Familien schlafen unter Ästen. Jungs müssen sich bewaffneten Gruppen anschließen, Mädchen sich prostituieren: Das Leid der Menschen im Jemen ist kaum noch zu steigern. Vor dem Hintergrund einer drohenden Hungersnot sollen bei eine Geberkonferenz neue Mittel zusammenkommen. Von Christiane Oelrich und Johannes Sadek
Genf/Sanaa (dpa). Hungersnot – eigentlich ein Schreckensszenario aus längst vergangenen Zeiten, aber im Jemen, dem Nachbar des ölreichen Saudi-Arabiens, kann es bald bittere Realität werden. „Das Land steht am Abgrund, vor dem Kollaps“, sagt der UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock. Er hat drastische Worte: „Wenn wir nicht genügend Geld zusammenbekommen, werden wir die schlimmste Hungersnot seit Jahrzehnten erleben. Wir müssen verhindern, dass Menschen langsam und qualvoll verhungern.“ Bei einer Geberkonferenz hoffen die UN diesen Montag möglichst auf 3,85 Milliarden Dollar (3,15 Mrd Euro).
Es gibt wenig zu essen, und die meisten Menschen haben keinerlei Einkünfte. Kämpfe haben Eman, eine Mutter mit zwei Kindern, vor sechs Jahren aus ihrer Heimat vertrieben. „Meine Kinder gehen praktisch jeden Abend ohne Essen ins Bett und bleiben bis zum Morgen hungrig“, berichtete sie Lowcock. Aschraf wurde mit Eltern, Geschwistern und zehn Kindern schon vier Mal vertrieben. „Wir leben jetzt in einem Tal unter Bäumen und haben nur Äste, um uns zuzudecken.“ Salma, die fünf Kinder hat und einen kranken Mann versorgt, sagte: „Ich kann nicht mal betteln gehen, weil niemand etwas abzugeben hat.“
2015 verschärfte sich der Bürgerkrieg, als Saudi-Arabien mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und weiteren Verbündeten mit schweren Bombardements im Jemen begann. Sie wollen die Huthi-Rebellen, die heute weite Teile des Nordens beherrschen, zurückdrängen. Bis dahin war der Jemen zwar arm, hatte aber eine einigermaßen funktionierende Wirtschaft, eine nationale Infrastruktur und eine Exportbasis. Alles sei hin, sagt Lowcock heute, die Felder zerbombt, die Fischerboote zerstört. „Es ist eine einzig von Menschen gemachte Hungersnot, eine Entscheidung von Mächtigen über Machtlose“, sagt er.
Humanitäre Helfer kämpfen Woche für Woche, um die Leidtragenden des Krieges mit dem Nötigsten zu versorgen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hilft etwa mit Lebensmitteln, Material für Notunterkünfte und Bargeld, damit die Familien Medikamente für kranke Angehörige kaufen oder ihre Miete bezahlen können. „Das hält sie über Wasser, aber es holt sie nicht aus der Armut“, sagte Jean-Nicolas Beuze, UNHCR-Chef im Jemen, der Deutschen Presse-Agentur.
Reis, Brot, Zwiebeln, Tomaten – mehr können sich viele Familien im Jemen nicht leisten. Beuze berichtet von der Begegnung mit einer Mutter mit sieben Kindern, die zehn Autominuten einer Kriegsfront in Tais im Südwesten lebt. Die Kinder betteln und sammeln Blechdosen, um sie an Geschäfte zu verkaufen. 16 Millionen Menschen im Land hungern, darunter Familien wie diese. Weitere 5 Millionen stehen kurz vor einer Hungersnot. Um dennoch zu überleben, sagt Beuze, schließen Jungs sich bewaffneten Gruppen an, Mädchen würden sich prostituieren.
Auch die Gefechte haben sich verstärkt, seit die Huthis eine neue Offensive auf die strategisch wichtig Stadt Marib begonnen haben. 800.000 Vertriebene haben dort nach UN-Angaben Zuflucht gesucht. An rund 50 Fronten wird gekämpft, Aussichten auf eine politische Lösung scheinen in weite Ferne gerückt. Die Huthis, so die Einschätzung von Experten, fühlen sich durch die neue US-Regierung unter Präsident Joe Biden sogar bestärkt. Biden hat angekündigt, keine Kampfhandlungen im Jemen mehr zu unterstützen, und dem saudiarabischen Militärbündnis damit wichtige logistische und Geheimdienst-Hilfe der USA entzogen.
Zur Geberkonferenz schlagen Hilfsorganisationen Alarm. Diese sei ein „Schlüsselmoment“ für die Weltgemeinschaft, um nach bald sechs Jahren „menschlich verursachter Katastrophe“ mehr zu helfen, teilen zwölf dieser Organisationen gemeinsam mit, darunter Save the Children, CARE und der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC). Ärzte ohne Grenzen (MSF) erklärt, dass Hunderte Gesundheitseinrichtungen zerstört worden oder wegen fehlender Mitarbeiter und Mittel geschlossen seien. Die Forderung ist dabei stets dieselbe: mehr finanzielle Hilfe. Für 2020 kam nur etwa die Hälfte der benötigten Summe für den Jemen zusammen.
Bundesaußenminister Heiko Maas kündigte vor der Konferenz an, dass auch Deutschland die Mittel für das Land aufstocken wolle. „Heute geht es nicht nur darum, im Jemen eine akute Hungersnot abzuwenden. Neue blutige Kämpfe um Marib, Cholera- und Polio-Ausbrüche, Heuschreckenplagen – die Not der Menschen sprengt jede Vorstellungskraft“, erklärte der SPD-Politiker. „Heute werden wir noch einmal mit einer substanziellen neuen Hilfszusage vorangehen und eindringlich dafür werben, dass andere es uns gleich tun.“ Hoffnung auf echte Besserung gebe es jedoch nur, wenn es endlich gelänge, die Kämpfe zu stoppen.
UN-Nothilfekoordinator Lowcock sieht dennoch einen Hoffnungsschimmer. Auch Saudi-Arabien suche etwa einen Weg aus der vertrackten Lage. Mit Verweis auf die Terrororganisationen Al-Kaida und die Terrormiliz Islamischer Staat, die ebenfalls im Jemen aktiv sind, bleibt Lowcock aber realistisch: „Auch mit einem Waffenstillstand wird aus dem Jemen nicht nächste Woche ein Dänemark.“