Eine Kurzgeschichte von Ahmet anlässlich zum 275. Geburtstag von Johann Wolfgang von Goethe.
(iz). Der Mondschein erfüllte das Herz des jungen Gottlieb, während er in der Pause das monumentale Braunschweiger Theater bestaunte. Nebulös schien ihm die Zukunft. Eine von Krisen geplagte Welt zog düstere Wolken vor die Hoffnungssonne und verdunkelte seinen Ausblick. Wo die Strahlen nicht hinfielen und eine Aussicht auf Erfolg boten, wurde es kalt im Herzen. Das Bewusstsein, mit genügend Bildung und der Arbeit an sich, erfolgreich sein zu können, litt stark.
Die mangelnde Wärme der Hoffnungssonne führte zu zwischenmenschlicher Kälte in der Gesellschaft. Die Frage danach, was Erfolg überhaupt bedeutet, ließ ihm seit Monaten keine Ruhe.
„Ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft?“, fragte der Polarstern der Deutschen in seinen Lehrjahren…
Und plötzlich fand Gottlieb sich im Theater wieder. Die Stadt, in der Faust uraufgeführt wurde, führte tatsächlich wieder Goethes Faust auf: Braunschweig. Wie Weimar in Verruf geraten durch die faschistischen Machenschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Schatten der Geschichte schienen immer dann zu brechen, wenn Gottlieb in Goethes Werken las.
Das erste Mal sah er heute ein Werk des Meisters im Theater deklamiert! Das heißt vorgetragen. Das Wort lernte er von Wagner… Immer wieder schlug Gottlieb die Worte nach, die er nicht kannte. Dadurch wuchs sein Wortschatz mehr und mehr und mehr. Er träumte davon alles ausdrücken zu können, keine Regung und Empfindung sollte es geben, die er nicht in Worte kleiden kann…
Gedankenversunken stand er in der Pause da. Allein war er ins Theater gegangen, weil er ganz bei sich sein wollte. Das war er. Gottlieb dachte über das Stück nach und suchte auf seinem Smartphone nach den Worten des Direktors im Vorspiel. Er schien sie das erste Mal gehört zu haben…
„Der Worte sind genug gewechselt,
Lasst mich auch endlich Taten sehn!
Indes ihr Komplimente drechselt,
Kann etwas Nützliches geschehn.“
„Sich gegenseitig falsche Komplimente machen und sich geziert verhalten – das hält davon ab, nützliche Dinge zu tun… Ob sich auch andere darüber Gedanken machten? Hatten nicht alle dasselbe gehört? Ob…“ – „Guten Abend.“ Gottlieb sah auf. Jemand hatte ihn angesprochen. Frisch aus seinen Gedanken gerissen, versuchte er sich zu besinnen. „Guten Abend.“, erwiderte er. „Sind Sie allein hier? Können Sie dem Stück folgen?“, fragte eine nicht mehr ganz so junge Dame, die mit einer weiteren, sich reserviert betragenden Dame vor ihm stand.
„Ob ich dem Stück folgen kann?“, fragte sich Gottlieb. „Wieso fragt sie mich das denn? Weil ich vergleichsweise jung bin?“ Als sie keine Antwort erhielt, sprach die Dame langsamer: „Ver-stehen Sie mich? Gibt es The-a-ter in Ih-rem Land?“ Das war Gottlieb zu blöd. Sein Vater war Indonesier, seine Mutter Deutsche. Er hat etwas dunklere Haut als ein typischer Deutscher, weshalb er immer mal wieder entfremdend behandelt wurde.
Doch heute war er hier, um Goethes Gedankenwelt aufgeführt zu sehen. Goethe war ihm Heimat. Die erhebenden Gefühle wollte er sich an diesem Abend nicht trüben lassen. „Ich heiße Gottlieb. Yusuf Gottlieb. Ich befinde mich gerade in meinem Land. Verzeihen Sie, ich war in Gedanken gerade bei Faust und seinen Worten, während der Pudel bellte.“ – „Ach, sie sind Halbdeutscher, aber heißen Yu-suf? Gottlieb ist ein so schöner, alter Name. Welches Elternteil ist denn Deutsch?“ – „Ich würde lieber über den Inhalt des Stücks sprechen. Was denken Sie, wie Fausts Worte an den Pudel verstanden werden können?
‚Knurre nicht, Pudel! Zu den heiligen Tönen,
Die jetzt meine ganze Seel umfassen,
Will der tierische Laut nicht passen.’“
„Wieso lenken Sie denn vom Thema ab? Können wir uns überhaupt nicht zivilisiert unterhalten? Hat Ihnen Ihr deutsches Elternteil überhaupt keine Manieren beigebracht?“ – Gottlieb nahm einmal mehr ausdruckslose Gesichtszüge an. „Entschuldigen Sie, ich muss mich vor Ende der Pause noch frisch machen.“, sagte Gottlieb und ging. Im Gehen hörte er die Dame zu ihrer Freundin sagen: „Man kann überhaupt nicht mit ihnen reden. Sie wollen nur unter sich bleiben und mit ihresgleichen sprechen. Ich habe es versucht.“
Als Reaktion murmelte Gottlieb bloß die Worte „Knurre nicht, Pudel…“ und wusch sich das Gesicht. Er versuchte sich das Gemüt von dieser Begegnung nicht trüben zu lassen, damit er empfänglich bleibt für die Eindrücke der Kunst. „Die Deutschen können die Philisterei nicht loswerden.“, beobachtete auch Goethe… Immer wieder war ihm der größte aller Deutschen ein Trost. In der Kunst, im Privaten… immer wieder Goethe.
Es war Goethe, Goethe, Goethe und kein Ende. Goethe war ein Ozean, aus dem zu schöpfen ihn zuweilen selbst erschöpfte, aber aus Goethes Geist kamen immer neue Tropfen, die inspirierten. Nur wer selbst große Aufnahmefähigkeit besaß, konnte seine Leidenschaft verstehen.
Nach wenigen Minuten war Gottlieb wieder ganz im Stück und konnte darüber die Unannehmlichkeit vergessen. Er lauschte mit herzlicher Andacht den Szenen und versank immer wieder in Gedanken über die Geschichte und das Schicksal Deutschlands… Plötzlich ertönten die Worte: „… ist gerichtet!“ – „Ist gerettet!“ Ein Seufzer drang aus seinem Herz. Das Stück war vorbei. Das Publikum applaudierte. „Würden wir doch nur die aufgeführten Weisheiten in dem Maße verinnerlichen, wie wir applaudieren.“, dachte Gottlieb. Auf dem Weg nach Hause fielen ihm immer wieder die Worte ein: „Gerichtet oder gerettet… Hmm…“
Sein Gefühl war erregt und die Nacht schärfte seine Wahrnehmung. Seine Umgebung jedoch nahm er nur unmerklich wahr. Er war fokussiert auf jede Regung in seinem Herzen. Er fühlte die Atmosphäre seiner Umwelt und wollte sie in Worte fassen. Das bekannte Gefühl: Alles wird langsamer. Die Welt leiser. Seine Gefühle werden zur absoluten Realität. Und plötzlich strömen Worte. Er selbst kann sich nicht ganz erklären, woher sie kommen. Als würde ein besonderer Sinn sie aus einer geisterhaften Atmosphäre saugen. Es schien ihm selbst verrückt, wie entrückt er seiner Außenwelt werden konnte…
Die Sehnsucht nach Goethe konnte nicht größer sein, als in diesem Augenblick. Er wollte sich den Eindrücken der goetheschen Gedanken hingeben und wurde, wie Faust vom Pudel, durch Themen wie Herkunft gestört. Unfähig über die Inhalte Goethes zu sprechen. Unfähig zu verstehen, warum Goethe seine Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten oder den West-östlichen Divan schrieb. Deutsche wie die Dame heute Abend waren lediglich stolz darauf, einen Goethe zu haben, um sich vor anderen Kulturen hervorheben zu können, nicht um die universalen Weisheiten, die Goethe erkannte und festhielt auf Deutsch, auszuleben.
Das war das Elend der deutschen Gesellschaft. Alles wird aus einer ideologischen Brille heraus betrachtet… Was darf angesichts der gegenwärtigen politischen Stimmung ausgesprochen werden, was nicht – das schränkt das Denken der deutschen Gesellschaft dermaßen ein, dass sie zu Marionetten eines Dresseurs wurden, der wiederum nur in ihrer Phantasie existierte. Genau davor wollte doch Goethe seine Leute befreien.
Ein Goethe tut not. Ein Goethe… Goethe ist das Symbol eines Menschen, der auf angemessene Weise unbequemliche Wahrheiten ausspricht, ein Mensch, der die schöne Seele darstellt, auch wenn sie andere erschreckt. Rilke hatte es nach Goethe verstanden, dass Engel zu Anfang schrecklich anmuten… Goethe, wo ist nur jemand, der deinen Denkstil zu verstehen sucht?! Und Gottlieb begann zu dichten…
Wo bist du nur, o großer Meister!
Dein Volk, es lebt bloß in Umnachtung.
Ich rufe deines Geistes Geister
Und leb in herzlicher Betrachtung.
Hast du in jener andern Welt
Gesehen, was dein Volk getan?
Weil ihnen Künstlichkeit gefällt,
Fehlt ihnen herzlicher Elan.
Kannst du erscheinen und sie lehren,
Was Weisheit ist und Lebensstil,
Du lehrst im eignen Herz zu kehren,
Oh sprich! Verlange ich zu viel?
Eine Stimme erklang:
„Hast du mir weiter nichts zu sagen?
Kommst du nur immer anzuklagen?
Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?“
Gottlieb hatte sich allein in seinem Zimmer gewähnt. Er drehte sich um und ein gewaltiger Schreck durchlief seine Venen. Er holte tief Luft und versuchte zu atmen. Er schüttelte die Hände, fasste sich am Kopf und ging sich durch die Haare: Johann Wolfgang Goethe stand vor ihm. (Stille.)
„Goethe…“, sagte Gottlieb mit zerbrechlicher Stimme. Seine Augen wurden feucht. Er schlug seine Lider zu und senkte den Kopf. Mit Tränen im Gesicht sah er auf. Vor ihm stand Johann Wolfgang Goethe. „Es ist so viel passiert, seit Ihr…“ Gottlieb verspürte im Herzen die Schwere der Geschehnisse in deutschen Landen seit Goethes Verscheiden. Es gab so viel zu sagen. Die Seligkeit ihn nun vor sich zu sehen, ließ ihn verstummen… – Plötzlich brach es aus Gottlieb heraus…
‚Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht,
Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.’“
Gottlieb schluckte. Er hatte soeben Goethe einige der innigsten Verse, die je in deutscher Sprache verfasst worden, vorgetragen. Goethe sah ihn an. Mit bedächtiger Anmut machte er einen Schritt auf den jungen Mann zu und umarmte ihn. Gottlieb konnte sich nicht mehr halten. Tränen und Schluchzen brachen ihm aus Herzensgrund heraus. Der Meister hielt ihn, wie ein Vater seinen Enkel hält. Er schenkte ihm Wärme und ließ ihn fühlen, was es heißt erwärmt zu werden. Sie verharrten einige Minuten in inniger Umarmung – bis Gottlieb tief Luft holte. Dadurch wurde Goethe gewahr, dass er im Begriff war, sich zu fassen. Der Meister sah ihn an und sprach die Verse:
„‚Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;
Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu,
Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.’
Er lehre dich die Seelensprache,
Die Kunst Inwendiges zu sagen;
So weine herzlich, herzlich lache,
So überwindest du die Klagen.
Nun sprich bedenkend, wer du bist
Und wer dir gegenübersteht,
Beklagend Bessern ist bloß List,
Wer Schönes preist und schafft, verdreht
Die Herzen und die Welt. Vermisst
Wird dieser Menschenschlag, der sät.“
Der junge Dichter lauschte andächtig jedem einzelnen Wort des Mannes, der ohne der Künstlichkeit zu verfallen, so kunstvoll mit ihm sprach. Das Leben der deutschen Gesellschaft bestand darin, dass sie ihre Kaltherzigkeit als Sachlichkeit bezeichneten. Der Kontakt zu Menschen, denen die Fähigkeit fehlt, die Welt und das Leben mit dem Herzen eines anderen Menschen fühlen zu können, glich einer Wüste.
Die Worte Goethes waren nicht bloß eine deutsche Oase, sie waren mehr. Sie glichen einem strömenden Platzregen und bewässerten seinen Herzensgrund. Blumen seiner Seele erhielten ihre Zuwendung, um Blüten sprießen zu lassen, die dem deutschen Bedürfnis entsprechen. Diese Blumen werden vom deutschen Pöbel und der deutschen Öffentlichkeit, die nach dem Mund des Pöbels spricht, immer wieder zertreten. Die folgenden Worte, die er an den Meister richtete, sind Ausdruck des Unmuts über die zertretenen Blumen.
Gottlieb:
Wenn ich benenne, was sie sind,
Unmenschlichkeiten bloß beschreibe,
Sehn sie im Spiegel, was sie sind,
Erhoffend, dass sie nicht beim Irrtum bleiben.
Goethe:
Als Wieland uns den Spiegel vorhielt,
Mit Abdera uns karikierte,
Verstand kaum wer, was sich da abspielt,
Verstand nicht, worauf Wieland zielte.
Was klagst du noch nach vielen Jahren,
Was wir bereits zur Klage hatten,
Sie sind Philister, wie sie waren,
Als wir sie zur Gesellschaft hatten.
Die Sitte teuflischen Charakters
Ist Klagen ohne Herzbetragen.
Die Wirkung, Rührung des 5-Akters,
Wird nicht bewirkt von Menschenklagen.
Gottlieb:
„Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“
Goethe:
Dann sind die Enkel ihrer Zukunft schon beraubet.
Gottlieb:
Sie leugnen ihren Hass und nennen ihn bloß Meinung.
Goethe:
Und stimmst du ein, bestärkst du bloß die Spaltung.
Gottlieb:
Ich werd verstimmt, die Kunst entweicht aus mir.
Goethe:
Gebrauch dein Menschvermögen, statt das Tier in dir.
Gottlieb:
Sie fordern Wunder! Fort ist die Magie.
Goethe:
Wer die Magie belebt, den nennen wir Genie.
Gottlieb:
Das scheint mir Phrase, Pharao regiert.
Goethe:
Und Moses wird nur, wer die Hoffnungssonne nicht negiert.
Die Worte des Meisters tropften auf seinen Herzensgrund. Gottlieb atmete tief ein. Er schloss kurz die Augen. Die Augen Goethes. Sie waren voller Zauber. So las er es immer wieder. Er musste ihm in die Augen blicken. Doch als Gottlieb seine Augen öffnete, war der Meister fort. Ein Sturm von Tränen brach auf seinem Gesicht aus und bewässerte Herz und Haut. Minuten vergingen, bis Gottlieb in der Verfassung war sich zu besinnen. Er stand vor der Herausforderung die Worte des Fürsten zu verstehen. – Goethe glaubt an ihn. Das hat er heute gelernt. Der Meister will Schüler, die versuchen, die seelischen Nöte der Menschen zu versorgen. Ja, Goethe glaubte an ihn. Gottlieb notierte sich Worte, machte sich frisch und legte sich schlafen.
Weisheiten der Meister
Fühl dich nicht gelähmt. Auch nicht von mir! Betrachte die Wort und Werke vergangener Größen. Auch ich habe sie betrachtet und war nahe dran, mich gelähmt zu fühlen bei ihrer Größe. Ich entschied mich dafür, sie zu betrachten und sie als Inspiration anzusehen. Dadurch wurde ich selbst zur Größe! Jetzt betrachten Menschen meine Wort und Werke und fühlen sich gelähmt. Ich sage: Halte stand! Wandle das Staunen um in Inspiration, besinne dich und bilde selbst Wort und Werke.