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Die Freiheit und der Staat. Wie wird unser Jahrhundert aussehen?

Ausgabe 350

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Stehen wir vor einem Jahrhundert der Toleranz oder der Intoleranz? In den letzten Wochen wurde das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Sicherheit erneut heftig diskutiert.

(iz). Im Jahr 1994 veröffentlichte Jean-Christophe Rufin ein provokantes Buch: „Die Diktatur des Liberalismus“. Jede Demokratie brauche, so die streitbare These, veritable Feinde. Nicht der Sieg über den Feind selbst sei dabei zentral, sondern die Angst, die der Feind erzeuge.

Der Staat, argumentierte der Politologe weiter, gebe sich gerne das Bild der eigenen Zerbrechlichkeit, sei aber nicht ernsthaft in Gefahr, denn er verfüge in Wirklichkeit über einen robusten, stets wachsenden Sicherheitsapparat. Nach dem Untergang des Kommunismus beschrieb Rufin in seinem Buch eine neue Welt der Gegensätze, die am Horizont auftauchte und die er geographisch mit dem Norden und Süden verknüpfte.

Der Staat zwischen Freiheit und Feindbildern

Dreißig Jahre später gibt es immer noch Narrative, die sich mit Feinden und Feindbildern beschäftigen. Die Vision einer kontinentalen Friedensordnung von Europa bis an die Grenzen Chinas hat sich längst zerschlagen. Schlimmer noch: Mit dem brutalen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Politisch gesehen zeigt sich der Gegensatz von Freiheit und Diktatur in aller Schärfe. Nicht zuletzt wird der russischen Führung vorgeworfen, die Feinde der liberalen Demokratie in ganz Europa zu unterstützen.

Während die Idee friedlicher Nachbarschaft mit dem großen Nachbarn im Osten in einem Desaster endet, deuten sich in der Bewertung des Konfliktes die Nord-Süd Gegensätze an, die Rufin in den 1990er Jahren voraussah. Die so folgenreiche wie bedingungslose Unterstützung der ukrainischen Position, wird jenseits der westlichen Wertegemeinschaft nur bedingt akzeptiert.

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In den letzten Jahrzehnten drehen sich die wichtigsten Debatten in unserer Gesellschaft um das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit. Dabei geht es weniger um die systemischen Fragen der alten Bundesrepublik. Der alte Wahlkampfslogan der bürgerlich Konservativen, „Freiheit statt Sozialismus“, wirkt heute trotz steigender Staatsausgaben und planwirtschaftlicher Ökopolitik antiquiert.

Der Staat ist vielmehr engagiert in der Bewältigung einer ganzen Reihe von konkreten Metaproblemen, die zuverlässig mit Ängsten einhergehen: Terrorismusbekämpfung, Pandemie, Klimakrise und Immigration.

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Zu den alten Ideologien kommen neue hinzu

Es treten neben den seit Jahrzehnten bekannten Ideologen eine ganze Reihe von neuen, idealtypischen Feinden auf die Bühne: der Terrorist, der Querdenker, der Klimakleber oder der bewaffnete Flüchtling. Der auf diese Weise geforderte Staat reagiert mit neuen Gesetzen, feingliedriger Überwachung, mit mehr Polizei und eigenen Investitionen, die das öffentliche Klima beeinflussen und gefährliche Meinungen bekämpfen sollen.

Es ist kein Zufall, dass sich gerade jetzt wieder Stimmen mehren, die sich – angesichts der Allmächtigkeit staatlicher Organisation – um die Freiheit des Bürgers sorgen. Im Meinungsstreit unserer Tage wiederholt sich immer wieder ein Grundsatzkonflikt, der auf ein Dilemma verweist: Der Staat tut aus Sicht seiner freiheitsliebenden Bürger entweder zu viel oder zu wenig. Die Frage nach der „Verhältnismäßigkeit“ staatlichen Handelns gerät nicht zufällig immer häufiger in das Zentrum juristischer Debatten.

Zweifellos waren es die Jahre der Pandemie, die die Machtmöglichkeiten des modernen Staates auf besondere Weise verdeutlichte. In diesem Fall der gesundheitspolitischen Notlage spürte jeder Bürger, völlig unabhängig von seinem politischen Engagement, dass die Regierung jederzeit massiv in die persönliche Freiheit eingreifen kann.

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Der Staat im Ausnahmezustand

Zu Beginn der Krise erinnerte der Philosoph Peter Sloterdijk an eine in einem liberalen System eigentlich undenkbare Möglichkeit: „Im Ausnahmezustand streift der Staat die Samthandschuhe ab, mit denen er im Normalzustand die Bürger anfaßt. Dann lässt er die eiserne Faust unter dem Samthandschuh sehen. Das heißt, der Staat zeigt sich auf reine Exekutivgewalt reduziert.“

Wie immer man den Sinn und das Maß der staatlichen Maßnahmen dieser Zeit beurteilt, muss man natürlich in diesem Kontext daran erinnern, dass die Bevölkerung zu jeder Zeit der Pandemie auf ein funktionierendes Rechtssystem zugreifen konnte.

Bis heute sind jedoch die Spuren der Auseinandersetzung nicht vollständig bewältigt. Es wird beklagt, dass die öffentliche Debatte viel zu schnell berechtigte Kritik mit der Akzeptanz von Verschwörungstheorien und Umsturzphantasien  verwechselte.

Zudem erkannten diverse Trittbrettfahrer die Demonstrationen gegen die deutsche Corona-Politik als ideale Gelegenheit, sich unter das protestierende Volk zu mischen. Ein Problem, das nachwirkt. Muss man die Proteste einstellen, wenn sich eine Minderheit von Radikalen in den eigenen Protestzug einfädeln?

Das schwierige Verhältnis zwischen Meinungs- und Demonstrationsfreiheit und politischer Agitation vermischt sich mit dem natürlichen Mißtrauen des Staates gegen die Macht der Straße. Zudem ist die wachsende Gewaltbereitschaft von Teilen der Bevölkerung im politischen Feld eine soziologische Tatsache. Unter dem Eindruck der scharfen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, tut man gut daran sich an den Kern der Meinungsfreiheit zu erinnern.

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Wer wird vor was geschützt?

Gegenstand des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG sind Meinungen, durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens, geprägte Äußerungen. Dabei kommt es bei diesen Meinungen nicht darauf an, stellt das Bundesverfassungsgericht fest, „ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden“.

Jeder vernünftige Bürger wird einsehen, dass das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet sein kann. Nach Art. 5 Abs. 2 GG unterliegt es insbesondere den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergeben. Es ist zum Beispiel völlig legitim Verstöße gegen Normen des Strafrechts zu unterbinden.

Das Grundgesetz erlaubt auf der anderen Seite nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen.

Dies ist der Fall, wenn sie den öffentlichen Frieden in dem Verständnis als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren. Im Jahr 2018 stellt das Bundesverfassungsgericht diesbezüglich klar:

„Nicht tragfähig ist ein Verständnis des öffentlichen Friedens, das auf den Schutz vor subjektiver Beunruhigung der Bürger durch die Konfrontation mit provokanten Meinungen und Ideologien zielt. Die mögliche Konfrontation mit beunruhigenden Meinungen, auch wenn sie in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlich und selbst wenn sie auf eine prinzipielle Umwälzung der geltenden Ordnung gerichtet sind, gehört zum freiheitlichen Staat.“

Die Herausforderung an den Rechtsstaat liegt hier offen zu Tage und berührt ein Trauma der deutschen Geschichte. Die Verhinderung einer, insbesondere legalen Machtergreifung der Intoleranten, unterliegt de facto rechtsstaatlichen Grenzen. Kurz gefasst: die besten Gesetze nutzen nicht, wenn eine Mehrheit der Bürger in das undemokratische Milieu abdriftet.

Die Rechtssprechung rund um die Meinungsfreiheit, soweit sie überhaupt bekannt ist, irritiert all diejenigen, die im Grunde unbemerkt „politisierte“ Vorstellungen in ihren Erwartungen an die Gerichtsbarkeit bezüglich extremistischer Meinungen einfließen lassen. Natürlich werden Linke das Verbot von rechten, Rechte das Verbot von linken Organisationen erwarten.

Die möglichst schrankenlos gewährte Meinungsfreiheit ist zweifellos ein Ideal unseres Grundrechts, dass je nachdem eine Zumutung sein kann. So müssen Muslime beispielsweise hinnehmen, dass ihre Religion in Meinungsartikeln scharf kritisiert oder in satirischen Beiträgen geschmacklos abgehandelt werden.

VIP-Prediger

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Markierungen oder die Macht der Medien

Es gibt aber auch andere Aspekte, die die Meinungsfreiheit – trotz des grundrechtlichen Schutzes – effektiv einschränken. Hierher gehört zum Beispiel die Macht von Medien, auf ihre Art die Meinungsfreiheit zu nutzen und missliebige Akteure und Meinungen mit diversen Attributen zu versehen, die einigermaßen sicher den Ausschluss aus dem öffentlichen Diskurs bedeuten, ohne dass sich Betroffene vor Gerichten wehren können.

Die Markierung als „Antisemit, Islamist, Querdenker oder Nazi“ oder die berühmte Formulierung „strittig“ mag berechtigt sein oder nicht, sie sind jedenfalls keine gerichtliche anfechtbare Tatsachenbehauptungen, sondern eben nur Meinungen.

Das Phänomen „Cancel Culture“ zeigt, dass diese Veröffentlichungen sehr effektiv sein können, um Andersdenkende auszugrenzen; sagen wir es schärfer, fertig zu machen. Im Gegensatz zum Gerichtsverfahren, haben die Betroffenen hier kaum eine Möglichkeit, Gegenbeweise vorzulegen oder zumindest ihre Sicht der Dinge darzustellen.

Die Problematik zeigt sich in aller Schärfe in den Diskussionen über die Folgen der israelischen Verteidigungspolitik im Gazastreifen. Aus guten, historischen Gründen bedeutete der Vorwurf des Antisemitismus in Deutschland jahrzehntelang das soziale Aus.

Wer die aktuelle Debatte verfolgt, muss zumindest erkennen, dass diese Logik in dem Kontext der Kritik von Muslimen und Palästinensern an der israelischen Regierung zu zweifelhaften Ergebnissen führen kann. Auf der anderen Seite ist der Druck aus den eigenen Reihen, die Muslime erfahren, die die zynische Strategie der Hamas offen kritisieren, ein Indiz dafür, dass das Problem der Meinungsfreiheit nicht nur das Verhältnis Bürger-Staat, sondern die Innenverhältnisse aller gesellschaftlichen Schichten betrifft.

Dilemma Ukraine

Fotos: Martin Kraft, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0 (links) | Gregor Fischer re:publica 18, via Wikimedia Commons / Lizenz: CC BY-SA 2.0 (rechts)

Religiöse Wurzeln säkularer Werte

Das Faktum, dass Ideologien in letzter Konsequenz niemals die Meinungsfreiheit dulden, gehört zu den wenigen Gewissheiten im Diskurs um die Freiheit. Das Grundgesetz gibt dem Bürger aus guten Gründen Abwehrrechte gegen den Staat. Zu diesen gehört auch die Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer liberalen Ideologie, die versucht ist, ihre wahren und vermeintlichen Feinde mit rechtsstaatlich fragwürdigen Mitteln zurückzudrängen.

In seinem neuen Buch „Das Jahrhundert der Toleranz“ fasst der Philosoph Richard David Precht die paradoxen Hintergründe des Problems. „Doch was die liberale Demokratie anbelangt, stehen die westlichen Industrieländer, wie es derzeit scheint, noch immer in ihrer monotheistischen Tradition. Aus religiösen Wurzeln entwachsen, ist die Suprematie augenscheinlich ein wichtiger Baustein im Selbstverständnis, auch wenn sie, mangels Frömmigkeit, inzwischen säkularisiert ist zu westlichen Werten.“

Süffisant fügt der Denker hinzu, dass, wie es nur einen Gott geben kann, nur eine liberale, quasi gottgewollte, Demokratie nach dieser Logik denkbar ist. Precht verweist ähnlich wie Rufin auf die Tendenz der Politik, diesen Anspruch mit einfachen Narrativen rund um die neuen Feinde – einsichtig im Fall Russland, schwieriger im Umgang mit China – zu begleiten.

Precht führt das Phänomen der Derivationen ein, die schon Karl Marx – ironischerweise – als „Ideologie“ brandmarkte: „Einseitige und verallgemeinernde Erzählungen über das, was eine Nation, ein Volk, ein einender Glauben, eine Rasse, eine Klasse usw. sein sollen.“

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Unter Druck geraten

Wenn die Postmoderne mit dem Ende der alten, religiös eingefärbten Narrativen einherging, sind die alternativen, rationalen Erzählungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts selbst unter Druck geraten. Die Gültigkeit der universellen Rechte beispielsweise, auf die sich die internationale Strafgerichtsbarkeit beruft, wird von verschiedenen Akteuren aus dem Westen – wie die Debatte um Israel zeigt – nur eingeschränkt akzeptiert.

Ganz zu schweigen von Akteuren wie Russland oder China, die sich nur zu einer politisierten und subjektiven Variante von rechtsstaatlicher Wahrheit bekennen und auf internationaler Ebene taktisch nach Interessenlage, jedenfalls nicht nach objektiven Maßstäben entscheiden,

Es ist heute eine Binsenweisheit, zu sagen, dass komplexe Konstellationen nicht mit einfachen Erzählungen aufgelöst werden können. Zu Recht werden Meinungsäußerungen, die auf obskurer und simpler Grundlage erfolgen, aber breite Bevölkerungsteile erreichen, mit Argwohn verfolgt. Man darf – wie unser Blick auf das Grundgesetz zeigte – Unsinn verbreiten. Was geschieht, wenn der Wahn eines Tages regiert?

Das Beispiel Immigration verdeutlicht die Tiefe des Abgrunds. Allzu gerne vereinfachen auch politische Entscheidungsträger ihre Botschaften an die Wähler: Statt auf die Grenzen des rechtsstaatlich Machbaren hinzuweisen, werden gerne die scheinbar erfolgreichen Narrative, die eine Abschottung Europas vorgaukeln, übernommen.

Und: Andere Erzählungen, wie die These vom „Zusammenprall der Kulturen“ oder der angeblichen Intoleranz des Islam, die unsere Außenpolitik zeitweilig beeinflussten, holen uns inzwischen innenpolitisch ein. Immer mehr Menschen sind – nicht nur in Sachen Muslime – weniger von Argumenten und Erfahrungen bestimmt, sondern von Gefühlen, Bildern und Eindrücken. Und immer mehr Politiker holen sie mit den rhetorischen Techniken der Vereinfachung in diesem Aggregatzustand ab.

Machen wir uns nicht vor: Es wird im Rahmen unserer Verfassung heikel bleiben, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, auf unsere Abwehrrechte gegenüber dem Staat zu bestehen und die Toleranz gegenüber Extremisten und Ideologen nicht zu übertreiben. Gesellschaftlich wird die Ausbalancierung dieser Ansprüche uns auf Dauer beschäftigen.

Auf der philosophischen Ebene streicht David Precht eine der grundsätzlichen Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben auf dem Planeten heraus: „Ein Wir gegen Die, sei es religiös oder säkular gezüchtet, in dem Wir das uneingeschränkt Schöne, Wahre, Gute ist und Die der Inbegriff des Bösen, gehört ein für alle Mal in den Giftschrank, soll unserem Jahrhundert ein weiteres Jahrhundert menschlicher Zivilisation folgen.“