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Eine Perspektive des Ausgleichs für den Umgang mit Einsamkeit

Ausgabe 319

Foto: Rawpixel, Freepik.com

(iz). Die nicht erst seit der Pandemie grassierende „Epidemie der Einsamkeit“ stellt einige normative Ansichten unserer Gesellschaft in Frage. Wir geben vor, die Rechte des Einzelnen auf Kosten vieler zu verteidigen. Eine übertriebene Verehrung der individuellen Autonomie hat bei der Suche des Westens nach einer fortschrittlichen Gesellschaft zu Nebenwirkungen geführt.

Ein philosophischer Diskurs, der nur Einzelrechte betont, ohne dass Verantwortung gegenüber dem Gesamten in gleichem Maße aufrechterhalten wird, ist ein Rezept für die Zunahme sozialer Zentrifugalkräfte. Eine kritische Analyse ist hier längst überfällig.

Bis vor relativ kurzer Zeit waren erweiterte familiäre und soziale Netzwerke vital für den Erhalt der individuellen, geistigen und seelischen Gesundheit von Individuen und ihren Gemeinschaften. Einsamkeit als ein soziales Phänomen war praktisch unbekannt.

Eine Studie von Pew Research stellte fest, dass 28 Prozent derjenigen, die mit ihrem Familienleben unzufrieden waren, sich häufig einsam fühlen. Sie besagt auch, dass einer von fünf Amerikanern, der seine Nachbarn nicht kennt, häufig oder zumeist alleine ist. Bei geschiedenen oder unverheirateten Personen ist die Wahrscheinlichkeit von Isolation doppelt so hoch wie bei Verheirateten. Die Zunahme von Depressionen, Angstzuständen und sozialen Störungen ist eine paradoxe Folge.

Im Gegensatz zur Moderne leugnet die islamische Tradition nicht die Existenz einer menschlichen Natur. Vielmehr erkennt sie positive wie negative Impulse an und umreißt einen Pfad, um erstere zu mehren und letztere zu mäßigen. So wird der Mensch von seinen materiellen Sehnsüchten befreit und richtet sein inneres Auge auf Denjenigen, Der seine eigentliche Existenz aufrechterhält. Letzte Zufriedenheit ist das Ergebnis unseres Dienstes an Allah.

Im Islam gilt der Einzelne nicht als abstrakte Einheit, die vom Gemeinwesen ohne Bindung an und Verantwortung gegenüber dem Ganzen getrennt wäre. Im eigentlichen Kern des Arguments für Individualismus steht die Leugnung von Rechenschaftspflicht vis-à-vis dem Göttlichen. Im Islam gilt die Auffassung, wonach der Mensch kein vom Kosmos losgelöster Einzelkämpfer ist, der niemandem verantwortlich ist.

Wir erkennen Rechte und Bedürfnisse des Individuums wie des Gemeinwesens an. Das eine wird nicht auf Kosten des anderen vernachlässigt. Als solcher ist ein Gottergebener (arab. Muslim) nicht jemand, der sich ausschließlich auf eigene Rechte beruft. Vielmehr begreift er seine Verpflichtungen gegenüber anderen sowie die Verantwortung zu Allah.

Das Fundament der muslimischen Gesellschaft bildete traditionell die Familie, die sich zu einem weit verzweigten Beziehungsgeflecht ausweitete. Die Betonung der Aufrechterhaltung von „Silat ar-Rahm“ (der Bande des Mutterleibs) verpflichtet Verwandte in Kontakt zu bleiben. Wir werden ermutigt, Streit und Spannungen zu überwinden. Ähnlich werden wir über die Bedeutung von Nächstenliebe belehrt, wie sie in so vielen Handlungen des Propheten zum Ausdruck kommt; und sogar über etwas so Einfaches wie ein Gruß auf der Straße.

Dies gesagt sind wir nicht davon entbunden, uns mit sozialer Isolation und dem Gefühl von Alleinsein zu beschäftigen. Jegliche Reflexion über Hintergründe lässt sie nicht verschwinden. Und wir müssen uns die Frage stellen, ob und welche Antworten sich in unserer Tradition finden lassen. Unfreiwillige Isolation und Einsamkeit sind etwas anderes als der bewusste Rückzug für Dhikr und Reflexion. Sie haben einen Platz in der Lebenspraxis. Wir alle brauchen Momente, in denen wir mit Allah allein sind. Hier geht es um etwas Anderes: Es braucht die Anerkennung, dass es ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu und Verbindung mit anderen gibt.

Einsamkeit ist ein Gefühl, keine lebenslange Gewissheit. Wenn wir das erkennen und verstehen, wie unser Gehirn Gefühle erzeugt, sind wir der Akzeptanz unserer Erfahrung näher. Nur mit echter Annahme können wir in den richtigen Raum kommen, um mit Einsamkeit umzugehen. Manchmal kann sie bedeuten, dass wir uns unseren Ängsten stellen und nicht vor den innersten Gefühlen davonlaufen.

Wenn man sich einsam fühlt, kann das schmerzhaft, verwirrend und entfremdend sein. Deshalb kann es hilfreich sein, sich zu melden, um eine Perspektive zu gewinnen und Hilfe zu erhalten, bevor der nächste Zyklus ausgelöst wird. Die Pflege neuer Freundschaften und die Kontaktaufnahme mit der Familie sowie alten Freunden gehört zu bewährten Methoden, um Einsamkeit zu bekämpfen.

Kontaktaufnahme muss nicht immer um eigene Bedürfnisse kreisen. Es kann dabei auch um eine Blickverlagerung auf den anderen gehen. Das Dasein für sie ist eine mitfühlende Handlung. Außerdem lenkt das Nachdenken über die Bedürfnisse und Gefühle anderer die Aufmerksamkeit von unseren einsamen Gedanken und Gefühlen. Bei Imam An-Nawawi findet sich dieses Hadith: „Und Allah wird Seinem Sklaven helfen, solange er seinen Bruder (oder Schwester) unterstützt.“