Wie mit Isolation fertig werden?

Ausgabe 319

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„Er ist mit euch, wo immer ihr seid.“ (Al-Hadid, Sure 57, 4)

„Allah ist mit mir. Allah sieht mich. Allah ist mein Zeuge.“ (Wird Sahl At-Tustari)

„Niemand ist eine Insel.“ (John Donne)

(iz). Am 4. Dezember dieses Jahres trafen sich Arbeits- und SozialministerInnen der Bundesländer zu einer digitalen Konferenz. Trotz einer prall gefüllten Tagesordnung behandelten die Behördenchefs eine Herausforderung, die seit Beginn der Pandemiemaßnahmen verstärkt in den Blick gerückt ist: Einsamkeit und Isolation.

Die Bremer Sozialsenatorin Stahmann forderte, der Bund solle zu einem „Einsamkeitsgipfel“ einladen. Durch die pandemiebedingte Isolation habe die Gesundheit vieler gelitten und das Gefühl des Alleinseins mache den Menschen sehr zu schaffen. Andere Nationen sind weiter. In Japan, Großbritannien, Dänemark oder Australien ist das Phänomen zu einem Problem nationaler Tragweite erklärt worden. Und im Vereinigten Königreich gibt es seit 2018 ein „Ministerium für Einsamkeit“.

Stefan Deutschmann, verantwortlich beim Diakonischen Werk Hamburg für Beratung und Seelsorge, berichtet von den Auswirkungen des Moments, an dem Pandemie und Vereinsamung zusammenkommen. Zwischen März und Mai 2021 hätte die Telefonseelsorge 25 bis 30 Prozent mehr Anrufe bekommen. Viele seien „Ausdruck tiefer Einsamkeit“. Ähnliche Erfahrungen machten die restlichen kirchlichen Stellen, die bundesweit telefonischen Beistand anbieten. Nach Angaben einer Sprecherin seien „Alleinsein und Einsamkeit“ zu 24 Prozent der Inhalt während der Betreuungen gewesen.

Eine Epidemie?

Laut einem Teil der Experten, Forscher und Sozialpolitiker erleben wir seit Längerem eine „Epidemie der Einsamkeit“. Das Komitee des Internationalen Roten Kreuzes bezeichnet das Phänomen als „Epidemie im Verborgenen“. Eine Studie im Auftrag des britischen Magazins „The Economist“ stellte im September 2018 fest, dass sich 22 Prozent aller Amerikaner und 23 Prozent aller Briten immer oder häufig alleine fühlten. Mit Beginn der Pandemie hat sich das Problem höchstwahrscheinlich verschlimmert, mit Sicherheit aber verfestigt.

Nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich die psychische Gesundheit in allen, der 22 untersuchten Länder verschlimmert. Nach einem Jahr Pandemie, im Februar/März 2021, gab in Deutschland mit 24 Prozent fast ein Viertel der Befragten an, sich die meiste oder ganze Zeit einsam zu fühlen.

Entgegen der Vermutung, wonach ältere Menschen davon berichteten, verzeichneten junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren einen der größten Zuwächse. Sie fühlten sich „besonders häufig“ isoliert. Der Soziologe Janosch Schobin spricht in einem Interview davon, dass sich in der Pandemie „rund 60 Prozent der 15- bis 30-Jährigen einsam“ fühlten. Es gibt weitere soziale Faktoren: Art und Qualität der Arbeitsverhältnisse, ein etwaiger Migrationshintergrund und ob die Betroffenen in einer Partnerschaft leben oder nicht.

Das Problem Einsamkeit ist älter als die Covid-19-Pandemie und spätestes seit dem letzten Jahrhundert eine Herausforderung. Die Dresdner Psychotherapeutin Astrid von Friesen bezeichnet sie als „Phänomen des 20. und 21. Jahrhunderts“. In den 1940ern machte ein US-Wissenschaftler, der Psychologe René Spitz, auf die Folgen von Kontaktmangel und fehlendem Austausch von Kindern in Waisenhäusern aufmerksam.

Einsam oder isoliert?

Im Alltagsgebrauch werden die Begriffe „Einsamkeit“ und „Isolation“ häufig deckungsgleich benutzt. Das wird von einigen Wissenschaftlern moniert. Vereinsamung sei eher ein Gefühl, das heißt, eine Reaktion unseres seelischen oder physiologischen Wahrnehmungsapparats. Ihr subjektiver Charakter erschwert ein Erkennen. Besser festzustellen ist Isolation – der Mangel an Interaktionen. Obwohl das Alleinsein keine medizinische oder psychologische Diagnose darstellt, steht es in engem Verhältnis zu gesundem (oder ungesundem) Verhalten, körperlichen Beschwerden sowie den Selbstmordraten.

Nach Angaben der Amerikanischen Psychologischen Vereinigung (APA) seien die Daten zur Beziehung zwischen Einsamkeit und menschlicher Gesundheit „belastbar“. Das US-amerikanische Zentrum für Krankheitskontrolle und -prävention (CDC) sieht eine Verbindung des chronischen Alleinseins mit zunehmenden Angststörungen, Depression und Selbstmord. „Einsamkeit bei Patienten mit Herzinsuffizienz war mit einem fast vierfach erhöhten Sterberisiko, einem um 68 Prozent erhöhten Risiko für einen Krankenhausaufenthalt und einem um 57 erhöhten Risiko für einen Besuch in der Notaufnahme verbunden“, erklärt das CDC.

Chronisch einsame Menschen sind einem höheren Krankheitsrisiko ausgesetzt und sterben früher. Neben den erwähnten seelischen Symptomen kommen körperliche Probleme wie Schlafstörungen oder Bluthochdruck hinzu. Von Kontaktarmut verursachte Isolation erzeugt bei Betroffenen ein erhöhtes Stressniveau. Dabei werden Hormone wie Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet. Bei Beobachtungen wurde klar: Es kommt zu vermehrten Entzündungen und zur Schwächung der Immunabwehr. Studien legen nahe, dass anhaltende Einsamkeit das Risiko steigert, an Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz oder Krebs zu erkranken.

Die US-amerikanische Forscherin Julianne Holt-Lundstad nimmt anhand einer Meta-Studie an, dass Menschen mit guten Sozialkontakten seltener krank werden. Diese schützten das Herz und verbesserten unsere Körperabwehr. Ein gesundes Maß des Austausches vermehre die Menge von „Killer-Zellen“, was sich als Prävention einer Entstehung von Krebs erweisen könne. Holt-Lundstad geht so weit, dass sie die Folgen mit Alkoholkonsum oder hohem Übergewicht (Adipositas) vergleicht.

Eine kanadische Studie kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach hätten Interaktionen größere Wirkungen als Ernährung, das Gewicht oder Bewegung. Strittig ist, was Effekt und was Ursache ist. Der Journalist Florian Rötzer verweist in einem älteren Beitrag für „telepolis“, dass das Einsamkeitsgefühl häufig mit schlechteren Lebensverhältnissen und demnach ungesünderen Gewohnheiten einhergehe.

Eine Ursache, warum das Phänomen bisher nicht in der nötigen Stärke ins Bewusstsein gerückt wurde, kommt von Rebecca Shields, einer führenden Vertreterin der Kanadischen Vereinigung für Geistige Gesundheit (CMHA). „Es gibt keine einheitliche Art und Weise, wie die Menschen das erleben, aber man kann sehen, dass ihr Immunsystem geschwächt ist (…). Stress kann zu Schlaflosigkeit führen“, sagt sie. Chronische Einsamkeit sei eine Gefahr für die Volksgesundheit.

Wir leiden, wenn es uns an Gemeinschaft fehlt

Genau wie Stress erfüllte Einsamkeitsgefühl eine Funktion für Menschen in ihrem ursprünglichen Schöpfungszustand (arab. fitra). Es diente als Hinweis auf einen Ausnahmezustand, der gefährlich sein kann. Schädlich werden solche Phänomene, wenn sie sich von akuten Anlässen lösen und chronisch werden.

Nach Ansicht des US-amerikanischen Sozialneurowissenschaftlers John T. Cacioppo konnten sich selbst frühe Menschen einsam fühlen. Für ihn stellt dieses Gefühl eine wirksame evolutionäre Macht dar, welche die prähistorischen Leute mit jenen verband, auf die sie sich für Nahrung, Unterkunft und Schutz verließen. „Wir haben vorgeschlagen, dass sich das Bewusstsein der Einsamkeit als Signal dafür entwickelt hat, dass die eigenen Verbindungen zu anderen ausgefranst oder zerbrochen sind. Und um die Reparatur und den Erhalt der Verbindungen zu anderen zu motivieren, die für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden sowie für das Überleben unserer Gene notwendig sind.“

Der Präsident der Diakonie, Ulrich Lilie, hat am Buch „Atlas der Einsamkeiten“ (2021) mitgeschrieben. Für ihn sei der Mensch ein soziales Wesen. Entwicklungsgeschichtlich mache ihn das zu einem „Herdentier“ mit einer genetischen Neigung zur Gemeinschaftlichkeit. „Normalerweise bedeutet für ihn das unfreiwillige Allein-Sein oder die Isolation biologischen Stress.“

Folgen einer Kultur des Individualismus

Während die Ursache von Einsamkeit häufig dem Zusammenbruch traditioneller Familienstrukturen zugeschrieben wird, blicken die meisten selten weiter. Die wenigsten sprechen den verbreiteten Individualismus und seine Wurzeln in ideologischen Weltbildern an. Bis in die jüngste Vergangenheit waren erweiterte Netzwerke entscheidend für den Bestand der psychischen und spirituellen Gesundheit. Einsamkeit als soziales Phänomen war praktisch unbekannt. Es ist Symptom einer Pathologie. Eine sehr individualistische Kultur, die die Rechte, Bedürfnisse und Ziele des Einzelnen weit über das Soziale stellt, setzt die am stärksten gefährdeten – insbesondere Ältere und Kinder – körperlicher und seelischer Vernachlässigung aus. Im Islam hingegen wird das zeitlose Konzept der menschlichen Natur und des Bewusstseins angesprochen. Das ist unsere natürliche Veranlagung, unsere Fitra.

Der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, hielt seine Gefährten vom einsamen Reisen oder Isolation ab. In seinem Kommentar dazu sagte der bekannte Qur’ankommentator At-Tabari: „Dies ist Entmutigung in Form von Disziplin und Anleitung, da befürchtet wird, dass man allein der Einsamkeit und Isolation erliegen könnte, aber es ist nicht untersagt. Der Alleinreisende in der Wildnis und der alleinstehende Bewohner in seinem Haus sind nicht sicher, der Einsamkeit zu erliegen. Besonders, wenn man von negativen Gedanken und einem schwachen Herzen geplagt wird.“