
Das Verhältnis der Parteien zu Muslimen, die Ampelbilanz und das heutige Klima erschweren Muslimen die Entscheidung. Davon profitieren das BSW und die Linke.
(iz). Am 23. Februar wird der neue Bundestag gewählt. Der vorgezogene Urnengang war notwendig, nachdem die Ampel scheiterte. Bereits bei der Europawahl und den Landtagswahlen vom vergangenen Jahr wurde klar, dass die Dreierkoalition keine Mehrheit mehr besitzt. Beim Termin sind ca. 59,2 Mio. BürgerInnen zur Stimmabgabe aufgerufen.
Viele stehen vor einer schwierigen Entscheidung. Zu komplex sind die Sachfragen, zu aufgeheizt das gegenwärtige Klima für sachliche Debatten. Hiesige, wahlberechtigten MuslimInnen sind davon nicht ausgenommen. Im Gegenteil: Unter ihnen haben sich in den letzten 12 Monate erhebliche Entfremdungsprozesse abgespielt.
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Parteien sind am Zug: Gibt es eine „muslimische Stimme“?
Beginnen wir mit den Fakten. Die Erkenntnisse zu ihrer Menge sind dünn. Basierend auf bisherigen Zahlen lässt sich ihre Quantität nicht genau bestimmen, sondern höchstens schätzen. Nach BMI-Angaben sollen in Deutschland derzeit 5,5 Mio. Muslime leben. Das entspräche einem Bevölkerungsanteil von ca. 6,6 %. Nur ein Teil hat die Staatsbürgerschaft, die sie zur Wahlteilnahme berechtigt. Es gibt keine offizielle Statistik, aus der sich ihre Rate ableiten lässt. Es bestehen grobe Annahmen zum Anteil. Demnach soll die Summe der Deutschen bei 2-3 Mio. liegen.
Während sich hier kaum belastbare Aussagen treffen lassen, sieht es bei WählerInnen mit Migrationsgeschichte etwas anders aus. Nach Angaben vom Mediendienst Integration haben über 7 Mio. Wahlberechtigte eine Einwanderungsgeschichte. Das seien ca. 12 % aller Stimmberechtigten.
Die Zahlen ergeben sich aus einer Hochrechnung des aktuellsten Mikrozensus. Ihre Herkunftsgeschichte ist divers: 2 Mio. kommen aus EU-Staaten, ca. 1 Mio. aus der Türkei, rund 2,2 Mio. aus Gebieten der Ex-Sowjetunion, ca. 2,09 Mio. aus Asien inkl. Ländern wie Kasachstan sowie 308.000 Mio aus Afrika inklusive Marokko. Hinzukommen kleinere Gruppen aus Syrien, dem Iran und Lateinamerika.
Anhand eines Beispiels aus Westdeutschland sieht man die bisherige Parteibindung bei Migranten. In der ehemaligen Industriestadt Duisburg erreichten SPD und Grüne 2021 die ersten beiden Plätze unter MigrantInnen; eine Ausnahme waren Türkischstämmige. Sie gaben der CDU die zweitmeisten Stimmen. Allerdings zeigt eine Studie des DIW vom gleichen Jahr, dass bei SPD, Union und FDP die Parteibindung migrantischer WählerInnen kontinuierlich abnimmt.
Das dpa berichtete jüngst von einer Befragung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) über Berlin-Neukölln. Demnach würde die Mehrheit der Stimmberechtigten mit Migrationshintergrund eher Mitte-Links wählen. Insbesondere das BSW und Die Linke hätten ein höheres Potenzial bei Menschen mit Migrationsgeschichte als unter anderen.
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Die Ampel hat es nicht geschafft
Die vorzeitig gescheiterte Koalition begann vollmundig (siehe IZ Nr. 355). Angekündigt waren verstärkte Maßnahmen gegen Diskriminierung – namentlich Muslimfeindlichkeit. Anstatt diese Ziele anzusteuern – so die nüchtern-kritische Bewertung –, wurde vieles nicht erreicht. Darüber hinaus hat das Dreierbündnis im Rückblick bei muslimischen Wählern signifikant „Porzellan“ zerschlagen: Angriff auf Grundrechte, Abschiebe-Debatten, gesellschaftlicher Generalverdacht und eine parteiliche Haltung im Nahostkrieg.
IZ-Autor Fabian Goldmann fasste die Ergebnisse der Ampel zusammen: „Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, Migrations- und Asylpolitik, Schutz vor Gewalt und Diskriminierung: In all diesen Fragen stehen Geflüchtete, Muslime, arabischstämmige Menschen und viele weitere Menschen in Deutschland heute schlechter da als vor der Ampel. Der ‘zunehmenden Bedrohung von Musliminnen und Muslimen und ihren Einrichtungen’ wolle man mit ‘umfassendem Schutz, Prävention und besserer Unterstützung der Betroffenen’ begegnen. Das war eines von vielen Versprechen, das SPD, Grüne und FDP den rund sechs Millionen muslimischen Menschen in Deutschland (…) gegeben hatten. Getan haben sie das Gegenteil.“
Die Geschichte einer Entfremdung
Die Frage von Parteibindung geht über die Ampel hinaus: Die parteipolitische Mitte im Land hat, mit teilweiser Ausnahme der Linken, die Aufbruchsstimmung vieler jüngerer und engagierter BürgerInnen vor 10-15 Jahren passiv verstreichen lassen.
Damals begann eine ganze Reihe deutscher MuslimInnen, sich politisch in den etablierten Parteien zu engagieren, trat in Kreisverbänden bei Wahlen an und schaffte den Einzug in Lokalparlamente und Vertretungen der Stadtstaaten. Von dieser Aufbruchstimmung ist derzeit wenig zu sehen. In den letzten Monaten häuften sich Austritte aus Protest gegen die gegenwärtige Außenpolitik sowie die Übernahme AfD-naher Positionen beim Thema Migration. Ahmed Beiersdorf-El Schallah dokumentiert (siehe S. 2) die Geschichte eines Entfremdungsprozesses.
Lange setzten SPD und Grünen auf muslimische und migrantische Wähler, ohne viel für Wahlkampf unter ihnen tun zu müssen. Die SPD profitierte von ihrer Vergangenheit als „Arbeiterpartei“ bei den Nachkommen türkischer oder marokkanischer Arbeiter in den entsprechenden Regionen. Die Grünen zählten auf akademische Milieus, die ihre antirassistischen Ansichten schätzten. Bei der Union gab es zarte Versuche, wertkonservative und aufstiegswillige Bürger wie Unternehmer, Selbstständige oder Handwerker einzubinden.
Diese Entwicklung war selten nachhaltig und wurde nicht strategisch betrieben. Während SPD und Bündnisgrüne häufig die muslimische Stimme als gegeben betrachten, kommen der Union immer wieder Ausbrüche von Ressentiments in die Quere.
Das „Superwahljahr“ zeigte die ersten Risse
Die vier großen Wahlen von 2024 (EU-Parlament sowie Landtage) stellten eine Niederlage für die Ampel und ihre Parteien dar. Die Verschiebung der Wählergunst setzte sich auch bei muslimischen WählerInnen fort. Bei einer Befragung am Wahltag im April erhob die Forschungsgruppe Wahlen erstmals die Religionszugehörigkeit.
Ein Wechsel bei Zustimmungswerten war klar: Muslime gaben an, demnach mit 17 % jeweils das BSW und die neue DAVA-Partei, der kaum realistische Chancen auf einen Einzug in den Bundestag zugerechnet werden, zu favorisieren. Danach folgte die Union mit 15 %. SPD und Bündnisgrüne verloren stark. In dieser Befragung schnitten FDP und AfD weit abgeschlagen ab.
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Die politische Mitte im Nahostkrieg: Sichern sich BSW und die Linke die muslimische Stimme?
Während die AfD in anderen Bevölkerungsschichten Erfolge verzeichnet, gibt es keine Zahlen, ob und wie Muslime die Partei goutieren würden. Bisherige Schätzungen gehen nicht davon aus, dass sie signifikanter Zahl die rechtsextreme Partei wählen würden.
Relativ klar ist: Seit Beginn des Nahostkrieges in Folge des Hamas-Terrors vom 7. Oktober 2023 stieg die politische Entfremdung zwischen den Parteien von Bündnisgrünen bis zur Union an. Von den relevanten Mitbewerbern konnten bei Umfragen die Linke und das BSW (trotz seiner, ins populistische abgeglittene Migrationspolitik) profitieren.
Das BSW Sahra Wagenknecht erlebt gerade hohe Zustimmungswerte (55,5 %) bei Menschen mit Wurzeln in der Türkei sowie der arabischen Welt. Das ergeben Zahlen einer repräsentativen Studie des Dezim (s.o.). Gestellt wurde nicht die bekannte „Sonntagsfrage“, sondern die Parteipräferenz wurde abgefragt.
Bei der Bundestagswahl 2013 stimmten ca. 12 % der türkischstämmigen WählerInnen für die Linke. Und bei der Nachwahlbefragung vom April 2024 sagten 8 % der befragten Muslime, dieser Partei ihre Stimme geben zu wollen. In deren Beliebtheit liegt sie allerdings deutlich hinter dem BSW, das in der Erhebung der Forschungsgruppe Wahlen ca. 17 % auf sich vereinigen konnte.
Als Hauptgrund kann die Haltung beider Parteien zum Nahostkonflikt und den Krieg in Gaza gelten. Diesbezüglich forderte die Wagenknecht-Partei mehr Zurückhaltung Deutschlands. Sie erkennt zwar Israels Recht auf Selbstverteidigung nach dem Hamas-Angriff an, betont aber auch die schwierige Situation im Gazastreifen, den sie als „größtes Freiluftgefängnis der Welt“ bezeichnete.
Im April 2024 beantragte das BSW im Bundestag die Einstellung von Rüstungsexporten nach Israel. Wagenknecht äußerte im März 2024, dass Israels Kriegsführung in Gaza „Züge eines Vernichtungsfeldzugs“ trage.
Die Position der Linken ist wegen ihrer größeren innerparteilichen Meinungsbreite weniger einheitlich als die des BSW. Die Partei verurteilte den Hamas-Angriff, kritisierte aber zeitgleich das militärische Vorgehen der israelischen Regierung.
In ihren Augen agiere die Regierung Netanyahu „völlig überzogen“. Auch die Linke fordert ein Ende der deutschen Waffenlieferungen an Israel. Zudem unterstützt sie eine friedliche Zwei-Staaten-Lösung in den Grenzen von 1967. Zudem sieht sie die israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete als Unrecht an, betont aber, dass dies keine Rechtfertigung für den Terror der Hamas sei.