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Dževada Šuško über bosnische Perspektiven auf den Ukrainekrieg

Ausgabe 323

Dževada Šuško

(iz). Während in verschiedenen Teilen der Ukraine gekämpft wird, strahlt dieser Konflikt auch auf die Länder des Westbalkans aus; insbesondere nach Bosnien-Herzegowina. Hier besteht seit Monaten die Befürchtung, dass die sowieso schon anhaltenden Spannungen, die von der serbischen Entität und ihrer Führung ausgehen, durch weitere Eskalation seitens Moskaus erhöht werden können.

Die BosniakInnen blicken aber nicht nur mit einem wachsamen Auge auf die jetzige Lage, sondern sehen auch Parallelen zwischen dem Angriff Russlands und ihren eigenen Erfahrungen. Vor 30 Jahren begann der Bosnienkrieg, der zu über 100.000 Toten, Verletzten und Vertriebenen führte.

Über diese Fragen sowie die Solidarität der BosniakInnen mit der Ukraine und ihre Rolle als europäische MuslimInnen sprachen wir mit Dr. Dževada Šuško. Šuško ist derzeit stellvertretende Professorin für Internationale Beziehungen an der Internationalen Universität Sarajevo. Sie ist auf europäische Muslime spezialisiert und in der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien engagiert.

Islamische Zeitung: Liebe Dževada Šuško, kurz nach Beginn des Krieges wurde die Bosnische Nationalbibliothek in Sarajevo in den ukrainischen Nationalfarben angestrahlt. In den Folgetagen waren verschiedene Solidaritätsaddressen aus Bosnien zu hören. Wie stehen die BosniakInnen zum Krieg?

Dževada Šuško: Die bosnischen Muslime beziehungsweise BosniakInnen haben vor allem wegen ihrer Erfahrung mit Vertreibung und Völkermord im Krieg 1992-95, aber auch während des Zweiten Weltkrieges eine klare Haltung gegenüber zivilen Opfern in Kriegssituationen. Sie wissen, welches Leid Opfer von Kriegsverbrechen erfahren. Die traumatischen Erinnerungen an den letzten Krieg sind noch sehr präsent. Was ich damit sagen will, ist, dass die bosnischen Muslime an der Seite der Opfer stehen, an der Seite der ukrainischen Bevölkerung, die jetzt Hunger, Tod, Vertreibung und Zerstörung ihres Eigentums sowie ihrer Städte erlebt.

Die bosnischen Muslime haben Ähnliches erfahren müssen. Auch sie wurden von europäischen Ländern sowie von den USA, Australien und Neuseeland als Flüchtlinge aufgenommen. Diese Solidarität werden sie nie vergessen. Daher auch die Solidaritätsbekundungen der bosnischen Öffentlichkeit vor allem in sozialen Medien.

Die Nationalbibliothek in der Altstadt von Sarajevo – die Vijećnica – wurde während des Krieges bewusst niedergebrannt. Zwei Millionen Bücher und Manuskripte gingen so in Flammen auf. Nichtsdestotrotz wurde sie wiederaufgebaut und ist ein architektonisches Meisterwerk, das ich jedem Besucher empfehle. Die Ausstrahlung der ukrainischen Nationalfarben auf der Nationalbibliothek hat daher noch eine stärkere Symbolik. Es ist viel mehr als nur eine Solidaritätsbekundung.

Islamische Zeitung: Vor beinahe 27 Jahren endete der mörderische Krieg gegen die BosniakInnen. Fühlen sich die Menschen an ihn erinnert, wenn sie die Bilder aus der Ukraine sehen, und stellt das für traumatisierte Menschen eine erneute Belastung dar?

Dževada Šuško: Die Menschen in Bosnien-Herzegowina haben sich noch nicht vom Krieg erholt. In genau diesem Jahr – 2022 – ist es 30 Jahre her, dass der Bosnienkrieg begann. Auch wenn das Land zum großen Teil wiederaufgebaut wurde, sind viele Vertriebene nicht zurückgekehrt. Die meisten kommen aus dem Teil von Bosnien-Herzegowina, der mit dem Daytoner Friedensvertrag der Entität Republika Srpska (RS) zugeteilt wurde. Die in der RS lebenden BosniakInnen sind alltäglichen Diskriminierungen ausgesetzt – sei es in der Schule, in öffentlichen Einrichtungen oder auch auf dem Arbeitsmarkt.

Der Völkermord in Srebrenica wird vorwiegend von serbischer Seite geleugnet. Verherrlichung von verurteilten Kriegsverbrechern sind keine Seltenheit. Wandbemalungen mit dem Porträt von Ratko Mladic sind in mehreren Orten in RS, aber auch in der Hauptstadt Serbiens in Belgrad zur Normalität geworden. Die führenden serbischen Politiker bedienen sich eines nationalistischen Narratives aus den 1990-er Jahre.

Zudem spielt auch hier Russland außenpolitisch und geostrategisch eine wichtige Rolle. Einzelne führende serbische und kroatische Politiker sowie Parteien stehen bereits unter russischem Einfluss. Das bedeutet für Bosnien-Herzegowina eine ernsthafte Destabilisierung und hohes Konfliktpotential. Die Menschen sind sich dessen bewusst. Es wird täglich von einem neuen potenziellen Krieg gesprochen. Wenn dann noch die Bilder aus der Ukraine in den Medien ausgestrahlt werden, weckt das in der Tat bei der bereits traumatisierten Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina schmerzhafte Erinnerungen. Die Regale mit Mehl, Zucker und Öl standen in den Supermärkten zeitweise leer, da die Menschen vor einem neuen Krieg und vor Hunger Angst haben.

Islamische Zeitung: Mit Abstand betrachtet, sehen Sie Parallelen im Vorgehen der serbischen und russischen Aggressoren?

Dževada Šuško: Es gibt in der Tat sehr viele Parallelen. Städte werden zerstört, Krankenhäuser angegriffen, die Zivilbevölkerung getötet, das kulturhistorische Erbe in Schutt und Asche gelegt, die Infrastruktur vernichtet und selbst der Zugang zu humanitärer Hilfe wird verweigert. Zudem kämpfen jetzt in der Ukraine und damals im Krieg in Bosnien-Herzegowina die Menschen ohne Strom, Wasser und Heizung ums Überleben. All das erinnert an die Kriegsverbrechen des serbischen und kroatischen Militärs. Vor allem Sarajevo – die Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina – wurde mehr als drei Jahre lang von allen Seiten umzingelt, die Einwohner wissentlich ohne Strom und Wasser gehalten und gezielt von Scharfschützen beschossen. Alleine dabei kamen 1.601 Kinder kamen ums Leben. Die Belagerung von Sarajevo dauerte genau 1.425 Tage und gilt als die längste im 20. Jahrhundert. Auch in der Ukraine geht das russische Militär ähnlich vor und hat kein Mitleid mit den Menschen. 

Das russische und serbische Militär haben demnach eine geradezu identische Kriegsführung. Meine Einschätzung ist, dass – genau wie in Bosnien-Herzegowina – die Rückkehr der Vertriebenen in ihre besetzten Heimatorte erschwert sein wird. Ebenso würde es mich nicht überraschen, wenn russische Kriegsverbrecher als Helden gefeiert werden, die Opfer erniedrigt und ihr Leid kleingeredet wird. Es ist symptomatisch, dass die russische Seite diesen offensichtlichen Angriffs- und Zerstörungskrieg in der Ukraine nicht als Krieg bezeichnen will. Solche Leugnungen der Tatsachen haben wir auch in Bosnien-Herzegowina. Der Internationale Kriegsgerichtshof hat den Völkermord in Srebrenica anerkannt und zahlreiche Kriegsverbrecher verurteilt, aber die führende serbische Politik ist nicht bereit, die Wahrheit zu akzeptieren. Wir warten in Bosnien-Herzegowina immer noch auf einen serbischen Politiker, der wie Willy Brandt in Warschau mit einem Kniefall in Srebrenica die Opfer um Vergebung bittet.

Es gibt aber auch Unterschiede zwischen beiden Fällen. Die internationale Staatengemeinschaft beziehungsweise die UN haben in Bosnien-Herzegowina ein Waffenembargo eingeführt. Das ging nur zu Lasten der Armee von Bosnien-Herzegowina, die zum größten Teil aus BosniakInnen bestand und den Erhalt des multiethnischen Landes verteidigte. Es erschwerte die Verteidigung des angegriffenen Staates und der Zivilbevölkerung, die von Anfang an ethnischen Säuberungen ausgesetzt waren. Im Vergleich dazu hatte die serbische Seite die Unterstützung von Serbien und Montenegro sowie der Jugoslawischen Volksarmee (JNA), die damals als eine der führenden Armeen europaweit galt. Auf kroatischer Seite gab es die Miliz HVO. Die BosniakInnen waren auf sich gestellt. Den Ukrainern geht es in dieser Hinsicht vergleichsweise besser. Ihnen hilft die internationale Staatengemeinschaft militärisch und erlaubt ihnen, sich zu verteidigen.

Ein weiterer Unterschied zwischen dem Krieg in Bosnien-Herzegowina und Ukraine ist, dass ausländische Politiker, Menschenrechtler, Sportler und Intellektuelle Bosnien-Herzegowina während des Krieges besucht haben. Zum Beispiel der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, der französische Staatspräsident Francois Mitterrand, der Friedensnobelpreisträger und Überlebende des Holocaust Elie Wiesel, die Schriftstellerin und Regisseurin Susan Sontag, Pazifistin und Sängerin Joan Baez oder auch Juan Antonio Samaranch, der ehemalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, besuchte zehn Jahre nach den Olympischen Winterspielen 1994 Sarajevo. Das waren in der Tat mutige Gesten, die einen hohen Symbolwert hatten und der Bevölkerung viel bedeuteten. Dabei wurde die Weltöffentlichkeit noch mehr über den Krieg in Bosnien-Herzegowina informiert, wodurch viel humanitäre Hilfe mobilisiert wurde. Besuche dieser Art gab es in der Ukraine bisher noch nicht.

Islamische Zeitung: Wie haben die Rijaset und andere Organe bosnischer Muslime auf den Krieg reagiert? Es gab Berichte von Spendensammlungen in Moscheen…

Dževada Šuško: Die Islamische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina hat innerhalb von wenigen Tagen, nachdem die Ukraine und ihre Einwohner von Russland militärisch angegriffen wurden, 50.000 Euro an das ukrainische Rote Kreuz geschickt. In den folgenden Sitzungen wurde mehrfach der Krieg in der Ukraine thematisiert. Es folgte auch ein Aufruf an alle bosnischen Muslime in Bosnien-Herzegowina aber auch in der Diaspora – vor allem in Nordamerika und Europa, aber auch in Australien und Neuseeland – in Moscheen Spenden für die ukrainische Bevölkerung zu sammeln.

Die Islamische Gemeinschaft hat sich stets auch in anderen Krisensituationen bereit erklärt, Geld zu sammeln, um Menschen in Not zu helfen. Es geht dabei auch um einen integralen Bestandteil des Islamverständnisses und der Islampraxis, Solidarität und Empathie für diejenigen zu zeigen, die Opfer von Aggression sind und deren Leben gefährdet ist. Es ist nicht allzu lange her, dass die bosnischen Muslime selbst sich in einer ähnlichen Situation befanden und sehr dankbar all die Spendensammlungen aus der ganzen Welt empfangen haben.

Islamische Zeitung: Bosnien und Herzegowina befindet sich momentan selbst in einem Moment erhöhter Spannungen sowie den Eskalationen seitens der RS unter Dodik. Gerade eben erst war Außenministerin Baerbock in der Region. Was müssen andere Europäer und ihre Institutionen jetzt tun, um weitere Aggressionen in Ihrer Heimat zu unterbinden?

Dževada Šuško: Die Krise in Bosnien ist komplizierter als die Krise in der Ukraine. Das Mitglied des Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina Milorad Dodik und seine regierende Partei in der RS sind der verlängerte Arm Russlands und der russisch-chinesischen Politik. Diese verbreiten ihre Weltanschauungen und geostrategischen Interessen nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern auch im ganzen Balkan. Wenn man die Situation näher ansieht, stellt man fest, dass auch die bosnischen Kroaten unter russischem Einfluss stehen. Europa und die Europäer sollten dringend den Einfluss Russlands stoppen und Bosnien-Herzegowina helfen, so schnell wie möglich einen Kandidatenstatus für die EU und die NATO zu erlangen. 

Ansonsten ist Bosnien-Herzegowina Putins Plänen ausgeliefert. Wenn der russische Präsident den Entschluss fasst, einen Krieg in Bosnien-Herzegowina zu führen, dann wird es wieder Krieg geben. Die Islamische Gemeinschaft und ich persönlich sehen keine Alternative als den Weg der EU und der NATO für Bosnien-Herzegowina.

Islamische Zeitung: Die bosniakischen MuslimInnen genauso wie die ukrainischen gehören zu den traditionellen muslimischen Minderheiten Europas mit einer langen Geschichte. Haben Sie das Gefühl, die globale muslimische Öffentlichkeit nimmt beide und ihre Situation ausreichend zur Kenntnis?

Dževada Šuško: Die Öffentlichkeit im Allgemeinen scheint nicht mit der Lage der Muslime in der Ukraine und in Bosnien-Herzegowina vertraut zu sein. Es ist geradezu traurig, dass die globale muslimische Öffentlichkeit kaum Interesse zeigt, mehr über muslimische Minderheiten Europas zu erfahren. Die bosnischen Muslime bilden die absolute Mehrheit in Bosnien-Herzegowina und gehören zu den ältesten Gesellschaften Europas. Sie sind nicht nach Bosnien eingewandert, sondern als autochthone Einwohner zum Islam konvertiert.

Im Ausland dagegen, wie zum Beispiel in Deutschland, haben sie gezeigt, dass sie sich als Minderheit sehr gut integrieren. Ihre Adaptationsfähigkeit haben sie vielfach in der Geschichte bewiesen. Sie haben gelernt, sich an verschiedene politische und gesellschaftliche Systeme anzupassen, und dabei ihre religiöse Identität zu bewahren. Ein gutes Beispiel ist die gelungene Integration in die österreichisch-ungarische Monarchie, in der die Bosniaken sogar Adelstitel erhielten und das Bosniakenregiment für seine Loyalität hoch gelobt wurde. Mit dem Rückzug des Osmanischen Reiches kam die europäische Identität der BosniakInnen und deren Zugehörigkeit zu Europa erst recht zur Geltung.

Außerdem nimmt man auch selten wahr, dass die bosnischen Muslime durch die Jahrhunderte hinweg gelernt haben, mit anderen Religionen und Ethnien zusammenzuleben, denn Bosnien-Herzegowina war schon immer ein multi-ethnisches und multi-religiöses Land. Diese Diversitätsverträglichkeit ist – finde ich – eine enorme Chance für Europa und viele andere Gesellschaften könnten von diesen Erfahrungen der bosnischen Muslime lernen. Das Motto der EU ist ja „Unity in Diversity“; und demnach sind die bosnischen Muslime zweifellos auch Träger europäischer Werte.

Islamische Zeitung: Liebe Dževada Šuško, wir bedanken uns für das Interview.