Mehr als einhundert muslimische Gelehrte ­haben das ­Islamverständnis der Terrormiliz IS zurück­gewiesen

Ausgabe 233

„Wann auch immer ihr die schwarzen Fahnen seht, bleibt auf euren Sitzen und bewegt weder eure Hände noch Füße. (…) Sie werden zur Wahrheit aufrufen, doch sie werden nicht die Leute der Wahrheit sein. Ihre Namen werden elterliche Bezeichnungen sein und ihre Zuschreibungen werden zu Städten sein. Ihre Haare werden herabhängen wie die einer Frau. Dieser Zustand wird anhalten, bis sie untereinander streiten. (…)“ (‘Ali ibn Abi Talib)

(iz). Im September richtete eine Gruppe hochkarätiger muslimischer Gelehrter einen offenen Brief an den Führer des so genannten Islamischen Staates, der in den Medien als Abu Bakr al-Baghdadi bekannt wurde. Das Dokument wurde kurz nach seiner Bekanntgabe von mehr als hundert ‘Ulama unterzeichnet. (von Muhammad Bayraktar übersetzt liegt es auf madrasah.de vor)

Der Text zählt zu den substanziellsten Beiträgen über die gewalttätigen Neo-Khawaridsch im Nahen Osten. Es ist wichtig, dass sich die Autoren auf die „Aussagen und Handlungen der Anhänger des ‘Islamischen Staates’, wie sie es selbst in den sozialen Medien verkündet haben, oder auf muslimischen Augenzeugenberichten und nicht auf sonstigen Medien“ berufen hätten.

„Der Text geht in seiner Substanz über die manchmal gebetsmühlenartig vorgetragenen Distanzierungen hinaus. Für alle Muslime, die sich an diesen Debatten beteiligen wollen, ist das genaue Studium dieser Art von Texten ein Muss. Er erinnert an wichtige ‘Standards’, an ‘Logik’ und ‘Denkregeln’; überhaupt an die wesentlichen Voraussetzungen echter muslimischer Jurisprudenz“, kommentierte IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger das Dokument auf seinem Blog. Man komme nach der ersten Lektüre zu dem Schluss, dass wir heute zwar über ausreichend „Politiker“ verfügten, uns aber nur (noch) eine kleine Zahl ausreichend gebildeter Juristen zur Verfügung stünden. „Die ungezügelte Verbreitung von x-beliebigen Meinungen hat dagegen Konjunktur. Die Unterscheidung von politisch-moralischer (der Zweck heiligt die Mittel) und rechtlicher Argumentation gelingt vielen Muslimen so nicht mehr.“

Was den Brief von anderen Dokumenten unterscheidet, ist einerseits seine Substanz und andererseits die Deutlichkeit, mit der sich darin nicht bloß „von Extremismus“ distanziert wird. Vielmehr werden die unzähligen Fehler der wahhabitisch-khawaridschitischen Bewegungen freigelegt. Es ist von Bedeutung, dass die Autoren ihre Untersuchung – und die vorangestellte Kurzfassung – mit rechtsmethodischen Anmerkungen versehen haben.

Was regelmäßig vergessen wird: Die grauenhafte Verzerrung der islamischen Lehre, wie sie uns in den letzten Jahrzehnten begegnete, ist zuallererst einmal die Folge einer falschen Herangehensweise an islamrechtliche Fragen. Insofern betrifft der Brief gewiss nicht nur den „Islamischen Staat“, sondern gilt für alle politisch-militanten Bewegungen. Für Fatawa gebe es strikte subjektive und objektive Vorbedingungen. Für solche, unter Verwendung des Qur’an, könnten nicht „die Rosinen unter den Versen herausgepickt“ werden, ohne Berücksichtigung der Offenbarung insgesamt, sowie der Hadithe, in denen die prophetische Lehre festgehalten wurde.

Insbesondere der Aspekt der prophetischen Sunna, sein vorbildhaftes Lebensmuster und nicht zuletzt seine Person spielen für die geistige Auseinandersetzung und die Zurückweisung extremistischer Lehren eine absolut wichtige Rolle. Wie Schaikh Abdalhaqq Bewley in einer aktuellen Khutba (Übersetzung folgt in unserer nächsten Ausgabe) schlüssig darlegte, seien die Extreme im Islam durch die Abwendung von der Sunna gekennzeichnet.

Abgesehen von einer umfassenden Darstellung der konkreten Fehler in der Ideologie des Islamischen Staates (IS), die grauenhafte, gewalttätige Folgen zeitigt, dominiert die Beschäftigung mit deren Ignoranz den offenen Brief an Al-Baghdadi. Im Qur’an und in der prophetischen Sunna sei auch eine Methodologie angelegt. In jeder Rechtsfrage müsse alles, was zu einer bestimmten Fragestellung offenbart wurde, in Betracht gezogen werden. Man dürfe sich dabei nicht auf einzelne Fragmente beschränken. Nur die Qualifizierten dürfen über „Recht sprechen“ – und zwar „basierend auf allen vorhandenen schriftlichen Quellen“. In ihrer folgenden Abhandlung zur Rechtstheorie und Qur’anexegese zählten die Gelehrten eine ganze Reihe an Bedingungen auf, bevor es überhaupt zur Fällung von Urteilen bei schwerwiegenden Fragen kommen könne. Ähnliches gelte für alle Aspekte, die mit der arabischen Sprache verbunden seien.

Es ist den Gelehrten zu danken, dass sie sich die schmerzliche Mühe gemacht haben, bei jedem der von ihnen abgehandelten Punkte auch die entsprechenden Beispiele an Aussagen oder Handlungen des IS anzuführen. So wiesen die Autoren den Anspruch einer IS-Figur zurück, die im Juli 2014 erklärte: „(…) vergiss alle [Gelehrten] und lies den Koran und du wirst wissen, was Jihad ist.“ Es sei nicht gestattet, so der Brief an Al-Baghdadi, immer von einer „Vereinfachung der Angelegenheiten“ zu sprechen oder einzelne Teile des Qur’an herauszupicken, ohne den gesamten Zusammenhang in Betracht zu ziehen.

Die Stimmen der IS-Bewegung hätten „nicht ansatzweise das Verständnis und Unterscheidungsvermögen wie die geehrten Gefährten und die Imame der frommen Altvorderen (as-Salaf as-Salihin)“, auf die sich der IS angeblich bezieht. Namentlich kritisierten Autoren die Übertreibung, Strenge und den Extremismus der Bewegung. Dabei dürfe nicht vergessen werden, dass die meisten Menschen in der Geschichte den Islam durch herzliche Einladung (Da’wa al-Hassana) angenommen hätten.

Durch den restlichen Text wird deutlich dargelegt, dass das Vorgehen des so genannten Islamischen Staates im totalen Widerspruch zur islamischen Lehre steht – von der Tötung von Unbeteiligten, den Muslimen ihren Islam abzusprechen (Takfir), Schädigung und Missbrauch von Nichtmuslimen, über die Missachtung und Misshandlung von Frauen und Kindern, bis zu Folter, Verstümmelung und die Zerstörung der Gräber von Propheten und den Gefährten des Gesandten Allahs. Schlussendlich, womit das gesamte Konstrukt des IS in sich zerfällt, dekonstruieren die Autoren den Anspruch der Extremisten auf die Errichtung eines „Khalifates“ im Namen der Muslime. Ihre Logik sei dabei so falsch wie absurd. „Nur wir sind Muslime und wir entscheiden, wer der Kalif ist. Wir haben einen gewählt. Wer also unseren Kalifen nicht akzeptiert, ist kein Muslim“, heißt es dazu in dem Dokument.