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Aspekte der muslimischen Urgemeinde

Foto: IZ Medien

„Und die vor ihnen (in Medina) und im Glauben ihre Heimat fanden, lieben die, die als Auswanderer zu ihnen kamen. Sie finden in ihrem Inneren kein Bedürfnis nach dem, was jenen gegeben wurde, und stellen sich selber hintan, selbst wenn bei ihnen Kargheit herrscht. Wer bewahrt wird vor seinem eigenen Geiz, der gehört zu jenen, denen es wohl ergeht.“ (Sure 59 Haschr, 9)
„Für Muslime in Deutschland hat die aktuelle Flüchtlingssituation eine ganz eigene Herausforderung. Sie fällt nämlich mitten in eine Zeit der Transformation, des Wandels hinein.“
(iz). Die Frühgemeinde des Islams kannte das Phänomen der Flucht nur zu gut. Drei Mal versuchten die ersten Muslime in Mekka, der allgegenwärtigen Unterdrückung der eigenen Stammesbrüder zu entgehen. Zwei Mal brachen jeweils kleinere Gruppen von Muslimen in das christliche Abessinien auf und suchten dort Zuflucht bei dessen christlichem Herrscher. Schließlich verließ fast die gesamte mekkanische Gemeinde auf Einladung der Einwohner der Stadt Yathrib ihre Heimat, als einer der letzten der Prophet selbst. Seine Flucht aus Mekka und seine Auswanderung nach Medina werden als dermaßen einschneidendes Moment angesehen, dass sie den Beginn der muslimischen Kalenderrechnung kennzeichnen.
Auf diese „Flüchtlingskrise“ in den Jahren nach 622 n.Chr. geht der oben zitierte Vers ein. Nach und nach kamen hunderte Muslime als Glaubensflüchtlinge in diese Stadt, die später ehrenvoll nur noch als „die“ Stadt des Propheten gelobt werden sollte, Medina. Eine staatliche Fürsorge gab es nicht, auch keine Zeltlager und Sammelunterkünfte. Es waren die neuen Muslime in Medina, die mit den Neuankömmlingen ihr Dach, ihren Fladen, Datteln und ihr kostbares Wasser teilten. Einen allgemeinen Wohlstand gab es in der Stadt nicht.
Die, die gaben, hätten nach heutigen Verhältnissen auch selbst nehmen können. Die Neuankömmlinge werden aber nicht einfach nur toleriert, auch der Begriff Respekt käme zu kurz. Sie werden geliebt, nicht mit Neid und Missgunst bedacht. Auch wenn man die Aussagen des Korans als idealisierend ansehen wollte, am Ende war es unter anderem gerade dieser Zusammenhalt in der Not, der aus bisher völlig fremden Menschen eine Gemeinschaft geformt hat.
Auch ohne tiefergehende theologischen Studien kommen die meisten Muslime mit diesem Aspekt der Urgemeinde in Berührung. Die Geschichte der Verbrüderung von Aufnehmenden und Geflüchteten in Medina ist ein gern aufgegriffenes Predigtmotiv. Und der Flüchtling selbst erinnert immer wieder an den Propheten, an seine Gefährten, an ihr Leid und ihre Flucht. Vielleicht erklärt diese Empathie für den Geflüchteten in der eigenen religiösen Tradition die aktuell gelebte Aufnahmebereitschaft zum Beispiel in der Türkei, ohne dass nationalistische oder rassistische Bewegungen – vor denen auch die Türkei ansonsten nicht gefeit ist – Kapital daraus schlagen können.
Für Muslime in Deutschland hat die aktuelle Flüchtlingssituation eine ganz eigene Herausforderung. Sie fällt nämlich mitten in eine Zeit der Transformation, des Wandels hinein. Muslimische Institutionen gibt es in Deutschland mittlerweile seit 50 Jahren – ca. 2.000 kleine und große Moscheegemeinden, Landesstrukturen und Dachverbände. Die Gründung der ersten Moscheegemeinden geht zurück in die 1960er Jahre.
Doch erst in den 1970er und 1980er Jahren kann man tatsächlich von einem wahrnehmbaren Entstehen von Moscheegemeinden sprechen. Landesstrukturen und Dachverbände haben sich erst in den 1980er und 1990er Jahren konsolidiert. Dabei war diesen, fast durchgehend von „Gastarbeitern“ gegründeten, Gemeinden eines gemeinsam: Sie waren nicht für die Ewigkeit gedacht und sollten nur die jeweils aktuellen, praktischen religiösen Bedürfnisse erfüllen.
Die Sesshaftwerdung der Institutionen brauchte noch viel länger, als der Bewusstseinswandel bei denen, die sie errichtet hatten. Erst in den 2000er Jahren setzte ein Prozess ein, der zur Selbstverortung der muslimischen Gemeinschaften als Religionsgemeinschaften geführt und die Perspektive aus den Heimatländern in das hier und jetzt gedreht hat. Im Hier und Jetzt eröffneten sich dabei nicht nur Möglichkeiten und Potentiale, auch Not und Bedürftigkeit wurden sichtbar und nah.
Es war eine folgerichtige Entwicklung, dass sich die muslimischen Gemeinschaften das Thema „Muslimische Wohlfahrt“ auf die Tagesordnung der aktuell laufenden Phase der Deutschen Islam Konferenz gewünscht haben. Die muslimischen Gemeinschaften stehen damit wohl ihrer größten Transformation seit ihrem Bestehen entgegen: der Weiterentwicklung von „nur“ Religionsgemeinschaften mit funktional nicht-ausdifferenzierten sozialen Diensten hin zu Religionsgemeinschaften, die auch Wohlfahrtseinrichtungen für Muslime aber auch für Nicht-Muslime betreiben.
In diese Zeit des Wandels fällt nun das größer gewordene Flüchtlingsaufkommen. Die Gemeinschaften stehen dabei vor der Herausforderung, dass sich zwar ihre eigenen Mitglieder in die Flüchtlingsarbeit einbringen wollen und auch immer lauter eine gesellschaftliche Erwartung eines solchen Einsatzes artikuliert wird.
Jedoch fehlt es den Gemeinden noch immer an den notwendigen Strukturen, um tatsächlich auch institutionell eigenständig Verantwortung im Bereich der Flüchtlingshilfe zu übernehmen. Viele Gemeinden und auch Muslime als Einzelpersonen lassen sich aber von diesen strukturellen Problemen nicht aufhalten. Sie helfen und unterstützen trotzdem, auch wenn sie damit zum Teil weit über ihre eigene Leistungsfähigkeit hinausgehen.
So berichten selbst etablierte Träger der Flüchtlingshilfe, dass sie ohne die freiwilligen, ehrenamtlichen Helfer aus den muslimischen Gemeinden kaum den Betrieb in einzelnen Aufnahme- und Betreuungseinrichtungen aufrechterhalten, erst Recht nicht auf Engpässe und Krisen reagieren könnten. Der näher kommende Fastenmonat Ramadan wird dabei sicherlich wie auch im letzten Jahr noch mehr Kooperationen ermöglichen aber auch notwendig machen.
Dennoch wird dieser ehrenamtliche Einsatz nicht ausreichen. Besonders junge, sozial aktive Muslime sehen in der Flüchtlingshilfe eine Möglichkeit, sowohl ihrem religiösen Anspruch der Fürsorge für den Bedürftigen gerecht zu werden, als auch einen gesamtgesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Und diese sind es auch, die von ihren traditionellen Gemeinden einen weitergehenden Einsatz fordern. Schon aktuell müssen sich immer mehr Gemeinden die Frage stellen, wie sie unterschiedliche Formen der Wohlfahrtsarbeit in ihren Gemeinden strukturell verorten können. Am notwendigen Willen fehlt es nicht, auch die Ressourcen-Frage ist lösbar. Es fehlt jedoch noch immer an Konzepten, wie die bisher rein ehrenamtliche soziale Arbeit in den Gemeinden kanalisiert und professionalisiert werden kann.
Die muslimischen Gemeinden stehen auch angesichts der mehrheitlich muslimischen Religionszugehörigkeit der Flüchtlinge vor neuen Herausforderungen. Einerseits wollen und müssen sie neben ihren bisherigen Mitgliedern auch die religiösen Bedürfnisse der Neuankömmlinge befriedigen. Andererseits geht es aber auch darum, diese in ein mittlerweile traditionell „deutsches“ Gemeindeleben zu integrieren und ihnen als Lotsen für den Start in ihr neues Leben beiseite zu stehen. Dabei gibt es auch für Moscheegemeinden keine Garantie dafür, dass solche Prozesse völlig konfliktfrei ablaufen.
Bis zur Entstehung eigener Einrichtungen, sicherlich auch darüber hinaus, werden auch weiterhin viele an einem sozialen Engagement in der Flüchtlingsarbeit interessierte Muslime bei den etablierten Wohlfahrtseinrichtungen mitwirken. Zu hoffen ist, dass mit diesem gemeinsamen Einsatz im Guten nicht nur ein Beitrag für die Flüchtlinge, sondern auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geleistet werden wird.
Kontakt zum Autor: e.karahan@karahan.net