Ein europäischer Selbstmord

Ausgabe 223

„Wer spricht von Siegen, Überstehn ist ­alles!“ (Rilke)
„Es ist eine schmerzhafte und schreckliche Sache, zu erkennen, wie einfach eine Nation zum Krieg angetrieben werden kann (…) und Sie werden feststellen, dass Kriege immer durch eine Kategorie von Argumenten unterstützt werden, über die die Leute – nachdem der Krieg vorüber ist – sagen werden, dass man ihnen nicht hätte folgen dürfen.“ (John Bright, 31.3.1854 vor dem britischen Unterhaus)
(iz). Als die CDU-Politiker Friedrich Merz und Norbert Lammert das Reizwort „Leitkultur“ prägten, entstand ein Begriff, über dessen Wahrheitsgehalt selbst nicht immer diskutiert wurde. Gegner wie Bassam Tibi mögen in Anlehnung eine europäische Leitkultur oder einen so genannten „Ver­fassungspatriotismus“ favorisiert haben. Über die Frage, wie diese „Kultur“ eigentlich aussieht, wurde oft geschwiegen.
Abgesehen davon, dass ein solcher Kultur- oder Wertebegriff die Augen vor der aktuellen Wirklichkeit unserer „Kultur“ verschließt, ignorieren die meisten unsere hausgemachten Jahrhundertkatastrophen. Diese erwuchsen auch aus der Mitte dieser „Kultur“ und wurden bis zu ihrem tragischen Ende auch dort ausagiert. Da hilft es auch nicht, wenn der Ungeist der letzten einhundert Jahre – aus verständlichen Gründen – mit dem Etikett „barbarisch“ versehen wird, um ­wesensmäßige Unterschiede zu markieren.
Der „Große Krieg“
Lässt sich das aufrechterhalten, wenn wir einen Blick auf die materielle Geschichte unserer Kultur werfen, die hier verteidigt werden sollen? Eine, wenn vielleicht sogar DIE Katastrophe war der Erste Weltkrieg, der den Auftakt zu weitaus größeren humanitären Dramen und ideologischen Weltbränden bilde­te. Dieser globale Konflikt, dessen Beginn sich 2014 zum hundertsten Mal jährt, wurde von Zeitgenossen auch als der „Große Krieg“ bezeichnet.
Für unzählige Dichter und Maler – von Ernest Hemingway, über Franz Marc, bis zu Remarque und Arnold Zweig –, sollten die Kriegsjahre die prägendste Ereignisse werden. Auf die eine oder andere Weise überlebten sie der Knochenmühle des Grabenkrieges im Westen, die Nahkämpfe der Isonzo­schlach­ten im Süden sowie die eisigen ­Weiten Osteuropas. Viele sahen sich gezwungen, diese existenziellen Erfahrun­gen, auf die eine oder andere Art und Weise in ihrer Kunst – aber auch in ­ihrer Weltanschauung – zu verarbeiten.
Dies führte nicht zu einheitlichen Schlussfolgerungen. Ihre Verarbeitung reichte von einem heroischen Realismus, über kategorischen Pazifismus bis hin zu glühendem Nationalismus. Neben den heute noch bekannten Schriften Tucholskys und Remarques („Im Westen nichts Neues“) steht insbesondere die vierteilige Buchreihe „Der Große Krieg der Weißen Männer“ des Kriegsteilnehmers Arnold Zweig für eine Absage an den Krieg. Gerade Zweigs „Erziehung vor Verdun“ ist ein einschneidender Roman, der die sinnlosen Bemühungen einer deutschen Einheit um eine Festung vor Verdun beschreibt.
Einen gegenteiligen Blickwinkel nehmen Romane und literarische Tagebü­cher wie Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ ein. Seine Beschreibungen – die bekanntesten dieser Art – stützten sich auf Aufzeichnungen, die der hochdeko­rierte Kriegsfreiwillige während des Kriegses anfertigte. Was die „Stahlgewit­ter“ für viele heute noch so unbequem sein lässt, ist der Fakt, dass sich keine ausdrücklich politischen Bekenntnisse – gar eine Antikriegsprosa – finden lassen. Von späteren Vorworten ­abgesehen lässt sich der Text als bejahend, neutral oder kriegskritisch lesen. Neben den Materialschlachten zählte für Jünger auch die Tatkraft des Einzelnen. Für den mehrfach verwundeten und ausge­zeichneten Stoßtruppführer war der Kampf eine Frage des „inneren Erlebnis“ und der „schärfenden Erfahrung“. Anders als andere, zweit- oder drittklassige Beispiele der positiven Kriegserfahrung enthält sich Jüngers Text aber jeglichem Nationalismus oder Hass auf den Feind.
Nicht alle überlebten den „Großen Krieg“. Viele, vielleicht sogar die besten in Europa gingen unter. Einige, wie der Dichter Trakl, zerbrachen an ­ihren Erfahrungen. Andere – insbesondere in den Freiwilligenjahrgängen – meldeten sich vor den Wehrpflichtigen. Gerade sie wurden in den Attacken der ersten Monate (als es noch die Illusion einer „Bewegung“ gab) verheizt. Ihre überschwängliche Begeisterung (die ganz Europa im Wahn ergriff) ergab zusammen mit antiquierter Gefechtsführung und dem maschinellen Overkill eine tödliche Mischung. Ein Blick in die Gedenkwände von Eton oder Oxford zeigt, wie viele sich aus den entsprechenden Jahrgängen freiwillig meldeten – und fielen. Schriftsteller wie D.H. Lawrence, die sich der zeitgemäßen Kriegsbegeisterung verweigerten, und überzeugte Pazifisten blieben, hatten einen schweren Stand.
In SPIEGEL (9/1999) beschrieb der bekannte britische Militärwissenschaft­ler John Keegan die Wirklichkeit in der Todeszone der Grabenkämpfe: „Über diesen wüsten Raum hinweg wurden die täglichen Aggressionen des Lebens im Schützengraben ausgetauscht – das Routinebombardement, das Sperrfeuer der Mörser, die dauernd über die ­Stellung hinwegfegenden Maschinengewehrgarben, das gezielte Feuer von Scharfschützen, die periodisch wiederkehrende Angriffe von Stoßtrupps in die gegnerischen Gräben, der blutige Nahkampf mit Messern und Totschlägern und zweimal jährlich oder öfter großangelegte Offensiven, zu denen hunderttausende von Männern antraten, unterstützt durch tausende von ­Kanonen, die millionenfach Granaten abfeuerten.“
 
Weltbürgerkrieg?
Mittlerweile sind viele Historiker überzeugt, dass es sich beim „Großen Krieg“ nicht um einen isolierten Konflikt handelt, der 1918/1919 mit der deutschen Niederlage endete. Vielmehr sei er der Anfang eines „Weltbürgerkriegs“ gewesen, der in den bedingungs­losen Kapitulationen von 1945 (und aller unzähligen Grausamkeiten und Opfer dazwischen) seinen Abschluss fand. Angesichts der unzähligen Folgeereignisse, die aus den Kriegswirren, aber auch aus den irrealen politischen Ideen – wie denen des US-Präsidenten Wilson mit ihrem destruktiven „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ – erwuch­sen, ist diese Hypothese durchaus überzeugend. Erwähnt sei auch der Entschluss des deutschen Oberkommandos, eine Gruppe russischer Revolutionäre unter Leitung von Lenin in das Zarenreich einzuschleusen. Die Folgen sind bekannt.
Insbesondere die Geschichte des Nahen Ostens und der Türkei (auch nach den Verträgen von Versailles, ­Lausanne und Sevres) belegt, dass der Krieg mit der Kapitulation der Achsenmächte nicht beendet war. In dieser sensiblen Region sind die Konsequenzen auch heute noch zu spüren. Der „Große Krieg“ führte nicht nur zu ungerechten Grenzziehungen und künstlichen Nationalstaaten, er injizierte auch einen ideologischen Vernichtungswillen in einige Gesellschaften des Orients, die früher unbekannt waren.
In der modernen Wahrnehmung wird regelmäßig unterschlagen, dass nicht nur die Armenier einen hohen Blutzoll zu zahlen hatten. Auch mehrere muslimische Völker auf dem Balkan, in Anatolien und im Kaukasus hatten Millionen Tote, Verletzte und Vertriebene zu beklagen. Für ihre Opfer gibt es weder Denkmäler, noch rituali­sierte Schweigeminuten.
Die ewige Frage nach dem „Warum?“
„In der blutigen Auseinandersetzung zwischen den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn sowie der Entente aus Großbritannien, Frankreich und Russland zeigte die Moderne ihr anderes Gesicht – es war eine hässliche Fratze.“ (Klaus Wegrefe, SPIEGEL 8/2004)
Die bleibende Frage ist die nach ­Ursachen. Was hat einen ganzen Kontinent, eine verwandte Kultur, deren Angehörige im Großen und Ganzen die gleichen Ideale und Aspirationen gemeinsam hatten, dazu veranlasst, sich millionenfach umzubringen? Woraus speiste sich der kollektive Suizid Europas?
Die Frage wird dadurch kompliziert, dass die Mitte Europas – trotz Ausnah­men – seit Napoleon eine relativ lange Friedensperiode erlebte. Trotz zyklischer Krisen florierte die Wirtschaft in mittelfristiger Hinsicht. Die meisten ­regierenden Königshäuser waren familiär verbunden und die Menschen glaubten an die evolutionäre Doktrin des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts.
Der oben zitierte Keegan tut sich schwer, einen Grund zu finden. Für ihn, den Sohn eines Kriegsteilnehmers, bleibe er ein „Mysterium“. Daher lautete auch die Einleitung seines Buches über den Ersten Weltkrieg: „Der Erste Weltkrieg war ein tragischer und unnötiger Konflikt.“ Und Neill ­Fergusson, Theoretiker des Imperiums, nannte sein Buch zum gleichnamigen Thema „Der falsche Krieg“.
Gewiss, es gab widerstreitende impe­riale Ambitionen, Neuankömmlinge wie Deutschland (das Großbritannien schnell als aufstrebende ­Industrienation ablöste) oder Italien wollten „Weltpolitik“ betreiben und rieben sich mit den etablierten „Großmächten“. Und durch die gezielte – aber nicht unausweichliche – Zerschlagung des Osmanischen Devlets in Südosteuropa entstand ein gefährliches Vakuum, an dem sich nationalistischen Leidenschaften junger Staaten mit nationalem Sendungsbewusstsein entzündeten.
Christopher Clark hat in seinem wegweisen Werk „Die Schlafwandler“ (siehe S. 16) einen Beitrag zur Geschichte des „Großen Krieges“ geleistet. Sein Buch ist wichtig, weil er sich nicht mit großen Theorien oder Schuldzuschreibungen aufhält, sondern vor allem eine Chronik der Ereignisse nachzeichnet. Die simple These, der „Kaiser“, der preußische Militarismus oder Serbiens Nationalismus seien schuld, ist nach der Lektüre von Clarks Buch nicht mehr haltbar.
Die Ursachen waren – und bleiben – vielfältig: Eine veränderte politische Großwetterlage in Europa, die durch das frühere Bündnissystem nicht mehr einzugrenzen war. Eine politische ­Klasse – von Poincaré, über Edward Grey bis Reichskanzler Bethman Hollweg –, die den Anforderungen ihrer Zeit nicht gerecht werden konnte und die sich charakterlich deklassierte. Und ein „militärisch-industrieller Komplex“ (Eisenhower) mit sagenumwobenen Gestalten wie dem Waffenhändler Basil Zaharoff („Während der Balkankriege bewaffnete Zaharoff beide Parteien. Er unterstützte Griechenland gegen die Türkei. Die Türkei gegen Serbien und, ein Jahr später, Serbien gegen Österreich.“), sowie ein expandierendes Finanzsystem (die einflussreichen franzö­sischen Banken finanzierten im Wesent­lichen die massive Aufrüstung Serbiens und Russlands). Sie alle zündelten am Pulverfass mit.
Vielleicht lagen die Ursachen der europäischen Selbstentleibung aber doch tiefer und waren tektonischen Verschie­bungen geschuldet. Erkannte doch der hellsichtige Philosoph Nietzsche Jahrzehnte vor dem Kriegsausbruch: „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei. Schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erdherrschaft.“
Dieser Artikel erschien (01/14) in der Printausgabe der Islamischen Zeitung.