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Erwartungen an den Machtwechsel: Die neue Regierung verdient eine faire Chance

Foto: Deutscher Bundestag, Tobias Koch

(iz). In seiner Berliner Rede zur Freiheit vor 10 Jahren hat der Philosoph Peter Slotderdijk moderne Gesellschaften als „Stressgemeinschaften“ definiert. Es gehört wohl zu den herausragenden Eigenschaften der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel, dass sie gerade unter Belastung immer souverän und besonnen wirkte.

Insbesondere in der Fluchtkrise 2015 verfiel sie nie der Versuchung, die Gesellschaft zu polarisieren. Ihr berühmter Ausspruch „wir schaffen das!“ hat ihr nicht nur Feindseligkeiten vom rechten Rand eingebracht, sondern auch Zuspruch von der Mitte der Gesellschaft – begleitet von vielen Sympathiebekundungen der Muslime in Deutschland. In den sozialen Medien wurde der Abschied der Kanzlerin von der muslimischen Community beinahe wehmütig kommentiert. 

Auch der neue Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) benötigt für die Formulierung seiner politischen Identität zum Glück kein islamfeindliches Ressentiment. Diese Regierung verbindet soziale, ökologische und liberale Ansprüche, deren Essenz auch Muslime anspricht. Die Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reihe zu verhindern, die Umweltkrise zu meistern und die Wahrung der Bürgerrechte einzufordern, lässt sich aus islamischen Quellen gut begründen. Ob die Koalition in diesen Bereichen wirklich Fortschritte erzielt, werden die nächste Jahre zeigen. 

Sloterdjk hat in der besagten Rede „Stress und Freiheit“ davor gewarnt, die Sorge um die kulturelle Tradition, die Bewahrung der Umwelt oder sozialem Ausgleich nicht bloß den Parteien zu überlassen. Nur mit einer lebendigen Zivilgesellschaft lässt sich das Spannungsfeld zwischen den Individuen und der Gesellschaft spannungsfrei gestalten. Auch in Krisenzeiten muss es möglich sein, anders zu leben, zu glauben, zu denken und zu handeln, ohne von der Mehrheitsmeinung an die Ränder der Gesellschaft gedrückt zu werden. 

Die meisten Muslime lassen sich nicht einfach in das Bild des politischen Gegensatzes von konservativ und liberal einordnen. In den meisten Lebensentwürfen von Muslimen finden sich fortschrittliche und traditionelle Haltungen vereint. Auch wenn einige das Recht unpolitisch zu sein beanspruchen, sind die meisten für ein zivilgesellschaftliches Engagement zu gewinnen.

Vielleicht gelingt der neuen Regierung klarer anzuerkennen, dass Muslime zu den Stützen, nicht zu den Feinden, der offenen Gesellschaft gehören. In diesem Falle wäre ihre Präsenz in den Parteien – entsprechend ihrer gesellschaftlichen Bedeutung – bald keine Ausnahme mehr.