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Fast nie geht es um theologische Gründe

Ausgabe 255

Foto: Metropolico.org | Lizenz: CC BY-SA 2.0

(iz). Wenn die Welt eine Person wäre, dann bräuchte sie dringend eine Psychotherapie. Jeden Tag präsentieren uns die „Breaking-News“ ein neues Attentat. Anschläge werden live übertragen. Wie in einem Kinosaal sitzt man vor dem Fernseher und spekuliert noch während der Tat, wer was wie dahinter steckt.
Nicht selten verfällt man dabei in Verallgemeinerungen. Immer sind es „die X“ oder „die Y“, die schuld sind. Differenzierte Betrachtungen bekommen kaum noch Beachtung oder werden als Naivität oder Romantik abgestempelt. Populistische Aussagen dagegen, die genauso radikal sind wie die Taten und die Täter, werden als Schablonenlösungen angeboten. Diese „Lösungen“ sind knapp, kurz und einfach. Die Schuldigen sind eine bestimmte Religion, eine bestimmte Ethnie oder eine bestimmte Nation. Je nach Tat ändert sich das.
So sind auch Flüchtlinge öfters im Visier der Polarisierer. Klar ist, dass durch die Flüchtlingsströme kein erhöhtes oder besonderes Terrorrisiko entsteht. Flüchtling zu sein ist kein Faktor, der zu einer Radikalisierung führt. In keiner Studie wird eine erhöhte Gefahr nachgewiesen. Der Anteil der Radikalen unter den Flüchtlingen wird also nicht höher sein als der Anteil unter Nichtgeflüchteten. Anstatt also Sündenböcke zu suchen, soll hier an dieser Stelle analysiert werden, welche Faktoren tatsächlich zu Radikalität und Extremismus führen.
Es gibt viele Faktoren, warum sich Menschen – vor allem Jugendliche – radikalisieren (vgl. Sahinöz, Salafimus, Extremismus und Fanatismus verstehen und handeln). Egal ob rechter, linker oder religiöser Fanatismus, die Muster scheinen gleich zu sein. Die Forschungs- und Beratungsstelle Terrorismus/Extremismus (FTE) des Bundeskriminalamtes stellt fest, dass Rechts-, Links- und Religösextreme in ihrer Radikalisierung die gleichen Muster – wie etwa kaputte und schwierige Familien, Trennungen, Todesfälle, Alkohol, Drogen, Gewalt, Belastungen in der Kindheit, Probleme in der Schule, keine abgeschlossene Ausbildung – aufzeigen, und kommt daher zum Schluss: „In welchem Extremismus diese Personen […] landen, ist letztlich reiner Zufall. Überspitzt gesagt: Ein Islamist aus Dinslaken hätte in Sachsen genauso gut ein Rechtsradikaler oder in bestimmten Stadtteilen Berlins oder Hamburgs ein Linksradikaler werden können.“ (Hart aber Fair: Terror im Namen Gottes – hat der Islam ein Gewaltproblem? – ARD, 11.04.2016). Daher sind auch die Rattenfängermethoden dieser Gruppierungen identisch. Jugendliche werden mit offenen Armen empfangen. Die Muster sind gleich. Nur Namen, Begriffe und Semantik ändern sich.
Fast nie geht es um theologische Gründe. Laut einem Bericht kauften sich Radikale kurz vor ihrer Reise in den Krieg nach Syrien das Buch „Islam für Dummies“ (Hasan M.: What the Jihadists Who Bought ‘Islam For Dummies’ on Amazon Tell Us About Radicalisation). Das heißt, auch wenn es keine Konvertiten sind und sie vorher schon Muslime waren, sind es dennoch „neugeborene Muslime“, die ebenfalls „konvertieren“. Laut Verfassungsschutz gibt es in Deutschland 1100 gewaltbereite Personen aus dem religiösen Milieu. Zum Vergleich: Es gibt 7600 gewaltbereite Linksextreme und 10500 gewaltbereite Rechtsextreme (Tagesschau: Gewaltbereite Extremisten in Deutschland – 11.12.2015).
Stärker „anfällig“ für radikale Gruppen sind männliche Jugendliche zwischen 19 und 27 Jahren. Häufig sind es Teenager, die nach Orientierung und Sinn im Leben suchen, vorher geringe religiöse Bildung hatten und denen Perspektiven und Ziele fehlen. Auch Gefängnisinsassen sind stärker anfällig, da bei ihnen die gerade genannten Faktoren im hohen Maße zutreffen.
Diese Sinnsuche wird verknüpft mit der Sehnsucht nach Geborgenheit, Anerkennung, Vertrauen, Fürsorge und Liebe. Viele Jugendliche erhoffen sich, durch den Anschluss an eine radikale Gruppe die langersehnte familiäre Wärme zu finden. Sie suchen in der Gruppe Geborgenheit. Diese wurde ihnen in der eigenen Familie oder im Freundeskreis verwehrt. Sie erhalten plötzlich eine Wertschätzung und werden wichtig, alles was sie im „vorherigen Leben“ nicht bekamen. Daher fühlen sie sich wieder wertvoll und nützlich. Die Gruppe wird zur Ersatzfamilie.
Aufgrund einer entfremdeten oder Konflikt-Biographie erhalten die Jugendlichen in der radikalen Umgebung eine selbststärkende Identität. Obwohl sie auch hier eine entfremdete Identität, ja fast eine Schizophrenie ausleben, vorspielen und inszenieren, wird dies durch die erfahrene Geborgenheit unterdrückt. Meist dient dann auch die Religion nur als Identitätsstifter. Dass heißt, diese Personen handeln nicht aus tiefstem Inneren oder aus Überzeugung religiös, sondern, weil ihnen Religion eben diese Identität liefert. So bieten radikale Gruppen eine einfache und klare Antwort auf die Identitätssuche vieler Pubertierender an.
Dieser Identitätswandel erfolgt bei Jugendlichen sehr schnell. Einer, der vorher nur geringen Bezug zu seiner Religion hatte, wird binnen weniger Wochen zu einem „Gelehrten“ beziehungsweise verhält sich so, als würden die übrigen Personen die Religion falsch ausleben, während er und seine auserwählte Gruppe die Religion richtig verstanden hätten. Diese sehr schnelle Veränderung ist psychisch fatal und zeugt von einer verzweifelten Suche.
Auch bei einigen Konvertiten spielt die Identität eine Rolle. Manche suchen ein komplett neues Ich. Sie wollen mit ihrem „früheren“ Leben nichts zu tun haben. Daher wollen sie eine Gesamtveränderung, auch äußerlich und namentlich (selbst der Prophet Muhammad hat nur dann die Namen der neuen Muslime ändern lassen, wenn sie eine negative Bedeutung hatten). Diese gänzlich neue Persönlichkeit erhalten sie in radikalen Gruppen besonders leicht. Hier werden sie nicht nur zu Muslimen, sondern ändern alles andere auch, wie Aussehen, Sprache, Kultur.
Die radikale Gruppe bietet zudem Sicherheit. Es gibt ein einfaches Weltbild, das aus Gut und Böse besteht. Alles scheint klar und ersichtlich zu sein. Die Regeln sind deutlich, die Wahrheiten einfach. Diese dichotome Weltsicht ist für viele Jugendliche ein wichtiger Anziehungspunkt, weil sie in der undurchsichtigen modernen Gesellschaft diese Gewissheit nicht haben. Daher bietet ihnen die Gruppe eine Komplexitätsreduzierung.
Bei Eintritt in diese Gruppen wird das Wir-Gefühl gestärkt. Hier finden die Teens Gehör. Hier sind sie willkommen, werden nicht ausgestoßen. Sie gehören dazu. Sie sind wichtig, was zusätzlich das Selbstwertgefühl steigert. Daher ist die Radikalisierung auch eine Reaktion auf Ausgrenzung. Zudem ist der Mensch ein soziales Wesen, das sich in bestimmten Situationen einer Gruppe anpasst, auch wenn es den Werten der Gruppe nicht glaubt. Gruppenzwang, besonders bei jungen Menschen, spielt hier eine erhebliche Rolle. Hinzu kommen Jugendbedürfnisse wie Protest, Abenteuerlust, Zugehörigkeit zu einer Clique. Radikale Gruppen stillen diese. Eigene Symbole wie Sprache, Musik oder Bekleidung machen den Zusammenschluss zu etwas Besonderem.
Ein anderer Faktor, der bei Radikalen – egal ob jung oder nicht – eine immense Tragweite hat, ist das Gerechtigkeitsempfinden. Viele gehen davon aus – auch aufgrund der dichotomen Weltsicht –, dass es nur Ungerechtigkeit in der Gesellschaft gibt. Sie wollen dann mit Hilfe ihrer Leute „die Welt retten“. Ihre Anschläge sollen die Gesellschaft „verbessern“. So fühlen sie sich wie Helden, ihr Selbstwertgefühl steigt. Das Paradoxe ist, dass sie die Gesellschaft durch ihre Anschläge zerstören. Dies wird dann damit legitimiert, dass Einige geopfert werden müssten, damit es besser werde.
Viele Radikale geben an, dass sie sich vor ihrem Eintritt in die Gruppe ungerecht behandelt und diskriminiert fühlten. Negative Erlebnisse in Schule, Arbeit und Familie, Ausgrenzungserfahrungen und Ausschluss verstärken diese Emotionen. Wenn dieser Zustand ein hohes Maß annimmt, verknüpft mit fehlender Geborgenheit, Sicherheit und Vertrauen, suchen sie nach alternativen Wegen, um diese zu erfüllen. Sie lehnen also diese Ungerechtigkeit ab und suchen andere Gerechtigkeitsmodelle. Dies ist der größte Nährboden für Radikalisierungen jeglicher Art. Sie ist verlockend für die, die sich sowieso ausgegrenzt fühlen. Eine Studie über den Radikalisierungsprozess bestätigt dies. Marc Sageman (Leaderless Jihad: Terror Networks in the Twenty-First Century) interviewte 500 Gewalttäter aus Terrornetzwerken. Er kam zum Ergebnis, dass Faktoren wie Bildung oder theologisches Wissen keine Rolle spielen. Das, was zählt, ist das Gerechtigkeitsbedürfnis.
Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 führte ebenfalls eine große Studie durch. Bestandteil waren mehrere Hundert gewaltbereite Extremisten, die, von der Finanzierung bis zum Selbstmordattentat, an terroristischen Aktivitäten beteiligt waren. Das Ergebnis: Radikale sind weder verrückt, noch wurden sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Sie sind religiös eher ungebildet. MI5 schreibt, dass sie große Wissenslücken im Islam haben und daher eher religiöse Novizen sind. Wenn sie älter als 30 Jahre sind, sind sie verheiratet und haben Kinder. Sie sind weder arm und ungebildet noch gesellschaftlich privilegiert. Meistens sind es ehemalige oder aktive durchschnittliche Kriminelle. Drogendealer oder Diebe versuchen durch fanatischen „Glauben“ ihre Sünden wettzumachen. Vergewaltiger oder Schläger zieht die dem Terrorismus innewohnende Gewalt an. Laut der Studie verbreiten und verfestigen auch die Berichterstattungen einiger Massenmedien Vorurteile gegenüber Muslimen, was dann wiederum zu Radikalisierungen führt.
Aus der Studie geht ebenfalls hervor, dass das Internet ein wichtiges Hilfsmittel bei der Verbreitung der Ideologie ist, aber nicht die Hauptrolle in der Radikalisierung spielt. Diese findet letztendlich statt, wenn man Gleichgesinnte in der Umgebung hat. Es sind dann nicht die Imame oder der Moscheeverein, sondern bestimmte Rekrutierer, die zum Extremismus führen. Die Gründe sind laut dieser Untersuchung gefühlte oder tatsächliche Ungerechtigkeiten, Diskriminierungserfahrungen und die Vorstellung, dass ein „Krieg gegen den Islam“ geführt werde.
Allerdings werden solche Ursachen meist im Nachhinein konstruiert, um das eigene Handeln zu rechtfertigen. Insgesamt wird die radikale Szene durch unterschiedliche Faktoren, wie die Mitgliedschaft bei einer (selbsternannten) Elite, den Kampf für eine (angeblich) gerechte Sache, einen Popstarstatus innerhalb der radikalisierten Gruppe, Heiratsvermittlung, klare Regeln, einfache Feindbilder und paradiesische Verlockungen schmackhaft gemacht (Die Welt: Warum ein Mensch zum Terroristen wird – 26.08.2008).
Die Faktoren zur Radikalisierung von Jugendlichen sind soziologischer und psychologischer Natur. Suche nach Sinn, Anerkennung, Geborgenheit, Vertrauen, Fürsorge, Sicherheit, Liebe, Wir-Gefühl, Klarheit, Einfachheit, Reduzierung der Komplexität, Gerechtigkeit und Festigung der Identität sind entscheidende Gründe, warum sich Jugendliche radikalisieren. Vor allem der Gerechtigkeitssinn und die Identitätssuche stehen im Vordergrund.
Kontakt zum Autor: cemil@misawa.de, http://facebook.com/CemilSa, ­twitter.com/Cemil_Sahinoez