Jerusalem: Auch ein Ort für die Begegnung

Ausgabe 271

Foto: Robert Smythe Hichens | Lizenz: gemeinfrei

(iz). Nach den beiden bedeutendsten Stätten des Islam, Medina und Mekka, zählt Jerusalem zu den Orten, die für Muslime in aller Welt von großer Wichtigkeit sind. Muslime nennen den Ort, auf dem sich der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee befinden, „Haram Asch-Sharif“ – „erhabenes Heiligtum“.
Es gibt zwei Hauptgründe, warum ­Jerusalem für sie so bedeutsam ist, obwohl mit Jerusalem, im Gegensatz zu Mekka und Medina, keine rituellen Handlungen verbunden sind: Es war die erste Richtung, der sich die frühesten Muslime bei der Verrichtung ihrer Gebete zuwandten. Von dort, der Al-Aqsa-Moschee, der „entfernten Moschee“, stieg der Prophet Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, in die Himmel auf. Diese Nacht- und Himmelsreise war eines der bedeutendsten und symbolträchtigsten Ereignisse seiner prophetischen Mission.
Über diesen Aufstieg von Jerusalem aus berichtet Allah, der Erhabene, im Qur’an wie folgt: „Gepriesen sei Der, Der Seinen Diener des Nachts von der unverletzlichen Moschee zur fernsten Moschee führte, deren Umgebung Wir gesegnet haben, um ihm einige von Unseren Zeichen zu zeigen. Gewiss, Er ist Der Allhörende, Der Allsehende.“ (Sure Al-Isra’, 1)
Die Propheten und Gesandten begegneten alle dem Propheten Muhammad. Es geschah, als Allah Dschibril entsandte, um ihn eines Nachts von Mekka nach Al-Quds (Jerusalem) zu bringen. Von dort aus stieg er in die Himmel auf, bis er in der Gegenwart Allahs war. Bei dieser unglaublichen Nacht begegneten alle Propheten und Gesandten dem Pro­pheten Muhammad und er führte sie im Gebet. Aus diesem Grund wird er auch der Imam der Propheten und Gesandten genannt.
In den qur’anischen Geschichten über die Propheten (arab. Qasas Al-Anbija) werden in vielen Versen die Gebiete, die sich auf das heutige Palästina beziehen, als „gesegnete und heilige Länder“ beschrieben. Im obigen Vers über den prophetischen Aufstieg zum Himmel wird die Umgebung der Al-Aqsa-Moschee als eine beschrieben, die Allah gesegnet hat.
Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, berichtete über die Begebenheit seiner Himmelsreise: „Mir wurde der Buraq (ein himmlisches Reittier) gebracht, ein großes weißes Reittier, größer als ein Esel, aber kleiner als ein Maultier. Es konnte seine Hufen auf die fernste Grenze seines Blickes setzen. Ich bestieg ihn, bis ich an das geheiligte Haus (Bait Al-Maqdis) kam. Ich band es an jenen Ring, den auch die Propheten vor mir benutzten. Ich betrat die Moschee und betete dort zwei Rak’at.“
Die Übernahme Palästinas fand in der Regierungszeit des zweiten Kalifen des Islam, ‘Umar ibn Al-Khattab, statt. Er ließ den Bau einer neuen, großen Moschee an dem Ort beginnen. Gemeinsam mit dem Felsendom (arab. Al-Qubbat Az-Zahra), der an die Himmelsreise von Muhammad erinnert und unter dem Kalifen ‘Abdulmalik ibn Marwan errichtet wurde, symbolisieren beide Gotteshäuser den besonderen Rang ­Jerusalems für die Muslime.
Anstelle eines sektiererischen Alleinvertretungsanspruches der römischen ­Orthodoxie brachten die Muslime Religionsfreiheit für die unterschiedlichen christlichen Kirchen und die jüdischen Gemeinden. Ab diesem Zeitpunkt lebten Muslime, Christen und Juden in Palästina in Frieden und Harmonie zusammen. Diese Phase dauerte solange an, bis zum Ende des 11. und dem Beginn des 12. Jahrhunderts die Kreuzfahrer Jerusalem erobern konnten. Bei und direkt nach der Erstürmung der Stadt wurden unzählige Muslime und Juden auf teils bestialische Weise getötet.
Traditionell gehörten die Gebiete des heutigen Palästinas, Israels sowie des Waqfes von Jerusalem zum größeren Raum des historischen Syriens. Ka’b Al-Ahbar sagte: „Allah hat Asch-Scham vom Euphrat bis zu Al-’Arisch (das heißt, bis zur ägyptischen Grenze) gesegnet.“ Allah schwört im Qur’an: „Bei der Feige und der Olive, beim Berg Sinai.“ (At-Tin, 1-2) „Die Feige“ bedeutet Asch-Scham, „die Olive“ Palästina, genauso wie der Sinai. All diese drei Dinge repräsentieren Orte, die wiederum für Propheten stehen, namentlich Ibrahim, ‘Isa (Jesus) und Musa (Moses).
Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, nannte Asch-Scham das reinste von Allahs Ländern. Der Ort, an dem Religion, Glauben und Sicherheit in Zeiten der Zerwürfnisse zu finden sind. Und die Heimat der Heiligen (Aulija, die Freunde Allahs), um derentwillen Allah die Versorgung der Menschen und Sieg für die Muslime über ihre Feinde herabsandte.
Die Kreuzfahrer machten aus Jerusalem ihre Hauptstadt und gründeten ein lateinisches Königreich, dessen Außengrenzen sich von Palästina bis nach Antiochia erstreckten. Jedoch konnten sich die Kreuzfahrer in der Stadt nicht lange halten. Salah-ad-Din al-Ajjubi (Saladin) vereinigte alle muslimischen Herrschaftsgebiete der Region unter seiner Kontrolle und besiegte die Kreuzfahrer in der Schlacht von Hattin im Jahre 1187. Am 2. Oktober 1187 betraten er und seine Armee Jerusalem als Eroberer, und für die folgenden 800 Jahre sollte Jerusalem eine muslimische Stadt bleiben. Saladin hielt sein Wort und eroberte die Stadt unter Einhaltung der höchsten islamischen Prinzipien, welche Glaubensfreiheit für andere Glaubensgemeinschaften beinhalten.
Bis in 1917 verblieb Palästinas Hauptstadt unter muslimischer Herrschaft. 1948 nahmen Einheiten des neuen Staates Israel die westlichen Gebiete der Stadt ein und annektierten es als „Westjerusalem“. Der Rest der Stadt, das sogenannte Ostjerusalem wurde 1967 im Rahmen des Sechstagekrieges besetzt. Das Areal mit der Al-Aqsa-Moschee sowie dem Felsendom steht nominell unter der Verwaltung des Waqfes.
1980 wurde Jerusalem von der Knesset zur „ewigen ungeteilten Hauptstadt Israels“ bestimmt. Der Staat führt seit der Besatzung Jerusalems eine schleichende Enteignung palästinensischen Eigentums durch. Die eingesessenen Einwohner­­ ­Jerusalems werden seitdem immer wieder einzeln und kollektiv vertrieben, um neue jüdische Einwanderer sowie Siedler in die Stadt aufnehmen zu können. Menschenrechtsorganisationen berichten von steter Diskriminierung von Christen und Muslimen in Israel. Mittlerweile ist der Stadtrand des östlichen Teils mehrheitlich von einem Gürtel aus Siedlungen umgeben.
Nicht nur die Gegenwart Jerusalems ist kompliziert. Die heutige Metropole war über Jahrhunderte hinweg ein Ort der Begegnung. Trotz der einzelnen ­Perioden der Unterdrückung, bleibt die Stadt ein Symbol des Miteinanders. Es ist Zeit, sich auf dieses freiheitliche Jerusalem zurückzubesinnen, anstatt sich weiter abzugrenzen. (lm/tb/ak)