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„Die Idee einer Rasse ist biologischer ­Unsinn“

Ausgabe 272

Foto: A. Carberry

(iz). Abu Bakr Carberry ist britischer Autor und Naturheilpraktiker. Er wuchs in Guyana (Südamerika) auf, konvertierte vor 30 Jahren zum Islam und betreibt heute eine Praxis in England. Er verbindet die islamische Kosmologie und die europäische Philosophie- und Literaturtradition mit Fokus auf der physischen, sozialen und spirituellen Gesundheit des Menschen, den er als vereintes Ganzes im Einklang mit der Schöpfung versteht. Wir unterhielten uns mit ihm über die Problematik des Rassismus und dessen Implikationen für unseren gesellschaftlichen sowie geistigen Gesundheitszustand.
Islamische Zeitung: Sehr geehrter Herr Carberry, wir leben in einer Zeit, in der wir uns aktiv darum bemühen, Rassismus zu überwinden. Doch gleichzeitig stellen wir fest, dass es immer schwieriger wird, über dieses Thema und grundsätzlich über den Begriff Rasse zu sprechen.
Abu Bakr Carberry: Ich denke, wenn man sich mit etwas auseinandersetzen möchte, dann musst man sich anschauen, was es denn eigentlich ist. Eines der Probleme unserer Zeit ist, dass wir nicht wirklich darüber diskutieren, was Dinge tatsächlich sind. Wir tendieren dazu, uns in etwas hineinzustürzen, ohne genau zu wissen, worin wir uns da hineinstürzen. Konfuzius erklärte es ganz gut. Er sagte, wenn wir nicht die Namen der Dinge korrigieren, wissen wir nicht, womit wir es zu tun haben. Das erste, was wir also tun müssen, ist, Dinge als das zu benennen, was sie sind.
Rassismus war schon immer ein amorphes Konzept. Was bedeutet der Begriff eigentlich? Es ist meist die Tendenz, Menschen nach der Hautfarbe zu kategorisieren und auf dieser Grundlage ihren Wert zu bemessen. Zudem gibt es die Vorstellung, dass es eine biologische Grundlage im Bezug auf die Hautfarbe gäbe, die Menschen in ihrer Intelligenz, oder Spontanität etc. unterscheide.
Diese Dinge haben einen Ursprung. Es ist einfacher, die Sache zu betrachten, wenn wir uns die Bedeutung des Wortes anschauen, und wie es zu unterschiedlichen Zeiten verwendet wurde. Bis zum 17. Jahrhundert bedeutete Rasse „Zunge“, die Sprache, welche gesprochen wurde. So gab es die deutsche, englische, oder französische Rasse, weil es Gruppen gab, die eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Ontologie hatten. Denn unsere Sprache verändert die Art und Weise, wie wir die Welt betrachten. Das wurde identifiziert. Aber als die europäische Wirtschaft und Macht vom Sklavenhandel und der Plantagensklaverei abhängig wurde, gab es einige neue Probleme. Man hatte schwarze Sklaven und weiße Schuldknechte. Europäer wurden vertraglich verpflichtet, sieben bis 12 Jahre lang eine Arbeit auszuüben. Was passierte, war, dass die Schuldknechte noch härter arbeiten mussten, als die Sklaven, weil der Sklave das Eigentum des Besitzers war, und der Schuldknecht nur eine begrenzte Zeit abzuarbeiten hatte. Wenn dieser also bei der Arbeit starb, machte es nichts. Schließlich haben die Sklaven und Schuldknechte also Allianzen gebildet, da sie alle ausgebeutet wurden.
Das wurde zu einem politischen Problem. So wurde aus der Rasse als Sprachzugehörigkeit – die in sich schon vorher einen Hauch von Farbe trug, denn die Griechen sprachen bereits über die Äthiopier als Rasse und meinten damit Dunkelhäutige Afrikaner und Inder – die Rasse als Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hautfarbe. Man hat dieses Nebenmerkmal nun als Hauptmerkmal behandelt. Zu den weißen Schuldknechten wurde gesagt: „Ihr gehört zu uns! Ihr seid weiß, so wie wir!“ Man hat eine weiße Rasse geschaffen. Also hat man die verarmten Weißen in die Position gebracht, über Schwarzen zu walten. Man machte aus Menschen mit einer sehr ähnlichen sozio-ökonomischen Realität Andersartige, die gegeneinander ausgespielt wurden. Daraus entstand das, was wir heute als Rassismus bezeichnen. Dies wurde die Basis, auf welcher weiße und schwarze Menschen sich selbst betrachteten.
Es hatte keine biologische Grundlage, diese entstand erst aus dem Darwinismus heraus. Im 18. Jahrhundert begann die Evolutionstheorie sich zu verbreiten und mit ihr wurde eine rassische Überlegenheit und Unterlegenheit biologisch begründet. Die politische Lage, die man geschaffen hatte, bot eine Grundlage für die Entwicklung der biologischen Theorie. Denn Wissenschaft ist immer auch Geschichte. Viele Intellektuelle der damaligen Zeit haben ihr Geld mit der Investition in den Sklavenhandel gemacht. Die biologische Begründung schuf eine moralische Rechtfertigung für den Rassenbegriff. Man sagte, der Mensch entwickle sich, der unterentwickeltste sei der Schwarze und der am weitesten entwickelte sei demnach der Weiße. Und alle anderen seien dazwischen. Für Christen stellte die Sklavenhaltung ein ethisches Problem dar, mit der biologischen Rechtfertigung entledigte man sich dessen. Bis in die 1970er waren die Enzyklopädien noch voller rassistischer und schlicht dummer Vorstellungen über die sogenannten „wilden Rassen“, wie man sie nannte, im Gegensatz zu den „zivilisierten Rassen“.
Was wir also versuchen, ist, diesen Rahmen, in dem wir die Welt sehen, umzukehren, ohne auf das eigentliche Fundament dieser Welt zu schauen. Die Annahme, dass eine Gruppe oder Rasse einer anderen Gruppe von Menschen beziehungsweise einer Rasse Unrecht angetan habe, und deswegen ihr Unrecht wieder gut machen müsse, oder auch die Begrifflichkeiten und Erklärungen bezüglich unserer Gleichwertigkeit, sind ein ziemlicher Sumpf, in den wir geraten sind. Die Begriffe sind sehr unklar. Oft muss man analysieren, welchen Aspekt wir eigentlich behandeln.
Islamische Zeitung: Wenn wir das alles in Betracht ziehen und unsere heutige Situation anschauen – ist unser Problem, dass wir nicht einmal verstehen, was das Problem ist?
Abu Bakr Carberry: Nein, wir verstehen es nicht. Wir wissen im Grunde nicht, worüber wir da wirklich reden. Wir reagieren auf eine Reihe gesellschaftlicher Realitäten. Es ist ein dialektischer Rückschwung. Wir laufen von einem Ende zum anderen und nehmen diese gegensätzlichen Positionen wahr. Aber die Definition, die im 17. Jahrhundert erschien, hat den weißen Menschen als Weißen und den schwarzen Menschen als Schwarzen definiert. Sie hat die Art und Weise verändert, wie wir uns selbst sehen. Wir sind Teil des selben Kontinuums. Dieses Geschehnis war ebenso schädlich für die Schwarzen, wie es das für die Weißen war. Das meine ich im Sinne der Identität, nicht im Bezug auf die Stellung in der Welt. Die Stellung in der Welt bedeutet, dass den Schwarzen körperlich mehr Leid angetan wurde als den Weißen.
Jedoch gibt es eine versteckte Balance in der Welt, denn Allah ist Al-’Adl, Der Gerechte, und Er sagt: Nichts wird die Balance überschreiten. Als wir das gerechte Maß also also versucht haben, zu überschreiten, setzten wir uns der kosmischen Balance aus und werden seither von Dingen niedergeschlagen, die wir nicht verstehen. Denn in den späteren Jahrhunderten entwickelten sich zusätzliche rassische Ideen, etwa zur arischen oder keltischen Rasse, die gänzlich fiktiv sind. Diese Rassenbgegriffe entfesselten eine Welle von Gewalt, der allein in der Sowjetunion 27 Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen. Ein Krieg, der zum Teil aufgrund der Idee von einer Herrenrasse geführt wurde. Wir sind dieser Sache also nicht entkommen, wir alle werden davon verletzt.
Islamische Zeitung: Was denken Sie, müssten wir also verstehen oder in die Tat umsetzen, um wirkliche Veränderung zu erreichen? 
Abu Bakr Carberry: Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, etwas erreichen zu wollen. Wir müssen uns anschauen, was vorhanden ist. Denn unsere Eile, in dieser Situation handeln zu wollen, hat die Art und Weise verändert, wie wir auf das Problem schauen. Wir wollen einen gewissen Grad an Gleichberechtigung erreichen, sehen aber das wirkliche Problem nicht. Wir sehen die existenzielle Situation nicht, in der wir uns befinden. Wir können nicht einmal richtig schauen. Doch das müssen wir als erstes bewerkstelligen, bevor wir das Problem angehen wollen.
Islamische Zeitung: Wenn wir also sagen, wir müssen schlichtweg allen die selben Rechte einräumen, dann sehen wir immer noch nicht das wirkliche Problem, in dem sich unsere Gesellschaft befindet?
Abu Bakr Carberry: Nein, wir sehen es nicht! Unsere Identitäten beruhen auf einem fundamentalen Irrsinn. Denn sie gründen auf der Vorstellung von Weiß und Schwarz, als hätten diese eine biologische Basis. Die Idee einer kaukasischen Rasse ist vollkommner Unsinn. Es gibt keine genetische Uniformität, die es jemals erlauben würde, so etwas zu behauten. Es ist Nonsens. Wir sprechen über diese Dinge also auf einer absolut fiktiven Ebene. Sie ist nicht einmal mythisch, sondern schlichtweg fiktiv. Dies garantiert, dass wir uns am Ende bloß eine neue erfundene Geschichte ausdenken.
Islamische Zeitung: Welche Rolle spielt hier Aktivismus? Brauchen wir dennoch Antirassismus-Gruppen und was sind ihre Grenzen oder sogar ihre Widersprüche?
Abu Bakr Carberry: Es gibt soziopolitische Probleme, also gibt es Aktivismus. Das ist unaufhaltsam. Die Problematik besteht darin, dass es in der Art und Weise, wie wir die Sache betrachten, keine Lösung gibt. Es kann sie nicht geben, denn die Idee einer weißen Rasse und einer schwarzen Rasse ist biologischer Unsinn. Was wir haben, ist eine Kastengesellschaft, diese Tatsache müssen wir akzeptieren. Und in dieser Kastengesellschaft entscheidet Ihre Hautfarbe über Ihre Kaste.
Islamische Zeitung: Was war vor diesem Begriff? Gab es eine andere Art, unterschiedliche Menschen zu betrachten? 
Abu Bakr Carberry: Ja, es gab andere Arten, wie Menschen sich und andere verstanden haben. Das Dilemma, in dem wir uns befinden, ist, dass ein Konstrukt gebildet wurde, das besagt, es gäbe hellhäutige, weiße Europäer und dunkelhäutige, schwarze Afrikaner als die zwei extremen Gegensätze, und alle anderen nehmen irgendwo zwischen diesen beiden ihren Platz ein. Der einzige Weg heraus aus dieser Situation ist, dass wir unsere Identitäten überprüfen. Denn der Weg, den wir eingeschlagen haben, hat uns allen geschadet, Weißen sowie Schwarzen.
Islamische Zeitung: Was wäre ein gesunder Weg, Identität zu definieren?
Abu Bakr Carberry: Identität ist nie etwas, das man definiert. Identität ist das, was man tut. Wie man lebt, ist, was man tut.
Islamische Zeitung: In welcher Weise hat unser Identitätsbegriff den Weißen geschadet? 
Abu Bakr Carberry: Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges beschrieb ich bereits. Wenn man sich die USA anschaut, sieht man, dass es eine große schwarze Unterschicht und eine noch größere weiße Unterschicht gibt. In einer bourgeoisen Gesellschaft gibt Rasse eine weitere Möglichkeit zur Unterscheidung. Die Schwarzen sind demnach die untersten in dieser Gesellschaft, also muss der Weiße wenigstens noch ein wenig besser sein als der Schwarze. Auch wenn er selbst bitterarm ist, muss er sich dennoch als etwas Besseres fühlen als der Schwarze. Also muss der Weiße trotzdem auf der Seite der Weißen stehen, selbst wenn die berühmten Ein-Prozent der Superreichen absolut zu seinem Nachteil handeln.
Die armen Weißen werden garantiert fast immer auf deren Seite stehen, auch wenn es gegen ihre Interessen ist. Weiße und Schwarze hatten deswegen immer eigene Gewerkschaften, sie haben sich bis in die 60er Jahre nie zusammengeschlossen. Industrielle haben es geschafft, beide die selben Jobs ausüben zu lassen, mit den selben wirtschaftlichen und sozialen Problemen, sie aber dennoch gegen einander auszuspielen. Anstatt, dass sie sich zusammentaten und die eigenen Interessen gegenüber den Industriellen vertraten, haben sie es erlaubt, von einander getrennt zu werden. Denn das Konstrukt Rasse und Rassismus brachte sie dazu, sich als so fundamental anders als den Anderen zu betrachten, dass es unmöglich war, sich zu verbünden. Dies änderte sich durch die Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre, jedoch erleben wir heute eine rassistisch begründete, dialektische Gegenreaktion.
Dabei gibt es in den USA Gegenden der weißen Unterschicht, in denen es den Leuten noch schlechter geht als jenen in den schwarzen Armenvierteln. Jedoch wird darüber kaum gesprochen. Manchmal sieht man Filme oder Musikvideos dazu, über die Trailerparks, oder das Phänomen Eminem. Jemand wie er verdeutlicht, dass die Menschen vor denselben sozio-ökonomischen und politischen Herausforderungen stehen, sie werden aber durch die Rasse von einander getrennt gehalten. Das ist die Situation in den USA, und sie ist sehr spezifisch. Es gibt jedoch andere Regionen, in denen ehemals Sklavenhaltung stattfand, wie etwa Guyana in Südamerika, woher ich stamme, in denen die gesellschaftliche Entwicklung eine andere gewesen ist. Der soziale Kontext spielt dabei eine wichtige Rolle.
Islamische Zeitung: In der Vergangenheit, kurz nach dem us-amerikanischen Bürgerkrieg und der Befreiung der Sklaven, gab es Ansätze, die Armen – befreite Sklaven und Weiße – unter den selben Zielen zu vereinen… 
Abu Bakr Carberry: Exakt. Dies dauerte etwa 30 Jahre lang an. Es änderte sich, weil die Unterteilung der Menschen in Rassen vorher sehr erfolgreich war und weiter erfolgsvorsprechend für diejenigen war, denen sie nutzte. Man schuf wirtschaftliche Gesetze, die dieses Konstrukt weiterhin aufrechterhalten sollten. Weiße konnten mehr Nutzen daraus ziehen als Schwarze, eine sehr simple Politik, aber sie funktionierte. Sie garantierte die politische Unterstützung der weißen Unterschicht gegenüber der weißen Oberschicht. Ihnen wurde die Möglichkeit, Hauseigentümer zu werden, sprich Hypotheken aufzunehmen, vereinfacht, während sie Schwarzen weitestgehend verwehrt blieb. So schuf man weiße Vorstädte und schwarze Ghettos. Daraufhin beschuldigte man die Schwarzen, selbst Schuld an ihrer Armut zu sein, und behauptete, die Weißen seien reicher, weil sie intelligenter seien. Diese Vorstellungen trugen zur Fortsetzung des Rassenbegriffes bei.
Martin Luther King beklagte etwa, dass die US-Regierung Kredite und Ausbildungen für skandinavische Einwanderer schuf, während die amerikanischen Schwarzen diese nicht erhielten. In all dem wird über die weiße Unterschicht größtenteils geschwiegen und diese Menschen fühlen sich isoliert und werden wenigstens mit anderen Weißen solidarisch sein wollen, wenn es um politische Fragen geht, selbst wenn es an ihrer Realität vorbeigeht. All dies sind sozio-ökonomische und politische Kontrollmechanismen.
Dann haben wir all die intellektuellen Bewegungen, die sich daraus entwickelten, die bloß das Bestehende bekräftigten. Wir hatten im 19. Jahrhundert Pan-Europäismus. Als Reaktion darauf hatten wir Pan-Afrikanismus, Pan-Asianismus oder Pan-Indianismus. Diese Bewegungen entstanden nicht aus einer wahrhaft eigenen, intellektuellen Reflexion der eigenen Situation, sondern als Reaktion. Also bekräftigen sie bloß das Fortbestehen dieser Art und Weise, die Welt zu betrachten.
Islamische Zeitung: Wenn es also ein europäisches Denken oder Konstrukt gibt und Gruppen von Menschen nur darauf reagieren, selbst wenn es in Opposition hierzu ist – würden Sie dann sagen, dass diese Gruppen im Prinzip das selbe tun, der Sache nur einen anderen Namen geben? 
Abu Bakr Carberry: Ja. Denn die europäische Zivilisation war äußerst erfolgreich. Überall auf der Welt, von Beijing bis Los Angeles, findet man den Kindergarten, die Grundschule, die weiterführende Schule, die Universität etc. Es ist überall das Gleiche. Alle werden nach dem selben Modell erzogen. Es gibt keinen Konfuzianismus mehr, es gibt keine islamische Zivilisation mehr. Sogar die Universitäten der muslimischen Gesellschaften beruhen auf dem europäischen Modell.
Islamische Zeitung: Machen sich diejenigen also etwas vor, wenn sie sich sich gegen das eurozentrische Weltbild aussprechen, aber grundlegend der selben Ideologie folgen?
Abu Bakr Carberry: Sie sind selbst eurozentrisch. Nehmen wir Pan-Afrikanismus. Der Name des Kontinents entstammt einer tunesischen Provinz des Römischen Reiches. Der gesamte Kontinent wurde also nach einer kleinen römischen Provinz benannt. Weil die Europäer sie Afrika genannt haben. Doch die Afrikaner brauchten nie einen Namen für sich, denn „den Afrikaner“ gab es zu dieser Zeit nicht. Es gab Völker und Stämme und Sprachen. Europa existierte zu der Zeit der Griechen genauso wenig. Die Griechen sahen sich nicht als „Europäer“, Alexander der Große war für sie ein Barbare, weil er zu weit aus dem Westen stammt, weil er Mazedone war.
Die Idee, europäisch zu sein, entwickelte sich aus dem Konflikt mit dem Islam. Europäische Identität beruht auf Abgrenzung zu etwas anderem. Sie ist eine Reaktion. Wir haben also eine Tradition erschaffen, in der wir uns immer als Reaktion auf etwas identifizieren, statt tief in uns selbst hineinzuschauen und zu sehen, was eigentlich da ist, was aus uns selbst entsteht. Und das geht weiter und weiter und wir verlieren den Boden unter den Füßen. Europäische Intellektuelle wie Jünger, Nietzsche und Heidegger haben das erkannt. Sie sahen, dass unsere Ordnung in sich zusammenfällt. Wir sind in einem reaktionären Muster gefangen, welches uns nicht erlaubt, auf den Grund unserer Identität zu gehen und zu erforschen, wer wir eigentlich sind und wohin wir gehen.
Islamische Zeitung: Was brauchen wir, unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft, um die Möglichkeit zu schaffen, dass Identität sich aus uns selbst heraus entfaltet?
Abu Bakr Carberry: Wir haben bereits Identität. Menschen, die Englisch sprechen, haben eine gemeinsame Zugehörigkeit. Menschen, die Deutsch sprechen, haben eine gemeinsame Zugehörigkeit. Aber wir haben uns ein Schema gebildet, in dem wir nicht mehr sehen, was wir bereits haben. Meine Hautfarbe ist dunkel, ich lebe in Europa und habe eine jahrhundertelange europäische Abstammung. Und sie ist zugleich eine gemischte Abstammung. Wir müssen uns also über Europa auf dieser Grundlage unterhalten, dass wir alle zunächst gleichartig sind. Irgendwann gelangen wir dazu, dass der eine schwarz oder weiß ist, aber wir müssen dieses Schema durchbrechen, in dem wir uns vorgefertigt nach einem bestimmten Muster betrachten. So sehen wir, was vorhanden ist.
Islamische Zeitung: Ist jemand, der in Deutschland lebt und Deutsch spricht, deutsch? 
Abu Bakr Carberry: Menschen, die Deutsch sprechen, teilen eine gemeinsame ontologische Betrachtungsweise. Denn die Sprache formt ihr Verständnis von der Existenz. Oft haben wir kein Vokabular, um diese Dinge zu diskutieren. Das Problem ist unsere Weltanschauung, und um aus dieser herauszukommen, brauchen wir erst einmal eine Sprache, um darüber sprechen zu können. Wir müssen verstehen, welche Semantik uns geformt hat und ob sie unseren Erfahrungen gerecht wird. Entspricht unsere Semantik nicht unseren Erfahrungen in dieser Welt, so müssen wir neue Begriffe finden, die ihnen entsprechen. Wir sind gefangen in einer Welt, die auf einer fundamentalen Ungerechtigkeit begründet wurde. Sie hat unsere Wahrnehmung wie ein Krebsgeschwür verzehrt. Wir haben Wahnsinn erschaffen, unsere Identitäten sind wahnsinnig. Aus dieser Geisteskrankheit entsteht ein kranker Körper, weil Europa nicht aufnahmefähig ist. Natürlicherweise wird ein Volk, wenn es in eine neue Region kommt, von dieser aufgenommen. Europa hat die Krankheit, dass es Andersartige nicht in sich aufnehmen will, sie nicht verdauen kann, sie nicht als Teil von sich selbst akzeptieren will. Wenn Europa weiß sein muss, dann kann der Schwarze kein Europäer sein. Das ist die mentale Krankheit, an der wir leiden.
Islamische Zeitung: Wir sagen gerne, dass es im Islam keinen Rassismus gibt. Was gibt uns Islam, um diese Krankheit zu heilen?
Abu Bakr Carberry: Wir müssen erst einmal unsren Kufr erkennen. Die Art, wie wir die Welt verstehen, ist Kufr. Iman und Kufr sind immer gleichzeitig in einer Person vorhanden. Wir sind Muslime, weil unser Iman unseren Kufr übersteigt. Dennoch ist er vorhanden. Wir haben dieses Verständnis von der Schöpfung verloren, weil wir die islamische Kosmologie verloren haben. Unser Weltverständnis beruht auf Wahnsinn, auf Krankheit. Islam gibt uns einen Weg, aus der Krankheit heraus zu gelangen, hin zur Gesundheit zu reisen. Vom Kufr hin zum Iman. Wir müssen prinzipiell die Kapazität schaffen, zu sehen, wer uns gegenübersteht und Adab – eine gute Umgangsweise – mit unserem Gegenüber haben. In der Art, wie Allah es befohlen hat, und den Implikationen Seines Befehls. Allah sagt, dass Er uns zu Völkern und Stämmen machte, auf dass wir uns erkennen mögen. Und der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, lehrte uns, dass kein Araber Vorrang vor einem Nichtaraber hat und umgekehrt sowie kein Weißer vor einem Schwarzen und umgekehrt. Wir akzeptieren das als Grundlage unseres Dins, aber wir wollen unseren eigenen Kufr nicht wahrhaben, wenn wir dennoch nach einem anderen Maß bemessen.
Tasawwuf erlaubt uns, unseren Kufr anzugehen und bezüglich dieser Angelegenheit hin zu einer Identität zu reisen, wie sie uns von Allah und Seinem Gesandten, Allahs Friede und Segen auf ihm, gegeben wurde. Das wird nicht Rassismus aus der Welt schaffen, aber es gibt uns die Möglichkeit, uns real mit ihm auseinanderzusetzen. Diese Reise ist alles andere als leicht oder esoterisch. Sie ist ein realer, anstrengender, und oft enorm schwieriger Kampf mit sich selbst.
Islamische Zeitung: Lieber Abu Bakr Carberry, wir bedanken uns für das Gespräch.