Das neue Gesicht der Mangelernährung

Ausgabe 293

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Seit Jahrzehnten ist die bildliche Darstellung von Mangelernährung bei Kindern von hungernden Gesichtern geprägt. Gefährlich ausgemergelte Körper vermitteln in Medien und Spendenaufrufen die Dramatik von akutem oder chronischen Hunger. Doch dieses Bild stimmt, so die UN-Kinderorganisation UNICEF, nicht mehr ganz.

(iz). Heute gibt es leider immer noch unzäh­lige Millionen Kinder, die unter Mangelernährung leiden. Während deren Zahlen – mit namentlicher Ausnahme von Afrika – auf jedem Kontinent sinken, nimmt das Übergewicht überall – auch in Afrika – in wesentlich schnellerem Maße als früher zu. Darüber hinaus steigt die Zahl der Heranwachsenden, die falsch ernährt werden und denen es deshalb an essenziellen Nährstoffen fehlt.

Nach Angaben eines umfangreichen Dokuments, das vor Kurzem von der UN-Organisation veröffentlicht wurde, können die drei Negativphänomene – Unter- und Mangelernährung sowie Übergewicht – gleichzeitig in vielen Länder oder sogar Familien zu finden sein. In Fachkreisen wird diese Entwicklung als die dreifache Last der Fehlernährung bezeichnet. Sie kann, so UNICEF, ­Entwicklung, Wachstum und Überleben von Kindern, Volkswirtschaften und ­Gesellschaften bedrohen. Es scheint nicht besser zu werden: Einerseits soll diese Last weiterhin wachsen. Andererseits sei kaum ein Land in den letzten zwanzig Jahren bisher darin erfolgreich gewesen, Übergewicht und Fettsucht zu bekämpften.

In dem Papier „The State of the World’s Children 2019: Children, Food and nutrition“ gehen dessen AutorInnen von ungefähr 200 Millionen Kindern unter fünf Jahren aus. Weltweit erhält ein Drittel aller Kinder – sowie beinahe zwei Drittel aller Kleinkinder im empfindlichen Alter von sechs Monaten bis zwei Jahren – nicht die Nährstoffe, die es für seine Entwicklung braucht. Ein akutes Beispiel für das Leid der Mangel­ernährung bei Kindern ist der von Bürger- und Stellvertreterkrieg zerrissene ­Jemen. Hier leiden rund 19 Millionen Kinder derzeit unter fehlender oder falscher Ernährung. Nach Auswertung von Daten aus den Jahren 2013 bis 2018 litten rund 46 Prozent aller Heranwachsenden im Schulalter unter verlangsamtem Körperwachstum.

Diese wachsenden Formen der Ernährung erhöhen Gesundheitsrisiken für die Kleinen. Insbesondere sind das ärmliche Gehirnentwicklung, schwaches Lernen, zu wenig Immunabwehr, erhöhte An­fälligkeit für Infekte sowie vorzeitiger Tod. Trotz eines wachsenden techno­logischen Fortschritts bei Fragen von Gesundheit und Ernährung habe die Welt den grundsätzlichsten Fakt aus den Augen verloren, denn „wenn Kinder ärmlich essen, werden sie ärmlich leben“, sagte die leitende UNICEF-Direktorin Henrietta Fore. Millionen Kinder würden sich nicht gesund ernähren, „weil sie einfach keine bessere Wahl haben“. Es geht, so Fore, nicht nur darum, dass sie genug zu essen haben, sondern auch darum, dass sie das Richtige zu sich ­nehmen. „Das ist die Herausforderung, vor der wir heute stehen“.

Bereits zum Anfang des Lebens spielt schlechte Ernährung eine Rolle. Insbesondere gilt das für die ersten 1.000 Tage. Obwohl das Stillen längst als lebensrettend gilt – nur 42 Prozent aller Kinder unter sechs Monaten erhalten ausschließlich die Brust –, wird eine wachsende Zahl von ihnen mit Muttermilchersatz gefüttert. Zwischen 2008 und 2013 stieg der Verkauf dieser Mittel um 72 Prozent in Ländern mit einem mittleren Einkommen. Dazu gehören die bevölkerungsreichen Nationen Brasilien, China und die Türkei. Dabei hat das Stillen ausreichend bewiesen, dass es unzählige Vorteile hat. Dazu gehören die Senkung der Sterberate von Säuglingen, die Verringerung von Übergewicht und Fettsucht sowie die Steigerung schulischer Leistungen.

Wenn Kinder das schulpflichtige Alter erreichen, sind sie regelmäßig unge­sunden, industriell verarbeiteten Lebensmitteln ausgesetzt. Etwa 42 Prozent der Jugendlichen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen konsumieren mindestens einmal täglich ein zuckerhaltiges Erfrischungsgetränk und 46 Prozent essen mindestens einmal wöchentlich Fastfood. In einkommensstarken Ländern sind es 62 beziehungsweise 49 Prozent. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist weltweit eine junge Bevölkerung mit chronischem Übergewicht, die auf allen Kontinenten zugenommen hat. Von 2000 bis 2016 stieg der Anteil Kinder über Normalgewicht im Alter von fünf bis 19 Jahren von 10 auf 20 Prozent. Es handelt sich dabei um mindesten 340 Heranwachsende in dieser Altersgruppe. „Das ist ein schockierend schneller Anstieg“, erklärte Laurence Chandy von UNICEF. „Es ist schwierig, irgendeinen anderen Indikator für Entwicklungen zu finden, anhand derer man solche eine rasante Verschlechterung ablesen kann.“

UNICEF sieht veränderte Lebensbedingungen und -weisen als systemische Ursache für diese Entwicklung an. Familien verließen in größerem Maße das Land und werden Stadtbewohner. Mehr Frauen arbeiten und versuchen gleichzeitig, ihre Berufstätigkeit mit ihrer Mutterschaft in Einklang zu bringen. Darüber hinaus spielten auch die ökologischen Veränderungen (Klimawandel, Artenvielfalt, Bodenverschlechterung etc.) eine Rolle.

Einen zusätzlich wichtigen Faktor stellen die veränderten globalen Einkommensverhältnisse dar. Industriell verarbeitete Lebensmittel und Getränke werden immer billiger und sind leichter verfügbar. Das Maß des hohen Übergewichts bei Kindern, das früher das „Privileg“ reicher Länder war, findet sich nun in Staaten mit mittlerem und niedrigem Einkommen – insbesondere in Afrika und Ländern Südasiens. So hatte Vietnam 1999 mit unter 1 Prozent die geringste Rate für Fettleibigkeit weltweit. 2016 lag sie bei fast zehn Prozent. In Südafrika sprang sie von 3,3 auf 24,8 Prozent.

UNICEF hat Empfehlungen einer nahrhaften, sicheren und bezahlbaren Ernährung für Kinder in aller Welt formuliert: Familien zu bestärken, ihre Nachfrage nach ungesunden Lebens­mitteln zu verringern. Lebensmittel­produzent und -händler zu motivieren, gesündere bezahlbare Lebensmittel bereitzustellen. Es braucht genaue, leicht verständliche Etikettierung. Verbesserung der Ernährung durch Schutz von Wasser sowie Verbesserung von Abwassersystemen.

Sollte sich kein nennenswerter Wandel einstellen, wie er von UNICEF gefordert wird, kann sich die Triade aus Mangel- und Fehlernährung sowie Übergewicht beziehungsweise Fettsucht weiter vergrößern. Eine separate Studie, die ebenso vor Kurzem veröffentlicht wurde, der World Obesity Federation, geht davon aus, dass die Zahl fettleibiger Kinder bis 2030 um weitere 100 Millionen steigen wird.