(iz). Für die Gläubigen ist der Ramadan der spirituelle Höhepunkt des Jahres. In dem heiligen Monat versteht man das Dasein und zugleich die Bedeutung der Zeit für die Muslime. Die Erfahrung des gemeinsamen Fastens verweist auf die existentiellen, kollektiven und kosmologischen Bezüge der Praxis. Die Fastenden erleben auf der subjektiven Ebene, auf unterschiedliche Weise die Dauer ihrer Fastenzeit, der Beginn und Ende des Ramadan wird dagegen gemeinsam festgestellt. Die dazugehörige Sichtung des Mondes erinnert die Muslime an die faszinierenden, kosmologischen Konstellationen, an die ihr Leben geknüpft ist.
Am Phänomen der Fastenzeit kann man studieren, dass der Umgang mit den zeitlichen Festlegungen unter einem politisch oder wissenschaftlich motivierten Veränderungsdruck stehen. Das Ausrufen des Ramadans ist zweifellos ein Akt der Autorität. In der Moderne zeigt der Staat, so der Soziologe Bourdieu, seine Macht dadurch, dass er „Kalender, Maßeinheiten und Curriculum“ der Menschen bestimmt und verändert.
Die Sichtung des Mondes unterliegt bis heute dem herrschenden Verständnis von wissenschaftlicher Erkenntnis. Jedes Jahr streiten Muslime über die korrekten Voraussetzungen der Bestimmung des Anfangs dieses Monates. Nach klassischer Auslegung bedarf es hierzu am jeweiligen Ort der Sichtung des neuen Mondes, der Bestätigung der Sinneswahrnehmung durch Zeugen und der Ausrufung durch eine legitime Autorität. Diese lokal ausgerichtete Praxis wird beispielsweise in Ländern wie Marokko oder Südafrika bis heute praktiziert.
In den letzten Jahren hat sich eine wissenschaftlich begründete Meinung durchgesetzt, die anhand abstrakter mathematischer Berechnung den Anfang des Ramadan in Europa feststellt. Diese Methode behauptet, weil sie ohne den menschlichen Faktor auskommt, willkürliche Ergebnisse der Sichtung auszuschließen. Hinzu kommt ein weiterer Vor- oder, je nach Meinung, Nachteil. Die Feierlichkeiten rund um das Ende der Fastenzeit werden nicht mehr am betreffenden Tage ausgerufen, sondern auf Jahre im Voraus planbar.
Die Diskussionen über das Verfahren verweisen auf den grundlegenden Unterschied zwischen subjektiver Sinneswahrnehmung und dem Ideal der wissenschaftlichen Abstraktion. Dem Grunde nach geht es hier um Erkenntnistheorie. Ein Thema, dass die Wissenschaftler und Philosophen schon seit Goethe beschäftigte. Das Betrachten und Nachdenken über das Betrachtete galt dem Dichter stets als eine Einheit. Technische Apparate zum Zwecke experimenteller Erkenntnis, die sich zwischen das Betrachten und Urteilen schieben, lehnte er dabei, wie bekannt, ab. „Die im Wesentlichen einzigen Instrumente, die er zuließ, waren die Sinnesorgane. Der Sinn der Natur, davon blieb Goethe überzeugt, könne sich nur auf sinnliche Weise erfassen lassen“, schreibt Rüdiger Görner hierzu über die geistige Morphologie des Weimarer Dichterfürsten.
Dass wir Muslime es heute nicht mehr für nötig erachten, den Mond mit unseren eigenen, gottgegebenen Sinnen zu sichten – wobei die nun abstrakte Kalkulation auf Bildschirmen das unmittelbare Staunen über die Wunder der Schöpfung ersetzt – ist keine Marginalie. Die Philosophin Hannah Arendt kritisierte den Verzicht auf die Sinneswahrnehmung zugunsten der abstrakten Modelle in ihrem Buch „Vita activa“ als eine Form der modernen Weltentfremdung. Die Genauigkeit, die der Vorteil der rein wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnis zu sein scheint, lässt die Philosophin nicht gelten: „Aber gleich wird sich auch der Verdacht regen, dass unsere Ergebnisse, gerade wegen ihrer verblüffenden Stimmigkeit, weder mit dem Makrokosmos noch mit dem Mikrokosmos das geringste zu tun haben, dass sie vielmehr den Regeln und Strukturen entsprechen, die für uns selbst und unser Erkenntnisvermögen charakteristisch sind, für das Vermögen nämlich, das die Apparaturen und Instrumente erfand – in welchem Falle es wirklich ist, als vereitle ein böser Geist alle Anstrengungen des Menschen, exakt zu wissen und zu erfahren, was immer er selbst nicht ist, und zwar so, dass er ihm unter Vorgabe, ihm die ungeheuren Reiche des Seienden zu zeigen, immer nur das eigene Spiegelbild vorhält.“
Wie immer man sich zu dieser konkreten Debatte positioniert, zweifellos hat die Moderne in verschiedener Hinsicht die ursprüngliche, natürliche Einbettung der Praxis des Menschen in die Zeit längst verändert. Das Faustische, wie es Goethe in das Bewusstsein der Deutschen brachte, ist gekennzeichnet durch ein Zeitregime, ein neues Tempo, verursacht durch die Ungeduld des Menschen und die Erhöhung der Geschwindigkeit aller Abläufe der Alltäglichkeit. Die Gebetszeiten lassen sich heute zwar mathematisch genau berechnen, sie konkurrieren aber mit den Arbeitszeiten und der, von Planung und Berechenbarkeit beherrschten Tagesabläufe.
Die spirituelle Erfahrung der Einheit allen Seins zu bestimmten Zeiten des Tages und der Nacht prägt die Lebenserfahrung der Muslime. Die Freiheit, beziehungsweise die Möglichkeit seine Tätigkeit zu unterbrechen, um zu beten, ist heute eher ein Privileg. Roger Willemsen berichtete in seinen Reiseberichten über die Begegnung mit Muslimen aus Afghanistan. Sie kommentierten lächelnd die Armbanduhr des Schriftstellers mit den Worten: „Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit.“ Man sollte nicht vergessen, dass die Möglichkeit, eine kosmologische Ordnung im Modell der Uhr zu denken, erst im 14. Jahrhundert geläufig wurde.
Jenseits der Fragen der Praxis zeichnet sich in den Reflexionen der Muslime ein neuer Trend ab, das Verhältnis zu Natur und Schöpfung neu zu bestimmen. Dabei spielt die Erkenntnis eine Rolle, dass je abstrakter eine Religion gelebt wird, ihre Bindungskraft sinkt. Den Sinn des Daseins und der eigenen Praxis zu fassen steht dabei in unmittelbaren Zusammenhang mit der Erfahrung der temporalen Dimension. „Das Dasein existiert nicht in der Zeit, sondern es ist zeitlich“, erklärt der Philosoph Martin Heidegger. Dies meint, unser Leben wird nicht primär durch eine externe Zeit bestimmt, sondern bringt die Zeitlichkeit als etwas ihr Zugehöriges gleichsam mit.
Die gemessene Dauer vermittelt nur unvollständig das Geheimnis der Existenz. Die Bedeutung der Lebenszeit erfasst man in ihrem Sinn nur aus der existentiellen Perspektive. Oder, anders ausgedrückt, in den Worten des Isidor von Sevilla (623): „Die Zeit ist nicht als solche zu begreifen, sondern nur durch menschliche Handlungen.“
Das Sein zum Tode, das Bewusstsein über die eigene Endlichkeit, setzt die entscheidenden Parameter und korrespondiert mit der Einsicht, möglichst wenig Zeit zu verschenken. Die Optimierung der Lebenszeit, die Erhöhung der Effizienz der eigenen Leistung sind heute wichtige Ideale, während der Müßiggang und das Zeit vertrödeln, verpönt ist. Wie man aber ein erfülltes Leben im Hier und Jetzt führt, bleibt, man denke nur an die Volkskrankheit Depression, eine offene Frage. Die Erfahrung der Leere, das Nichts, bis hin zur Pein der Langeweile, sah Heidegger nicht nur als sinnlose, negative Grundstimmungen der Moderne an. Er verstand sie im Sinne von elementar-notwendigen Erfahrungen der eigenen Zeitlichkeit und verband damit den Aufruf, die Zeit zwischen Leben und Tod möglichst sinnvoll zu nutzen. Neben dem Arbeitsleben und dem Gewinnstreben, dem Bemühen um das eigene Seelenheil, tritt in der muslimischen Praxis das Engagement in der Gemeinschaft und die Sorge um Andere.
Die geläufige Rede um die „Zeitenwende“, die den politischen Diskurs prägt, gibt heute die Vorlage für neue Zeitfragen. Angesichts der dramatischen Situation fragt man sich, ob die Menschen nicht eher vor einer Zeitmauer stehen und die Krisen unserer Epoche gar eine Endzeit einleiten. Die Mischung aus Klimakatastrophe, Kriegsgefahren und Inflation erinnert an alte Vorstellungen über eine bevorstehende Apokalypse und gipfelt mit dem Zweifel, ob der Mensch überhaupt noch Zeit hat. Ein Schlüssel zur Lösung dieser Fragen ist die Rückbesinnung auf unsere gesellschaftliche, nicht nur individuelle Verantwortung. Die ausgerufene Maxime, weniger Konsum und mehr Verzicht zu üben, fördert dabei die Idee, das eigene Leben und das kollektive Schicksal in eine neue Harmonie zu fügen.
Der Islam ist letztlich ein Regelwerk, das persönliche und kollektive, geistige und materielle Bedürfnisse in einen Kontext setzt. Aus der Beachtung der sozialen und ökonomischen Gesetzlichkeiten ergeben sich das Maß und in letzter Konsequenz der Bedeutungszusammenhang der islamischen Praxis in unserer Gegenwart. Das Ökonomisieren der Zeit, in Termingeschäften, dem Börsenhandel im Sekundentakt, der Spekulation auf die Zukunft prägt bis heute unser Wirtschaftsleben.
In diesem Kontext stellt sich die ökonomische, gleichzeitig ethische Grundfrage, ob man Massen von Geld künstlich schaffen und auf Zeit ohne Gegenleistung arbeiten lassen darf. Die Dynamik der Verschuldung und die Frage des Zinses deuten auf die Grundprobleme unserer Zeit hin. Bisher verfolgt die Politik den Plan große Krisen mit immer mehr Geld zu bekämpfen. Es gilt, was ein Dichter des Mittelalters, Oswald von Wolkenstein, über das Leben sang: „Was helfen die schönsten Pläne, wenn Gott keine Zeit mehr gewährt, sie zu verwirklichen?“