Wer ist hier der Kritischste?

Ausgabe 300

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(iz). Da war dieser Kommilitone ­damals im Bachelorstudium, der sich mir als Prototyp neuartiger Verschwörungstheorien in das ­Gedächtnis gebrannt hat und bis heute nachwirkt.

Wenn man auf eine Schule ging, deren Namensgeber die Geschwister Sophie und Hans Scholl waren, dann ist der ­Geschichtsunterricht über alle anderen Fächer ausgezeichnet. In den schuleigenen Theateraufführungen, den Kunstprojekten und Ausflügen erfuhren wir eine regelrechte Ausbildung zum kritischen Denken. Nach der Schulzeit und mit dem Eintritt in die Universität war ein gewisser Narzissmus nicht von der Hand zu weisen. Sich als kritischer Verstand zu verstehen, blieb für mich ironischerweise unhinterfragt. Als Philosophiestudent ist es bekanntlich nicht schlecht, sich auch mal von den Erscheinungen abzuwenden und zu prüfen, ob die Wahrheit nicht immer schon im Rücken lag. Das denkt aber jeder und jede. Wer denkt im Ernst, dass seine Sicht auf die Dinge grundsätzliche oder doch zumindest regelmäßig völlig an den Haaren herbeigezogen ist? Das ist ja das Spannende am kritischen Denken, dass es keinen Zustand beschreibt. Wer sich im Zustand des Kritischen wägt, ist es schon nicht mehr. Das Kritische ist in Bewegung, immer zur Kehrtwende bereit, immer bereit, gleich aufzuwachen und das Vorige zu revidieren.

Wenn ich also ehrlich bin, dann war ich alles, nur nicht kritisch. Und dann traf ich den besagten Kommilitonen. Der strotzte bis zum Anschlag vor kritischem Denken. Bei unseren Kaffeetreffen nach den gemeinsamen Seminaren ließ er mich daran teilhaben: „Was glaubst du, wo all die Könige der letzten Jahrhunderte, denen die Welt gehört hat, geblieben sind? Glaubst du im Ernst, sie geben das Zepter ab und setzen sich zur Ruhe?“

Ich ahnte Ungeheuerliches.

„Kennst du das Adelsgeschlecht der Bourbonen oder das Haus Hohenzollern? Die Bilderberg-Konferenzen? Das Transatlantik-Netzwerk der deutschen Presse?“

Ich wurde verlegen. Kaum etwas davon hatte ich in meinem ach so kritischen Geschichtsunterricht. Ich erinnerte mich an die Hohenzollern. Kaiser Wilhelm der Zweite, richtig? Es war nie ganz richtig. Es fehlten immer die wesentlichen Details. „Wilhelm II“, führte mein kritischer Kommilitone aus, „ist bloß das populäre Gesicht des Adelsgeschlechts“. Er zählte Namen auf, die ich mir nicht merken konnte. Und dann zog er die Verbindungslinien. Wilhelm II, die Süddeutsche Zeitung und Ludwig XVI, alle unter einer Decke und nur die Bilderberger (wer sind die überhaupt) wissen davon. Das war zu viel an Ungeheuerlichem. Ich notierte mir die wichtigsten Schlagwörter der Namedropping-Salve und recherchierte für einige Zeit. Was herauskam: Entweder an den Haaren herbeigezogen oder eine Mischung aus Verkürzungen und Imagination, etwa wenn spekuliert wurde, wie die „Süddeutsche Zeitung” von der Atlantik-Brücke (ein Kooperationsverein zwischen den USA und Deutschland) angeblich beeinflusst werde.

Ich stellte ihn, wenn auch samtig wie ein Schüler seinen Lehrer, zur Rede. Doch keine Spur von Irritation. Neue Namen fielen wie Hagelkörner und sein Netzwerk, das von Namen und Taten zeugte, war nun ein anderes. Meine Recherchearbeit war umsonst.

Es ist diese Erfahrung, die mich prototypisch begleitet und der ich seit der Lektüre von Horkheimer den Namen „instrumentelle Vernunft“ gebe. Es ist mir natürlich möglich, meine Vernunft so zu gebrauchen, dass ihr alles Schöne und Wahre entspringt. Ich kann sie aber auch für meine Zwecke vereinnahmen. Passt mir ein Argument in meine Agenda, dann bediene ich mich dessen. Folgt aus diesem Argument ein nächstes, doch unliebsames Argument, ja dann lasse ich es fallen. Wenn so mit Argumenten umgegangen wird, dann steht nicht die Wahrheit, sondern die eigene Agenda im Zentrum. Vor dieser hat sich jede Wahrheit oder Unwahrheit zu beugen. Deshalb ist es zum Haareraufen, mit diesen Leuten zu diskutieren, denn was auch immer für ein Argument ihnen entgegengehalten wird, es ist solange wirkungslos, bis es ­ihrem Weltbild entspricht.

Offen gestanden bin ich meinem Kommilitonen von damals dankbar. Ohne ihn hätte ich nicht die Ruhe, die ich heute habe, wenn mir entgegengebracht wird: Ist doch alles nicht schlimmer als eine Grippe. Ich erwidere: Doch, beispielsweise nutzt Sars-CoV-2 die ACE-2 Rezeptoren, die es im ganzen Körper gibt. So befällt es, anders als Grippeviren, die Zellen im ganzen Körper. Und dann werde ich aufmerksam. Ist mein Gegenüber froh, dass sein Irrtum nun ein Ende hat oder wechselt er das Thema und spricht nunmehr davon, dass Bill Gates hinter allem steckt? Bei letzterem Zug lege ich, den Sicherheitsabstand wahrend, die Hand auf die Brust und entschuldige mich. Ich muss da noch eine Kolumne schreiben. Worüber nur?