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Mit voller Kraft wohin oder wo wollen wir eigentlich ankommen?

Ausgabe 272

Foto: Foto: US Navy, gemeinfrei

(iz). Wenn alle Argumente ausgetauscht sind, wenn die Verantwortlichen benannt und die zugrundeliegenden Strukturen identifiziert wurden, stehen Deutschlands Muslime auch weiterhin vor der klassischen Frage: Was tun? Ungeachtet dessen, dass es neben dem Schicksalscharakter unserer Existenz auch externe Faktoren gibt, die sich unserem Zugriff entziehen, wäre es wohl Energieverschwendung, sich 2018 weiterhin so sehr auf das Pingpong von Rechtfertigung und Kritik einzulassen. Andernfalls droht uns eine stete Wiederholung des Ewiggleichen sowie die „Paralyse der Analyse“, von der James Lee Burke seinen beliebten Romanhelden gelegentlich sprechen lässt.
Die muslimische Landschaft Deutschlands ist zu divers und zu bunt, als dass sich jetzige Entwicklungen so einfach auf die Zukunft projizieren ließen. Außerdem gibt es mittlerweile neben den altbekannten Strukturen so viele verschiedene Akteure in der muslimischen Zivilgesellschaft und neue Trends, sodass die Planung eines „Islam in Deutschland“ wahrscheinlich eher in die eingangs beschriebene Lähmung führen dürfte.
Angesichts der heutigen Verhältnisse im und um den Islam in Deutschland können wir vielleicht sogar dankbar sein, dass sie eher chaotisch sind, anstatt so „organisiert“ zu sein, wie es viele fordern. Immerhin geht es um das Leben selbst. Unsere temporären Pläne und Vorhaben mögen schlussendlich scheitern, aber vielleicht können wir selbst etwas Neues und Organisches bauen, wenn wir das muslimische Leben als solches zu schätzen wissen.
Aktive Elemente
Es ist müßig, würden wir uns im heutigen Augenblick an das Reißbrett des deutschen Vereinsrechts setzen und den neuen, besseren Über-Meta-Dachverband konstruieren. Einer, der sich nicht durch einen neuen Geist oder eine Form von Dasein auszeichnet, sondern nur die Perfektion bisheriger Organisationsformen anstrebt. Ein Holzweg wird nicht dadurch besser, wenn man eine Motorsäge zum schnelleren Bäumefällen mitnimmt…
Vorzuschlagen wäre eher, dass wir zu Beginn eines neues Jahres und in der Ruhe des Winters fragen: Welche Elemente braucht eine erfolgreiche muslimische Zukunft in Deutschland? Was müssen wir in das metaphorische Schlauchboot mitnehmen, um das Rettende zu erreichen? Alle wollen volle Kraft, aber wenige sagen uns, wohin.
In aufsteigender Ordnung würde ich gerne vier Elemente in die Runde werfen, die für eine positive Zukunft entscheidend sein können: Debatte und Diskurs (korrespondiert mit unserer intellektuellen Existenz, mit unserem politischen Denken), Zivilgesellschaft (korrespondiert mit dem Aspekt der Mu’amalat in der islamischen Lebensweise), den Menschen selbst (korrespondiert mit dem, was in der Tradition als Akhlaq und Futuwwa bezeichnet wurde) sowie der Grundfrage nach unserem gemeinschaftlichen Schicksal (korrespondiert mit der Glaubenslehre und dem Tasawwuf).
Debatte und Diskurs
Als deutsche (und natürlich auch als europäische) Muslime stellen sich uns einige entscheidende intellektuelle Fragen und Herausforderungen.
Wir benötigen ein beinahe archäologisches Bemühen. Der ideologische, politische und psychologische Abraum der letzten 200 Jahre muss entfernt werden, damit die Essenz der Lehre überhaupt sichtbar werden kann. Diese wiederum müssen wir im Lichte der gegenwärtigen Umstände verstehen und auf diese anwenden.
Die viel zu selten gestellte Frage ist auch: Zu oder mit wem reden wir eigentlich? Wer sind die Adressaten unserer Botschaft? In nicht wenigen erhitzten Diskussionen war im Grunde fraglos, mit wem muslimische Sprechende eigentlich gerade kommunizieren. Und, wenn wir bei den Diskursmustern bleiben: Interessiert es uns eigentlich ausreichend, wie wir vom Anderen wahrgenommen werden? In den letzten 12 Monaten wurden auf dem Gebiet „einige Böcke“ geschossen, gerade weil die Mentalität des öffentlichen Diskurses nicht oder nur unzureichend mit in das eigene Agieren einbezogen wurde.
Zivilgesellschaft
Es gehört zum kleinen Einmaleins des Wissens und Lernens in der islamischen Lebensweise, dass Allahs Din aus zwei Elementen besteht: den Regeln der Anbetung (arab. ‘Ibada) und den Regeln des menschlichen Miteinanders (arab. Mu’amalat). In der Mehrheit aller Predigten – wenn es nicht um Importpolitik geht – dreht es sich an vielen Freitagen um die ‘Ibadat. Von nennenswerten Ausnahmen abgesehen fristen hier und heute relevante Aspekte der Mu’amalat ein stiefmütterliches Dasein im deutschen Islam.
Wollen wir eine funktionierende muslimische Zivilgesellschaft, die kein verlängerter Arm politischer Interessen ist, dann müssen wir den enormen Korpus ihrer praktizierten Modelle aus vielen muslimischen Kulturen wiederentdecken. Insbesondere dann, wenn uns an einer lebendigen Realität in diesem Land gelegen ist.
Für die gegenwärtigen sozio-ökonomischen Herausforderungen der heutigen europäischen Gesellschaften lohnt sich ein Blick auf das reichhaltige Erbe unserer Geschichte und der Lehre. Wir müssen sie ernst nehmen, wenn wir eine positive Vision für die Zukunft haben wollen. Allein der mittlerweile recht stattliche Immobilienbestand lokaler Gemeinschaften erlaubt Fantasie in der Entwicklung freier Kindergärten und Schulen. Aus der engen Verwobenheit von Stiftungen, Genossenschaften und gegenseitiger Hilfe lassen sich reale wie virtuelle Angebote formulieren: freier Handel, Gilden, alternative Gesundheitsvorsorge, freie Schulen, Ansätze für eine nachhaltige Lebensweise, die Wiederbelebung von städtischen und ländlichen Räumen, Architektur und vieles mehr.
Menschen
Jenseits der Vielfalt an möglichen materiellen Umständen haben wir immer zwei Elemente: Gebet und Gemeinschaft. Auch wenn sie beinahe in der Wahrnehmung und muslimischen Beiträgen in der „Debatte“ verschwinden, bilden sie das Fundament unserer Existenz. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass diese essenziellen Elemente eines lebendigen Dins und der Darstellung dessen, was Islam sein soll, momentan keine relevante Rolle spielen.
Wirklicher Wandel setzt spirituell lebendige und aktive Menschen und ihre Gemeinschaften voraus. In den letzten Jahrzehnten setzte die muslimische Selbstorganisation eher darauf, den (gelegentlich auch störenden) Faktor Mensch durch eine wie auch immer geartete Struktur zu ersetzen. Die Frage ist, ob Deutschlands Muslime momentan in der kollektiven Verfassung sind, solche Menschen zu fördern beziehungsweise hervorzubringen.
Es gibt eine ganze Reihe an Eigenschaften, die solche Menschen ermöglichen. Dazu gehören unter anderem: ein lebendiges Herz, eine gute Meinung von Allah und Seiner Schöpfung, einen wilden Geist (Nietzsches bekannte „lachende Löwen“), ein Fehlen von Ressentiment sowie ein intuitives Verständnis für Ort, Zeit und den Kontext, in denen sie leben.
Schicksal
Schlussendlich ist die Frage nach dem Islam in Deutschland jenseits des Schaums der Ereignisse eine Frage nach unserem Schicksal. Damit wir uns überhaupt seiner Entdeckung widmen können, müssen wir uns weg von der Beschäftigung mit dem Anderen sowie unseren Empfindlichkeiten in Richtung einer Hinwendung auf Allah zubewegen. Dann können wir wesentliche Fragen wie diese Stellen: Warum hat Allah unterschiedliche Muslime an diesem Ort zusammengebracht? Warum geschehen uns immer wieder die Ereignisse und was sind ihre Bedeutungen? Was müssen wir tun, um die Zufriedenheit unseres Herren zu erlangen?