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Mein Herz ist in Bosnien geblieben

Ausgabe 350

Marš Mira bosnien
Foto: Adna Kovač

Über den jährlichen Gedenkmarsch Marš Mira in Bosnien: Karim Moustafa berichtet über die Erinnerung an den Genozid von Srebrenica

(iz). Grenzenlose Trauer. Erschütterndes Leid. Grausamste Verbrechen. Herzzerreißende Erlebnisse der Überlebenden des Genozids in Bosnien. Drei Tage des alljährlichen Gedenkenmarsches „Marš Mira“ (Marsch des Friedens) für die Opfer des größten Völkermordes in Europa nach dem zweiten Weltkrieg liegen hinter mir. Von Karim Moustafa

Bosnien: Die Heutigen beschreiten den Weg der Ermordeten

Über 5.000 Menschen haben sich vom 8.-11. Juli 2024 auf den langen Weg vom damaligen freien Territorium in Nezuk zur heutigen Gedenkstätte in Potočari gemacht. In Erinnerung an die mindestens 8372 getöteten Bosniaken in Srebrenica. Zur Trauer um die mehrheitlich muslimischen Männer. In Gedächtnis an die unzähligen Söhne, Väter, Großväter, Cousins und Onkel. Um die Geschichte hochzuhalten und um dem Vergessen entgegen zu wirken.

In einer Zeit in der Völkermord wieder live passiert, während die Welt zuschaut. Und die Weltgemeinschaft versagt wieder einmal. United Nothing (UN) wie es treffend auf einem Ausstellungsfoto eines alten Graffiti im heutigen Museum steht. Dort, wo den serbischen Mördern die bosnischen Muslime ausgehändigt wurden. Wo das Wort „Schutzzone“ ein lächerlicher, ein tödlicher Witz gewesen ist.

Foto: Autor

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Es sind nicht die körperlichen Strapazen

Es sind daher nicht die 100 Kilometer kräftezehrender Fußmarsch durch teils unwegsames Gelände, das auf und ab des Weges durch die beeindruckende bosnische Berglandschaft und über den Berg Udrč oder die in diesem Jahr mit deutlich über 30 Grad brütende Hitze der Sonne im strahlend blauen Himmel, die den meisten Eindruck bei unserer Reisegruppe hinterlassen haben. Die körperlichen Strapazen und das Kräftezehren sind schnell vergessen.

Aber die überwältigenden Emotionen, die einem in unzähligen Gesprächen mit den Opfern und Hinterbliebenen von Srebrenica und des gesamten Genozids in Bosnien während dieser Reise begegnen, lassen einen nicht mehr derselbe Mensch sein.

Etwas ist zerbrochen und gleichzeitig etwas anderes neu entstanden. Wie die Liebe zu Bosnien. Zu diesen unglaublichen Menschen. Die mit ihrer Stärke, Geduld und Mut, mit ihrer grenzenlosen Gastfreundschaft ein Vorbild sind für die Welt.

Die Geschichten der Menschen

So lauschen wir während des Marsches den Geschichten der Menschen Bosniens, die so eindringlich ins Herz gehen. Die erschaudernden Erzählungen der einheimischen Wegbegleiter, welche die tränenreichen Geschichten ihrer teils ausgelöschten Familien teilen. 

Die Zeitzeugen, welche jedes Jahr den langen Weg beschreiten, auf dem ihre Verwandten und Freunde ermordet wurden. Einer von ihnen ist Hasan Hasanović, der uns begleitet und die bedrückende Zeit des Leids und Unglücks greifbar macht.

Wer sein bekanntes Buch „Srebrenica – Kein Vergessen. Kein Vergeben“ gelesen hat, kennt manche mörderischen Szenen, doch die Realität und die Details sind schlimmer. Ein Bruder, der seinen schwer verwundeten Bruder, der auf eine Mine getreten ist, noch 20 Kilometer durch den Wald trägt, weil er ihn nicht zurücklassen kann, bevor er stirbt.

Die unglaubliche Gastfreundschaft von fast mittellosen Veteranen, welche ganze Ortschaften jahrelang vor weiteren Gräueltaten bewahrt haben und deren karge Rente heute gerade so zum Überleben reicht.

Die früheren Kinder, die durch schicksalhafte Wendungen überlebt haben und jetzt als Erwachsene auch 29 Jahre nach dem Fall Srebrenicas am 11. Juli 1995 die sterblichen Überreste ihrer ermordeten Verwandten suchen, während sie in bedrückender Erinnerung schwebend durch die vielen Orte des Grauens und Tötens laufen. Wie am Berg Kameničko an dem kein Zentimeter ohne Blut geblieben ist, als etwa 1.000 flüchtende Bosnier u.a. von serbischer Artillerie in Stücke gerissen wurden.

Foto: Autor

Wenn die Bittgebete verstummen

Selbst die Bittgebete für die Verstorbenen sprechende Stimme verstummt plötzlich, wenn die bewusst in der Natur belassene verblichene Kleidung einer Reihe von Opfern ins Blick fällt. Wie die ausgetretenen Schuhe mitten im Wald, die ausgefranste Lederjacke an einer Baumgabel…

Manchmal sind es lediglich stumme Blicke der Menschen am Wegesrand, die den unbeschreiblichen Schmerz auch drei Jahrzehnte später nur erahnen lassen. Wie eine Großmutter am Wegesrand, neben dem Denkmal eines der vielen Massengräber, die Wanderer des Friedensmarsches mit Wasser, bosnischem Kaffee und Tee bewirtet. Alles was man machen kann, ist sie zur Unterstützung in den Arm zu nehmen und wie die eigene Oma auf die Stirn zu küssen.

Am Ende des eindrücklichen Marsches, der uns alle verändert hat, stehen wir in Potočari zum Gedenktag des bosnischen Genozids am 11. Juli vor dem schier endlosen Gräberfeld mit weißen Stelen. Tausende, die aus Bosnien und aller Welt gekommen sind, um die Tausenden zu betrauern. Die Stimmen verstummen. Gemeinsam heben wir unsere Hände zum Gebet. Von Allah kommen wir und zu Ihm kehren wir zurück…

Wie beschreibt man Heimat? Vielleicht mit dem Gefühl von Traurigkeit, das einen überfällt, wenn man sein Land verlässt, sein Volk. Wenn du getrennt wirst von „deinen Leuten“, „deinem Hood“. Und die gleichzeitig aufkommende starke Sehnsucht schnell wieder zurückkehren zu wollen. Dieses eindringliche Gefühl habe ich gerade, als ich Bosnien schweren Herzens verlasse.

Lang lebe das tapfere bosnische Volk!

Ein Kommentar zu “Mein Herz ist in Bosnien geblieben

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