Doch, Mohamed Matar ist ein Imam des Friedens und der Toleranz

Mohamed Matar

(iz). Wenn es keine definierte Anklage gibt, ist eine Verteidigung schwer. Sinnbildlich dafür ist die aktuelle Debatte um einen jungen Imam aus Berlin, Mohammed Matar. Wobei Debatte hier eine großzügig verwendete Bezeichnung sein möchte.
Auf einer offiziellen Gedenkveranstaltung auf dem Breitscheidplatz in Berlin, wo 2016 ein Terrorist mit einem LKW in einen Weihnachtsmarkt raste und 12 Menschen tötete, sprach Mohammed Matar als Vertreter des Zentralrats der Muslime an der Seite von Vertretern anderer Glaubensgemeinschaften; auf Einladung der Evangelischen Kirche.
Matar sprach über Empathie, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Freiheit und Hoffnung. Er machte mehr als deutlich, dass er Extremismus, wie er auch den Terroristen antrieb, als Gift für seine Heimatstadt Berlin betrachtet.
Es ist nicht das erste Mal, dass Matar Stellung zu dem Ereignis und dem Themenfeld allgemein bezieht. Wöchentlich unterrichtet er an einer Moschee in Berlin-Neukölln, der Dar as-Salam, was so viel heißt wie Haus des Friedens, besser bekannt als Neuköllner Begegungsstätte (NBS). Die Unterrichtsstunden werden aufgezeichnet und über „Islam Media” veröffentlicht.
Die Moschee genießt in Bezirk und Stadt einen guten Ruf. Politiker gehen hier ein und aus. Im Vorfeld von Bundestags- oder Kommunalwahlen gibt es hier Podiumsdiskussionen von ranghohen Politikern aus den größeren Parteien. Veranstaltungen der Moschee sind derart gefragt, dass verschiedene Ministerien, Senatsabteilungen Berlins und Bundesprogramme sie direkt oder indirekt durch aus verschiedenen Töpfen fördern. Die Moderation einer Veranstaltung übernahm vor kurzem zum Beispiel auch Winfriede Schreiber, ehemalige Leiterin des Brandenburger Verfassungsschutzes.
Mohamed Matar ist wichtiger Bestandteil der Gemeinde. Er ist der Kopf der Jugend, ein Motor des Ehrenamts. Der hauptamtliche Imam der Moschee, Mohammed Taha Sabri hält große Stücke auf ihn. Man begegnet ihnen oft im Doppelpack. Für seine Leistungen, vor allem in Sachen Dialog und Verständigung wurde Mohammed Taha Sabri bereits der Verdienstorden der  Stadt Berlin überreicht.
Kurzum, das ist eine aktive, in der Gesellschaft verwurzelte Gemeinde mit entsprechender Anerkennung. Umso verwunderlicher wirkt es dann, wenn Mohamed Matars engagiertes Auftreten zum Gedenken der Opfer am Breitscheidplatz als Skandal präsentiert wird.
Am gleichen Tag titelten die Bild und Berliner Ableger B.Z. in einem Artikel von Antje Schippmann und Björn Stritzel synchron über den „Radikal-Imam”. Auch „Die Welt“ beteiligte sich mit einem Artikel an der vermeintlichen Debatte. Neben diesen drei Medien des Axel-Springer-Verlags veröffentlichte nur das rechtskonservative Medium, „Junge Freiheit” etwas dazu.
Der Vorwurf lautete, es handele sich um einen „Islamisten“. Wohlgemerkt, jeder kann in der Praxis als „islamistisch“ tituliert werden, weil es eine theoretische bindende Definition für die Zuschreibung schlichtweg nicht gibt. Sprich, der Begriff wird sowohl für mordende Bestien wie Terroristen verwendet als auch nun für Personen wie Mohamed Matar. Eine Kriminalisierung, die aufgrund einer fehlenden juristischen Definition fast unangreifbar ist. Und deshalb auch untragbar.
Was hat der 28-jährige Mohamed Matar verbrochen? Vermittelte er in seiner Rede auf dem Breitscheidplatz etwa zwischen den Zeilen Extremismus und es ist wachsamen Journalisten aufgefallen? Erzieht er heimlich seine Moscheejugend zu Kriminellen? Nein, mit Matars inhaltlicher Arbeit, mit seinem Auftreten, mit seiner Vita haben die Vorwürfe nichts zu tun. Es ist weitaus banaler.
Die erste Kritik ist diskussionswürdig. Im Mai 2017 veröffentlichte Matar auf Facebook einen Beitrag über ein am Boden liegendes Mädchen, das von israelischen Soldaten umringt ist. Es handelt sich um die 16-jährige Palästinenserin, Fatima Hjaji, die durch 20 Kugeln getötet wurde. Matar schrieb dazu: „So friedlich wie du da zu liegen scheinst, bin ich mir sicher, dass deine Seele gerade jeden Frieden und jede Barmherzigkeit erfährt.” Als sich herausstellte, dass das Mädchen mit einem Messer bewaffnet war, löschte Matar den Beitrag wieder.
Zugegeben, das kann so verstanden werden, als würde hier der Angriff auf israelische Sicherheitskräfte verherrlicht werden. Nur spielt bei der Debatte eine Rolle, dass medial zunächst kein Messer erwähnt wurde. Wichtig ist vor allem aber, dass Matar bei Bekanntwerden dieser Information, Konsequenzen zog. In einer Pressemitteilung der Moschee erklärt Matar, er sei geschockt gewesen von der Brutalität und habe es deswegen gepostet. Er sei aufgrund der Debatte rund um Polizeigewalt in den USA entsprechend sensibilisiert gewesen. Auf Nachfrage betonte er zudem, dass er natürlich auch diese Form von Gewalt verabscheute.
Matars Worte haben für die Urheber der Anklage, die keine ist, jedoch null Bedeutung. Warum, erkennt man am zweiten elementaren Vorwurf an ihn.
Die Moschee, deren Imam er sei, was wohlgemerkt so auch nicht ganz stimmt, stünde der Muslimbruderschaft nahe, heißt es. Dafür wird eine mehrere Jahre alte Einschätzung des Verfassungsschutzes zitiert. Zitiert wird sie von einer selbernannten Islamismus-Expertin, bei den Springer-Medien als „Islamismus-Analystin” vorgestellt, Sigrid Hermann-Marschall. Obgleich ihr die fachliche Qualifikation fehlt, Expertin oder Analysten zu sein, wird ihr Blog, auf dem sie regelmäßig den „Islamisten”-Vorwurf tätigt, als Beginn des Artikels über Matar gehandelt. Dass ein Blog mit derart wenigen Lesern und fehlender fachlicher Seriösität Anklang findet, liegt vielleicht auch daran, dass Hermann-Marschall nachgesagt wird, regelmäßig bei Medien und Institutionen anzurufen, um sich selbst zu empfehlen.
Dass sie sich selbst eines ideologischen Denkens verdächtig macht, zeigt ein Fall aus Frankfurt, über den die „Frankfurter Rundschau“ berichtete. Als Hermann-Marschall dort über „Salafismus in Frankfurt” referieren wollte, veröffenlichten die Sprecher der Frankfurter Jusos Frederik Michalke, Myrella Dorn und Lino Leudesdorff eine Distanzierung zu ihr, in der sie dem SPD-Mitglied vorwarfen, rechtspopulistisch zu sein. Sie habe „keinerlei differenzierte Haltung zum Islam als Religion“. Auch heißt es: „Die Angst vor einer vermeintlichen Islamisierung des Abendlandes schürt sie weiter auf ihrem Blog.“ Die Jusos verwiesen dabei auf Blog-Passagen wie: „Gegen den IS waren die Nazis aber direkt noch eine lebensfrohe Ideologie“.
Das sei eine „erschreckende Relativierung der Naziverbrechen und der Shoa“, ist die Schlussfolgerung. Hermann-Marschall verfüge „entweder über ein bedenkliches Weltbild oder keinerlei Geschichtsbewusstsein“. Die Veranstaltung rücke so in „erschreckende Nähe zur Agitation von Fragida und AfD“. Sigrid Hermann-Marschall, bezeichnete gegenüber der FR die Vorwürfe als üble Nachrede. Ihre Worte seien aus dem Zusammenhang gerissen.
Man möchte ihr zugestehen, dass ihr vielleicht tatsächlich Unrecht getan worden sein kann. Wäre da nicht diese Ironie des Schicksals, dass sie genau jenes Verhalten gegenüber Matar, wie auch gegenüber vielen anderen, an den Tag legt und es nicht merkt.
Der Verdacht, „Islamist“ zu sein, ergibt sich für Leute wie sie und die Autoren bei Bild & Co. offenbar relativ schnell. Und kreativ. Dafür hielt dann nochmal der ebenfalls selbsternannte „Islamismus-Experte” Ahmad Mansour hin, der die Vorwürfe nur wiederholte und entsprechend skandalisierte. Ihm zufolge sei Matar „bisher nur” durch das ihm Vorgeworfene aufgefallen. Inwieweit ein vermeintlicher Experte so etwas in Anbetracht von Dutzenden online frei zur Verfügung stehenden Predigten und Unterrichten Matars behaupten kann, bleibt ein Rätsel.
Qualitative Standards in Sachen Recherche und Beurteilung werden gänzlich vermisst. Wie gesagt, schnell und kreativ.
Angefangen bei der Muslimbruderschaft-Zuschreibung des Verfassungsschutzes, die deshalb unfreiwillig komisch ist, weil der daraus verlautbare Vorwurf, die Moschee und ihre Gemeinde stünden nicht für Demokratie und Toleranz, von den tatsächlichen Aktivitäten und Inhalten der Moschee und ihrer Gemeinde ad absurdum geführt wird.
Wohlgemerkt wird hier der gleiche Verfassungsschutz zitiert, der tief in den NSU-Terror verstrickt war und auch in Sachen Breitscheidplatz-Attentäter viele unaufgeklärte Fragen offen lässt. Um es polemischer auszudrücken: Diejenigen, die tatsächlich eine nachweisbare Nähe zum Attentäter hatten werden im Angriff auf denjenigen zitiert, der sich deutlich gegen Gewalt, Terror und Extremismus jeder Art positioniert, und das nicht nur symbolisch, sondern inhaltlich.
Mohamed Matars echtes Wirken findet keine Erwähnung, es soll verschwiegen bleiben. Es passt nicht ins schwarz-weiße Bild derjenigen, die mit Angst ihr Geld zu machen versuchen. Denn Matar richtet sich gegen Angst. Martin Germer, der Pfarrer der Gedächtniskirche am Breitscheidplatz sagt zum SPIEGEL dazu: “Herr Matar ist mit Sicherheit kein Radikal-Imam – im Gegenteil. Ich habe ihn als ausgesprochen dialogoffen kennengelernt.”
Und so kennt man ihn überall. Nicht, weil er sich so gibt. Oder weil er diesen Eindruck macht. Sondern weil er das ist. Das Klima der Angst und all jene die dazu beitragen legen ein gegenteiliges Verhalten an den Tag. Was nicht passt, wird passend gemacht. Dafür hält dann die Assoziationstechnik hin. Matar predigt Offenheit? Kann gestrichen werden. Matar predigt Offenheit in der Neuköllner Begegnungsstätte. Neuköllner Begegnungsstätte gleich Muslimbruderschaft; Muslimbruderschaft gleich politischer Islam, Matar gleich Islamist. Matar hat nichts verbrochen, aber Matar ist per Assoziation gebrandmarkt. Eine Fantasie. Das ist Kriminalisierung, man spricht auch von Sippenhaft. Zum Leidwesen all der anderen, die sich, so wie Matar, für Offenheit einsetzen.
Passenderweise resümiert Christoph Sydow im SPIEGEL: „Debatten wie im Fall Matar sorgen dafür, dass der Dialog mit muslimischen Gruppen immer schwieriger wird. Aus dem Umfeld des Berliner Senats heißt es, dass sich inzwischen viele Politiker, Behörden und gesellschaftliche Gruppen scheuten, auf Vertreter des Islam zuzugehen – aus Sorge, von Boulevardmedien und Rechtspopulisten als Terrorversteher gebrandmarkt zu werden.”
Mache ich mich denn etwa nun auch als Vertreter freier Presse verdächtig, Islamist zu sein, weil ich auf die schlechte Qualität hinweise und Matar gegen die Vorwürfe verteidige? Die Unlogik der Schuld per Assoziation kennt keine Grenzen. Mohamed Matar, ein Imam der, was jeder nachverfolgen kann, für Menschlichkeit steht, musste das erleben.