic

Ausgabe 203

Der Islam war die treibende Kraft, welche die Tradition des Innenhofes in den musli­mischen Kulturen zum Aufblühen brachte. Faktoren wie Geografie, ­Klima und andere lokale Einflüsse traten in den Hintergrund. Sein Stellenwert und die Funktionen spielen eine wichtige Rolle im muslimischen Haus, das seinerseits er Rahmen für die Familie ist.

Mit Innenhöfen sind nicht nur offene Räume im Zentrum eines Hauses gemeint. Nach Ansicht von John Reynolds können sie auch „ein, vielleicht zwei Wände haben, die eine Barriere zum Nachbarhaus oder zur Straße bilden“. Folgende Elemente machen eine Fläche zum Innenhof: Eine – teilweise oder komplette – Öffnung zum ­Himmel hin, Zugang zum Haus, sodass der Hof dessen fester Bestandteil ist und ein vollkommener Ausschluss nach Außen, damit Sicherheit und Privatsphäre gewahrt sind. Ein Raum ist dann ein Innenhof, wenn seine Funktionen die des ­Hauses unterstützen – unabhängig von Größe, Lage und Umriss.

Unser Schöpfer hat bestimmt, dass keine zwei Orte das gleiche Klima haben. Dieses beeinflusst Lebensbedingungen im entscheidenden Maße und so entstand ein Muster aus ­Vegetation, Böden und Wasservorkommen, das sich je nach Region deutlich unterscheidet. Als Bestandteil der Schöpfung kann sich der Mensch nicht den Naturgesetzen entziehen, die die Muster unserer Existenz bestimmen. In Folge ihrer Anpassung an die Herausforderungen der verschiedenen Klimate haben die Völker kulturelle Ausdrucksformen hervorgebracht, die ihnen am besten ­entsprechen – Kleidung, Nahrung, Architektur, aber auch Mentalität und Sprachunterschie­de. Allah sagt im Qur’an: „Und zu Seinen Zeichen gehört die Erschaffung der Himmel und der Erde und die Verschiedenheit eurer Sprachen und Farben. Darin sind wahrlich Zeichen für die Wissenden.“ (Ar-Rum, 22)

Die profunde Vielfalt der Schöpfung ist eine zwingende Wirklichkeit, die weder übersehen, noch oberflächlich betrachtet werden kann. Sie ist eines der deutlichsten Zeichen für Allahs Existenz, Allgegenwart und Allmacht. Imam Al-Ghazali sagte, dass es nichts in der Welt gäbe, was nicht nicht die Einheit Allahs bestätigt. Für das Lesen dieser Zeichen in der Natur braucht es keine äußerliche Reise, sondern eine geistige. Tiere und Pflanzen überleben den jährlichen Kreislauf der Jahreszeiten. Sie haben vielfältige thermale Strategi­en. Von allen Geschöpfen steht dem Menschen die größte Vielfalt solcher Strategien im Umgang mit der Tempe­ratur zur Verfügung.

Es gibt kein standardisiertes Haus. Wenn die Gestaltung von Häusern „importiert“ wird, muss diese „akklimatisiert“ werden, damit sie den jeweiligen Verhältnissen angepasst ist. Gleiche Baupläne für zwei Klimazonen wären so, als würde man in beiden die ­gleiche Kleidung tragen. Hassan Fathy schrieb über die nivellierende Art des Bauens: Der Architekt vergisst „die Umgebung, in der seine Gebäude umgesetzt werden, weil er von neuen und modernen Innovationen fasziniert ist. (…) wenn er vor seiner Verantwortung zurückschreckt und die Umwelt dadurch verletzt, dass er keinen Bezug zu ihr herstellt, hat er ein Verbrechen gegen Architektur und Kultur begangen.“ Volkstümliche Bautraditionen aus aller Welt waren erstaunlich fähig darin, diese Aufgabe zu lösen. Die Nutzung von natür­lichen Vorteilen durch bestimmte Baustile ist eine, dem Menschen inne wohnende Eigenschaft. Salman Al-Farsi, ein bekannter Prophetengefährte, beauftragte einmal einen Baumeister und fragte den Mann, wie er vorgehen wollte. Der Maurer sagte: „Dies wird ein Haus für dich, um dich gegen die ­Hitze der Sonne und dem kalten Wetter zu schützen.“ Abu Muhammad Al-’Aini kommentierte diese Aussage, die im Sahih Al-Bukhari aufgenommen wurde, wie folgt: „Nur solche Gebäude sind echte Häuser, wenn sie ihre Bewohner vor Regen, Sonne und Kälte schützen. Und wenn sie ein Schutz vor der äuße­ren Welt sind.“

Innenhöfe sind im Idealfall Orte der Erholung, an denen sich Gäste und Bewohner an der angenehmen Atmos­phäre erfreuen. Gleichzeitig sind sie Mittel, um Probleme zu beseitigen, die durch bestimmte Wetterbedingungen erzeugt werden. Dank ihrer Struktur, der Pflanzen und des Wassers liefern sie Ventilation und kältere Luft. Im ­Winter sind die Temperaturen in den Innenhöfen generell höher als draußen. Es versteht sich von selbst, dass Bäume im Innenhof effektivere und gesündere Kühlmethoden sind als Klimaanlagen. Die Wirkung der Höfe hängt entschei­dend von deren Geometrie, ihren Baumaterialien und der Bepflanzung ab.

Pflanzen, Tiere, Wasser und frische Luft sind – in ihrer Weltlichkeit – einer­seits Mittel für eine angenehme und entspannende Atmosphäre. Andererseits dienen sie als Erinnerung an himmlische Geschenke und Segnungen. Sie führen – wenn sie richtig verstanden werden – zu einer gesteigerten ­Schätzung für das Transzendente und dienen der Erinnerung der Gegenwart und ­Größe des Schöpfers. Durch den Austausch mit spirituell verstandenen Elementen der Natur kommt der Mensch in einen Zustand, in dem er Allah verherrlicht und preist.

Die Innenhöfe des Islam sind dank ihrer Funktion wie hypnotisierend. Diese ist genauso prächtig, wie die Werte und Standards, die ihre Grundlage darstellen. Die Form spielt demnach nur eine unterstützende Rolle; sie Form ist ihrer Funktion untergeordnet. Die Funktion des Innenhofs basiert auf der Spiritualität des Islam – die allüberragend ist. Hassan Fathy vertritt die Idee, dass der Innenhof im muslimischen Haus ein „Mikrokosmos“ war, der „Raum mit Zeit, Land mit Himmel durch die symbolische Bedeutung seiner Komponenten“ verbindet.

Muslimische Architektur ist – wie jedes andere Handwerk, dass um Allahs willen betrieben wird – ein Mittel und kein Ziel. Sie ist eine Form der Anbetung. Wer sie betreibt, erhält eine entsprechende Belohnung. Vielleicht ­sagte Sinan – der Architekt von Sultan Sulai­man im goldenen osmanischen Zeitalters und vielleicht einer der größten muslimischen Baumeister – deshalb, dass die Baukunst der schwierigste Beruf ist. Wer sie richtig und korrekt praktiziert, muss laut Sinan gläubig sein. Es ist das kultivierte und verfeinerte innere Selbst des Muslims, dass über ­seine alltäglichen Taten wacht, die nicht im direkten Zusammenhang mit seinen religiösen Verpflichtungen stehen. Es ist sein einzigartiger spiritueller Ort, der einen solchen Muslim die Beziehung zwischen Haus und Raum schätzen lässt.

Im Islam spielt der Schutz der Privat­sphäre eine wichtige Rolle. Genauso wie ein Muslim verpflichtet ist, seine Privat­heit und die seiner Familie zu schützen, muss er die anderer respektieren. Die bewusste Verletzung derselben ist ein schwerwiegender Regelbruch. Muslime sind dazu angehalten, vor dem ­Betreten eines Hauses drei Mal um Erlaubnis zu bitten („O die ihr glaubt, betretet nicht andere Häuser, die nicht eure (eigenen) Häuser sind, bis ihr euch bemerkbar gemacht und ihre Bewohner begrüßt habt. Das ist besser für euch, auf dass ihr bedenken möget! Wenn ihr niemanden darin findet, dann tretet nicht ein, bis man (es) euch erlaubt. Und wenn man zu euch sagt: ‘Kehrt um’, dann kehrt um. Das ist lauterer für euch. Und Allah weiß über das, was ihr tut, Bescheid.“ An-Nur, 27-28). Es wurde beim Bau von Häusern darauf geachtet, dass Innenhöfe oder Dachflächen vor dem ungebetenen Blick anderer geschützt sind. Entweder, indem Nachbarn ihre Häuser nicht ­höher als andere bauten, oder durch den Einsatz von Strukturen, die den Blick von Außen abwenden. Die Zugänge zu einem muslimischen Innenhof dienen als Übergang zwischen privatem und öffentlichem Bereich. Diese Botschaft wurde oft durch eine ungeschmückte, abweisende Fassade unterstrichen.

Die vielfältigen Aktivitäten des Fami­lienlebens und der Erholung, wie sie bereits in den medinensischen Zeiten in den Häusern gepflegt wurden, sind eine natürlich Sache, die im Einklang mit den menschlichen Neigungen stehen. Weil der Islam eine natürliche und pragmatische Religion ist, die den Menschen mit dem versorgt, was in Einklang mit der Logik und der menschlichen Natur steht, kann es nicht verwundern, dass er sich niemals gegen legitime Erholung wandte.

Aus diesem Grund ist eine der grundlegenden Funktionen des Hauses die Bereitstellung eines Rahmens für die menschlichen Aktivitäten, die in ihr stattfinden. Das Haus als künstlerischer und architektonischer Ausdruck und Erfahrung muss als Zeugnis dieser positiven Lebenseinstellung dienen. ­Daher fanden sich in muslimischen Innenhöfen häufig Wasser, Blumen und andere farbige Pflanzen, Vögel, viel Licht und lebendige Dekorationen. Heute werden alte Häuser mit Innen­höfen in Kairo oder Marokko ­liebevoll restauriert und beispielsweise in Museen verwandelt. Sie zählen zu den größten Besucherattraktionen. Die häuslichen Innenhöfe des Islam – insbesonde­re solche wie in der Alhambra – wurden während der Romantik zu Brennpunk­ten der europäischen Sehnsucht nach der vermeintlichen Sinnlichkeit des Orients. In der Regel wurden jene Europä­er von diesen Innenhöfen in ihren Bann gezogen. Dadurch, und durch heimkehrende Kreuzzügler kam das Konzept nach Europa. Sie, und die Gärten des Islam, wurden oft als sprichwörtliche Darstellung der Freuden verstanden, die auf die Gläubigen im Jenseits warten.

Das Phänomen des Innenhofs in der muslimischen Architektur ist faszinierend. Es brachte eine besondere Identi­tät, Charakter und Charme an viele Orte und Regionen hervor, wo der Islam zur Lebensweise wurde und übersandt die Barrieren unterschiedlicher kultureller und geografischer Natur.

Der Geist des islamischen Einheitsdenkens (Tauhid; die Einheit Allahs), aber auch seine führenden Standards und Werte, waren die treibende Kraft, die dem Innenhof in muslimischen Kulturen seine Identität und seine Essenz verliehen. Wegen ihrer strukturellen und funktionellen Flexibilität, aber auch dank ihrer umfangreichen Nutzungsmöglichkeiten, wurden Innenhöfe mit unterschiedlichen Designs nicht nur in privaten Unterkünften eingesetzt, sondern auch in anderen Segmenten der Architektur: Moscheen, Madrassen, Karawansereien und gar bei Grabanlagen.

Diese Innenhöfe haben aufgehört, ihre ursprüngliche Rolle zu spielen, sobald sich die Muslime von den Faktoren entfernten, die zu ihrer Schaffung und Ausarbeitung führten. In einigen Teilen der muslimischen Welt sind sie noch im Gebrauch, obwohl ihre ursprüngliche Funktion stark verzerrt wurde. In anderen Regionen wurden sie insgesamt außer Acht gelassen und sich Alternativen zugewandt, die der Lebens­welt des Tauhid fremd – wenn nicht gar feindlich – sind.

Der einzige Weg, die Rolle und Position des Innenhofs im ­Islam wiederherzustellen, liegt in der Stärkung ihrer ursprünglichen Ursachen, die sie zum integralen Bestand der täglichen muslimischen Praxis machten.