„Wir haben Vertrauen verloren“

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Düsseldorf/Berlin (KNA). Ende Juni wurde bekanntgegeben: Die US-amerikanische Historikerin Lorraine Daston (69) erhält den mit 100.000 Euro dotierten Gerda-Henkel-Preis der gleichnamigen, in Düsseldorf ansässigen Stiftung.

Es handelt sich um einen der wenigen hoch dotierten Preise im Bereich der Geisteswissenschaften. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) stellt Daston ihr Forschungsgebiet vor und die Fragen, die sie umtreiben.

Frage: Frau Professorin Daston, ihr Fachgebiet ist die Wissenschaftsgeschichte. Was verbirgt sich dahinter?

Lorraine Daston: Unsere Gesellschaft ist von Wissenschaft und Technik regelrecht durchtränkt. Aber historisch gesehen ist das eher eine Seltenheit. Die Wissenschaftsgeschichte will verstehen, wie es dazu kam und welche kulturellen Vorbedingungen es dafür brauchte.

Frage: Welche Nutzen hat es, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen?

Lorraine Daston: Die Wissenschaft, wie wir sie seit dem 19. Jahrhundert kennen, ist sehr spezialisiert. Was die Wissenschaftsgeschichte den Forschern anbieten kann, ist ein Überblick über die Entwicklung ihres Fachs; aber auch beispielsweise Zugänge zu der Frage, warum man zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Forschungsprojekte ausgewählt und Alternativen verworfen hat.

Frage: Wie verhalten sich Wissen und Wissenschaft zueinander?

Lorraine Daston: Die Wissenschaft stellt nach wie vor unsere zuverlässigste Form von Wissen dar. Aber sie hat viele Berührungspunkte mit anderen Formen von Wissen. Das sehen wir beispielsweise an den weltweit verbreiteten Kenntnissen über Heilpflanzen, die wiederum für Pharmakologie oder Medizin fruchtbar gemacht werden. Von solchem Wissen unterscheidet sich die Wissenschaft dadurch, dass ihre Erkenntnisse sehr streng überprüft und getestet werden.

Frage: Ein wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist „Objektivität“. Sie haben zusammen mit Peter Galison ein ganzes Buch darüber geschrieben.

Lorraine Daston: Die Wörter „objektiv“ und „subjektiv“ haben eine lange Geschichte, die bis in die scholastischen Philosophie des 14. Jahrhunderts zurückreicht. Damals haben sie in gewisser Weise das Gegenteil von dem bedeutet, was sie jetzt bezeichnen. „Objektiv“ bezog sich auf Gegenstände des Bewusstseins und „subjektiv“ auf Gegenstände der Wahrnehmung. Erst im Lauf des 18. Jahrhunderts kam es zu Änderungen im Sinngehalt. Und erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts ist Objektivität ein Wert der Wissenschaften geworden.

Frage: Mit welchem Ziel?

Lorraine Daston: Der Gedanke, der dahinter steckte, war eine Trennung der Welt zwischen einer objektiven Außenwelt und einer subjektiven Innenwelt und die Idee, dass man nach Möglichkeit alle subjektiven Einflüsse in der Wissenschaft ausschalten wollte.

Frage: Warum?

Lorraine Daston: Weil Subjektivität als eine – wenn auch nicht einzige – Quelle möglicher Fehler galt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde „Objektivität“ vielleicht zur wichtigsten Tugend der Wissenschaft.

Frage: In den USA regiert ein Präsident, der von Objektivität und Tatsachen wenig hält. Stattdessen präsentiert Donald Trump „alternative Fakten“. Er ist nicht allein, wie ein Blick auf Verschwörungstheorien im Internet zeigt. Sind wir als Gesellschaft gerade dabei, uns von der Objektivität zu verabschieden?

Lorraine Daston: Objektivität ist wie alle anderen Ideale etwas, das der Mensch nie vollends wird verwirklichen können. Ehrlichkeit zum Beispiel ist eine moralische Tugend, die wir anstreben, aber nie zu 100 Prozent erreichen. Dennoch macht es einen riesigen Unterschied, ob wir in einer Gesellschaft leben, wo Ehrlichkeit einen Wert hat, oder nicht. Der US-Präsident legt überhaupt keinen Wert auf Ehrlichkeit. Was die Objektivität in diesem Zusammenhang anbelangt: Unser politischer Diskurs leidet deswegen aktuell unter so vielen Verschwörungstheorien, weil jeder in Verdacht gekommen ist, nur seine subjektive Meinung zu äußern. Wir haben unser Vertrauen verloren, dass irgendjemand versucht, objektiv zu sein.

Frage: Muss uns das Angst machen?

Lorraine Daston: Ich glaube schon. Insbesondere in einer Demokratie muss die Gesellschaft eine Basis haben, um einen Konsens zu erreichen. Das sind zunächst einmal Tatsachen, dann auch Werte. Wenn wir uns aber nicht mal über die Tatsachen einigen können, ist es so gut wie ausgeschlossen, noch einen Konsens zu finden.

Frage: In der Corona-Krise zeigte sich, wie wichtig es ist, sich ein Bild von einer Sache zu machen. Egal ob im Internet, in Printmedien oder Fernsehen: Ansichten des Virus wurden uns zu einem täglichen Begleiter. Wieso, glauben Sie, sind wir so daran interessiert, Dinge anschaulich präsentiert zu bekommen?

Lorraine Daston: Erstens sind Bilder für uns als Spezies unentbehrlich. Zwei Drittel von unserem Neocortex, einem wichtigen Teil der Großhirnrinde, ist für visuelle Information zuständig. Für die Wissenschaft können Bilder ein Werkzeug sein. Im Fall des Coronavirus ist die Struktur vielleicht ein Hinweis auf den Mechanismus, wie der Virus funktioniert. Was wir in den Medien zu sehen bekommen, hat dagegen eher den Charakter einer Karikatur.

Frage: Also etwas nicht Ernstzunehmendes?

Lorraine Daston: Für die Wissenschaft haben diese Abbildungen keinen großen Wert. Aber ich glaube, dass sie in der Öffentlichkeit eine große emotionale Rolle spielen. Ohne diese Abbildungen würde das Virus, das tatsächlich unsichtbar ist, deutlich bedrohlicher wirken.

Frage: Um das Verhältnis zwischen Mensch und seiner Umwelt geht es in ihrem 2019 auf Deutsch erschienenen Essay „Gegen die Natur“. Der Verweis auf die Natur, so schreiben Sie, taugt nicht als Bezugsrahmen für Ordnungen oder Ordnungsvorstellungen, weil es zu jedem Modell in der Natur ein Gegenmodell gibt. Und die menschliche Vernunft ist bekanntermaßen sehr ungleich verteilt. Wie aber kann ich den Anderen dann noch von so etwas wie den Menschenrechten oder dem Schutz von Gemeingütern wie Meere, Wälder oder Klima überzeugen?

Lorraine Daston: Wir müssen zwischen Darstellung und Rechtfertigung unterscheiden. Ich bin eher pessimistisch, dass der Mensch sich je von der Natur als Darstellungsressource trennen wird. Es ist einfach unwiderstehlich für uns, auf die Tausenden Ordnungen, die wir in der Natur finden, zu verzichten. Trotzdem werbe ich dafür, zur Rechtfertigung etwa der universellen Gültigkeit von Menschenrechten auch menschliche Bezugspunkte zu finden – dann landen wir irgendwann doch wieder bei der Vernunft.

Frage: Wie wäre es mit der göttlichen Schöpfungsordnung?

Lorraine Daston: Das will ich nicht beurteilen. Aber mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte kann ich sagen, dass Theologie in mancherlei Hinsicht die Entwicklung in anderen Disziplinen beeinflusst hat. Man denke nur an Albertus Magnus, dessen Überlegungen zu den aristotelischen Naturphilosophien von enormer Bedeutung waren. In der muslimischen Welt wären der Mathematiker und Astronom Avicenna oder der Philosoph und Mediziner Averroes zu nennen.

Frage: Das sind Beispiele aus dem Mittelalter. Setzte sich diese gegenseitige Beeinflussung in der Neuzeit fort?

Lorraine Daston: Im 17. und 18. Jahrhunderts gingen insbesondere in protestantischen Ländern Naturgeschichte und Naturtheologie Hand in Hand. Das ging erst mit Charles Darwin zu Ende.

Frage: Sie haben lange Jahre das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin geleitet, haben an den US-Eliteunis in Harvard und Princeton gelehrt. Wie blicken Sie als Frau auf die immer noch stark von Männern dominierte akademische Welt?

Lorraine Daston: Als ich 1995 nach Berlin kam, dachte ich, ich wäre im Jahr 1975 in Boston gelandet. Ein Beispiel: Unter den 210 Direktoren an Max-Planck-Instituten waren damals nur 5 Frauen, 3 davon Ausländerinnen. Das Ganze kam mir wie ein Komplott gegen Frauen vor. Ordentliche Kinderbetreuung an Universitäten und Forschungseinrichtungen fehlte. Frauen, die danach suchten, wurden als Rabenmütter abgestempelt. Aber in den vergangenen 15 Jahren hat sich das massiv gewandelt. Vielleicht sind wir weder in den USA noch in Deutschland da, wo wir sein wollen – aber Fortschritte gibt es.