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Niemand ist eine Insel

Ausgabe 299

Foto: Elena Torre, via flickr | Lizenz: CC BY-SA 2.0

(iz). Niemand, so schrieb der englische Barockdichter John Donne im Jahr 1624, ist eine Insel. Der  Ausspruch gilt als das Motto der Moderne: er riss die europäische Menschheit aus dem Winterschlaf des Mittelalters, dem Einsamkeit und Askese als der Tugenden höchste gegolten hatten, und stimmte den Leitton des abenteuerlichen Unternehmens der überseeischen Expansion an, die erst über die Säulen des Herakles – und schließlich über den Rand des Erdkreises hinaus führen sollte.

Der italienische Romancier Paolo Giordano, eigentlich promovierter Physiker, der 2008 mit seinem Debüt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ weltbekannt wurde, greift in seinem Essay „In Zeiten der Ansteckung“ dieses Zitat auf. Es ist eines der ersten „Corona-Bücher“, das E-Book erschien noch vor der gedruckten Version – und es ist ein Essay nicht im programmatischen Verständnis der heutigen ­Literaturindustrie, sondern im originalen Verständnis Michel de Montaignes, eines anderen geistigen Gründervaters der Frühen Neuzeit: ein essai, also ein Versuch, der sich, wie eben Montaigne, an einzelnen Sentenzen entlanghangelt, um einen Zugang zu einer Wirklichkeit zu gewinnen, die den Menschen ratlos und verstört zurücklässt.

„Nous n’avons aucune communication à l’être“ – wir haben keine Gemeinschaft mit dem Sein, lautet einer der berühmtesten Aussprüche Montaignes, und er steht geistesgeschichtlich gleichrangig neben jenem „no man is an island, entire of itself“ des John Donne. Beide Sätze gewinnen im Lichte des Corona-Lockdowns konkrete Aktualität, beide verweisen aber auch in dialektischer Zuspitzung auf das generelle existenzielle ­Dilemma des Menschseins, „Krise und Chance zugleich“ zu sein: Krise, weil der Mensch in der Welt abgeschnitten ist von seiner Ursprünglichkeit; Chance, weil erst diese Abgeschnittenheit ihn auf etwas Höhe­res hin entwirft. Keine Kommunikation mit dem Sein zu haben, zeigt sich heute daran, zum Virus als Herd der Ansteckung nicht ohne Weiteres durchdringen zu können. Dass aber niemand eine Insel sei, bedeutet, dass jeder jeden anstecken kann.

„Noch bevor Epidemien medizinische Notfälle werden“, so schreibt Giordano in seiner römischen Quarantäne, „sind sie mathematische Notfälle. Denn die Mathematik ist eigentlich nicht die Wissenschaft von den Zahlen, sie ist die Wissenschaft von den Beziehungen: Sie beschreibt die Verbindungen und den Austausch zwischen Wesenheiten und versucht dabei zu vergessen, woraus diese Wesenheiten gemacht sind, indem sie sie zu Buchstaben, Funktionen, Vektoren, Punkten und Flächen abstrahiert. Die gegenwärtige Epidemie ist eine Infektion ­unseres Beziehungsnetzes.“

Die mathematische Dimension der Pandemie mag verstören, doch sie hat etwas Beruhigendes; zeigt sie doch, wie sehr selbst das Chaos einer Ordnung, einem System folgt. Vor allem aber erlaubt sie einen Sprung von der evidenzbasierten Wissenschaft zur Religion, denn bekanntlich ist die Mathematik keine empirische, sondern eine eidetische Wissenschaft, die auf Axiomen „vor aller Anschauung“ basiert, welche sich einer wissenschaftlichen Nachprüfung im engeren Sinne gerade entziehen.

Genau das aber, eine eidetische Wissenschaft, ist in gewisser Weise auch die Religion. Nicht nur, aber vor allem in westlichen Ohren mag dies unvertraut klingen, während der Orient den Bruch zwischen Wissenschaft und Religion nie so scharf vollzogen hat wie der Westen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, ein wesentlicher Aspekt aber ist die Mathematizität des Islam, wie sie jüngst etwa der US-amerikanische Orientalist Jack Miles in ­seinem Werk Gott im Koran thematisierte. Und so ist es bemerkenswert, dass ausgerechnet der promovierte Physiker Giordano in seinem Text über das Virus ausgesprochen religiöse Töne anschlägt: „In Psalm 90“, schreibt er, „gibt es eine Anrufung, die mir in diesen Stunden immer wieder in den Sinn kommt: Unsere Tage zu zählen lehre uns [Herr]. Dann gewinnen wir ein weises Herz.“ Man darf diesen religiösen Turn Giordanos angesichts Tausender Corona-Toter und überfüllter Leichenhallen im vom Virus besonders arg getroffenen Italien nicht als den billigen Akt intellektueller Verzweiflung missverstehen, als der er vielen Kritikern, gerade auch im journalistischen Milieu, erscheinen mag. Psalm 90 ist ein Klassiker des protestantischen kulturellen Gedächtnisses, er steht gleichsam spiegelbildlich zum Insel-Zitat John Donnes: ist dieses leitmotivisch puritanisch (die Welt als offenes Buch, das von den getreuen Pilger­vätern zu lesen, zu kartieren und zu erobern sei), so ist der Psalm 90 leitmotivisch pietistisch, lautet doch der wohl bekannteste Vers daraus: „Unser Leben währt siebzig oder achtzig Jahre, und wenn’s köstlich ist, so ist’s Müh‘ und Plage gewesen.“

In Zeiten der Ansteckung konvergieren, so scheint es, diese beiden Lesarten protestantischer Religiosität: hier die seefahrerisch ­beschworene Ineinanderverwobenheit aller und von allem, die sich in der Pandemie als Danaergeschenk entpuppt (in Giordanos Worten: „die Infektion liegt in der Ökolo­gie“); dort die sentimentale Invokation einer längst durch den zivilisatorischen Fortschritt überholt geglaubten kontinentalen Gott- und Todesergebenheit, aus einer Zeit stammend, da der Tod im Kindbett, an einer Lungenentzündung oder schlicht an „Auszehrung“ allgemeines Schicksal war – die aber jetzt in Zeiten von Triage und Notbestattungen ­wieder aktuell wird.

Doch Giordano geht es nicht bloß um Demut vor dem factum brutum, dass der Mensch doch (noch) nicht unsterblich ist, denn das wäre zu simpel; vielmehr geht es ihm um Kritik an der vulgären Wissenschaftsgläubigkeit von heute. „In der Wissen­schaft“, so zitiert er die französische Philosophin Simone Weil, „ist die Wahrheit heilig“, was aber, fährt er selber fort, „ist die Wahrheit, wenn man dieselben Daten befragt und dieselben Modelle verwendet, aber zu entge­gengesetzten Ergebnissen gelangt?“

Was ist Wahrheit? Die aktuelle Krise, die keinen Bereich unseres durchrationalisierten Lebens unberührt lässt, stellt unsere Vorstellung von Rationalität radikal auf den Kopf. „Unsere ungenauen Vorstellungen bilden ein Ökosystem, ein grenzenloses Ökosystem, in dem alles passieren kann.“ Der menschliche Intellekt, den Immanuel Kant in Widerlegung des Anselmischen Gottesbeweises als einzigen Horizont des Wissens postulierte, bewegt sich je in uncharted waters (ein Wort, das man in den vergangenen acht Wochen häufig in der internationalen Berichterstattung lesen konnte), in Gewässern, die bisher auf keiner Karte eingezeichnet waren. „Die Natur“, so beschreibt Giordano das merkwürdige Chaos, dem physische Prozesse unterworfen sind, „bevorzugt schwindelerregendes oder entschieden langsameres Wachstum, Exponenten und Logarithmen. Die Natur ist ihrer Natur nach nicht linear.“

Das Leben mag siebzig oder achtzig oder vielleicht bald zweihundert Jahre dauern (die Pandemie gilt ja auch als Versuchsfeld der Lebensverlängerungsindustrie); es bleibt eine Welt jenseits des Sichtbaren, die im Diesseits einzuholen die große Herausforderung des Menschseins bleibt; und wenn kein Mensch, ja: nichts Irdisches überhaupt eine Insel ist, nicht einmal das Virus, die simpelste aller Lebensformen: so ist auch die Menschheit auf ihrem Planeten selbst vielleicht keine Insel, sondern Landzunge eines Kontinents, der nur scheinbar auf keiner Karte eingezeichnet ist.

Paolo Giordano: In Zeiten der Ansteckung. Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt, 80 Seiten, 8.–