Spaltet Ägyptens Präsident Mursi sein Land? Streit um Verfassungsreferendum hält vor Beginn der Abstimmung weiter an

Kairo (dpa). Zwei Tage vor Beginn des Verfassungsreferendums in Ägypten ist die Gesellschaft so gespalten wie selten zuvor. Das staatliche Nachrichtenportal „Egynews“ meldete am Donnerstag, 150 Mitglieder der liberalen Traditionspartei Al-Wafd in der Stadt Kena hätten ihren Austritt aus der Partei erklärt. Die abtrünnigen Al-Wafd-Mitglieder begründeten diesen Schritt mit der Kampagne der Parteiführung gegen das Referendum.

Die Muslimbruderschaft hatte die Ägypter am Mittwochabend aufgefordert, für den Verfassungsentwurf zu stimmen. Schließlich habe dieses Dokument ein Gremium erarbeitet, das „indirekt“ vom Volk gewählt worden sei, hieß es in dem Appell der Islamisten-Vereinigung.

„Liberale“ und „Linke“ lehnen den Verfassungsentwurf ab. Er schwächt aus ihrer Sicht die Position der Frau in der Gesellschaft, schützt Kinder nicht vor Ausbeutung und schränkt die persönlichen Freiheiten ein. Da sich nicht genügend Richter bereit erklärt haben, die Aufsicht in den Wahllokalen zu führen, hat Präsident Mohammed Mursi verfügt, dass die Abstimmung in zwei Etappen abläuft. Am Samstag wird in zehn Provinzen gewählt. Eine Woche später sind die Wähler in den restlichen Landesteilen an der Reihe.

Der von der Muslimbruderschaft formulierte Entwurf der neuen Verfassung enthält einige Artikel, die von allen Parteien befürwortet werden. Dazu gehört die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten. Oppositionelle nehmen jedoch an zahlreichen Artikeln Anstoß. Außerdem kritisieren sie, dass die Gleichberechtigung der Frau und der Schutz der Kinder vor Ausbeutung und Zwangsheirat darin nicht explizit erwähnt werden.

– Artikel 4 spricht den Gelehrten des Al-Azhar in Kairo die Interpretationshoheit in Fragen des islamischen Rechts zu. Dies war bisher den Richtern vorbehalten. Da die Verfassung zudem festlegt, dass „die Prinzipien der islamischen Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung sind“, erhalten die Religionsgelehrten so Einfluss auf die Gesetzgebung.

– Artikel 10 stellt fest, dass die Religion, der Patriotismus und die Moral die Grundlagen der ägyptischen Familie sind. Diesen „wahren Charakter der ägyptischen Familie“ soll der Staat schützen. Kritiker meinen, dass dieser Artikel von den staatlichen Institutionen benutzt werden kann, um den Bürgern einen von Politikern propagierten Lebensstil aufzuzwingen.

– Artikel 53 legt fest, dass es für jede Berufsgruppe nur eine Gewerkschaft geben darf. Damit schiebt man der Gründung unabhängiger Gewerkschaften, die sich der Kontrolle durch die Regierungsparteien entziehen, einen Riegel vor.

– Artikel 232 schließt alle führenden Mitglieder der ehemaligen Regierungspartei NDP für zehn Jahre vom politischen Leben aus. Dies betrifft nicht nur führende Funktionäre der Partei, sondern auch ehemalige Parlamentarier. Einige Ägypter meinen, dass die Muslimbrüder dieses Verbot erlassen wollen, um die Zahl ihrer Konkurrenten bei den kommenden Wahlen zu reduzieren