Reflexionen über einen Sturm und seine Nachwirkungen

Ausgabe 309

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(iz). Laut Meteorologen geschieht Folgendes: Wenn eine große Wasserfläche eine Temperatur von mindestens 26,5 Grad Celsius hat, steigt warme Luft über auf und drückt die darüberliegende nach unten. Diese wiederum wird erwärmt und steigt auf. Dieser Vorgang bewirkt, dass in dem betroffenen Gebiet der Luftdruck sinkt. Dann dringt die Luft aus Zonen mit höherem atmosphärischen Druck vor. Diese neue „Kaltluft“ erwärmt sich, wird feuchter und steigt in wärmere Zonen auf. Dieser Kreislauf wiederholt sich. Währenddessen bilden sich Wolken in den kälteren Bereichen. Das ganze System aus Wolken und Wind zirkuliert und wächst. Gefüttert wird es von der Wärme des Meeres und der Verdunstung seiner Oberfläche.

Mitte Januar 2021 spielte im Becken des Indischen Ozeans dieser atmosphärische Tanz der Gegensätze. Die warme Meeresoberfläche und der feuchte Himmel, das Wechselspiel von niedrigem und hohem Luftdruck, das rasche Einziehen der Umgebungsluft und die relative Ruhe im Auge des Sturms. Am 19. Januar erreichte Hurrikan Eloise die Küste Madagaskars. Als tropischer Sturm er starke Winde und Wassermassen. Er zog weiter in den Kanal von Mosambik und erreich­te Tage später die Kategorie eines Zyk­lons. Am 23. lag das Auge des Sturms über dem Land nördlich von Beira. Mit sich brachte es Sturmfluten, verheerte Ackerflächen, unterbrach Geschäfte und führte zum Tod von 21 Menschen.

Seine Ausläufer beeinträchtigen das südliche Afrika – Simbabwe, Botswana, Malawi und Südafrika. Ich lebe im südafrikanischen Harmanskraal – 1.244 Kilometer südlich. Seine Folgen wurden von allen gespürt. Die schweren Ausläufer führten zu Überflutungen, entwurzelten Bäumen, beeinträchtigen Geschäfte und zerstörten Gebäude.

Es ist interessant, dass aus dem reichhaltigen Meeresleben ein zerstörerischer Sturm entstehen kann. Noch seltsamer ist, dass aus dem Sturm selbst lebensspendender Regen den Bauern günstige ­Bedingungen gewähren kann, sodass ihre Felder gedeihen und den Massen Zugang zu billigerem Mais gewähren, eine Erleichterung, die in der Welt des Lockdowns benötigt wird.

In seinem Text „Über Schönheit und Majestät“ schrieb Ibn ‘Arabi, dass Allah sich in der Schöpfung auf zwei Weisen zeigt – Schönheit und Majestät. Wenn Er sich in Schönheit manifestiert, gibt Er dem Menschen all die Dinge, die Hoffnung in uns schaffen und die uns näher zu Ihm bringen. Diese werden im Qur’an erwähnt: Pflanzen und Tiere, Sterne, lebensspendender Regen usw. Wenn Allahs Majestät manifest wird, sind die menschlichen Herzen voller Furcht, die uns in Respekt Abstand nehmen lässt – wie die Zerstörung früherer Kulturen, Naturkatastrophen etc.

Die Vorstellung, dass Gegenteile die Schöpfung kennzeichnen, ist eine Grundlehre des Taoismus. Seine Anhänger glauben, dass es im Universum zwei Kräfte gibt – Yin und Yang. Sie widersprechen sich und gehen aus dem jeweils anderen hervor.

Vergleichbare Gedanken sind in den Legenden der Altvorderen. Im antiken Ägypten kämpften der Sonnengott Ra-Amun jede Nacht mit der Riesenschlange Apophis. Hier sehen wir die Ordnung der Sonne im Gegensatz zum nächtlichen Chaos. Im Perserreich hatte sein Zoroas­trismus eine dualistische Kosmologie von Gut und Böse. Die Kraft, die Wahrheit und die kosmische Ordnung bezeichnete, wurde Ascha genannt. Sie war der Gegensatz zu Drudsch – der Lüge.

Nach dem Traum der babylonischen Versklavung entschieden sich die Juden zur Konzentration auf das mosaische ­Gesetz – die rationale Seite ihrer Lehre – und schenkten dem inneren, irrationalen Teil wenig Aufmerksamkeit. Die Mission von Jesus, dem Sohn der Maria, war es, die innere Dimension der jüdischen Lehre wiederzubeleben. Mit anderen Worten, den Geist der Gesetze. Von ihm wurde überliefert, dass seine größten Gebote darin bestünden, „Gott mit der ganzen Seele zu lieben und mit eurem ganzen Geist“ und „liebt eure Nachbarn wie euch selbst“.

Nach dem Abschied von Christus wurde seine Botschaft von rationalen Rabbis zurückgewiesen, die an ihrer Konzentration auf den Buchstaben des mosaischen Rechts festhielten. Währenddessen wies Paul das Gesetz zurück und hielt nur an seinem revisionistischen Verständnis vom Geist der Gesetze fest. Seine berüchtigtste Interpretation bestand darin, dass der Mensch Jesus zu Gott wurde. In der Folgezeit nach seinem Tod wuchs seine Religion unter den römischen ­Armen. In der Zeit von Karl dem Großen wurde das paulinische Christentum zur imperialen Religion.

Seine Irrationalität intensivierte sich in vielen Bereichen, die Europa umfasste. Sie erreichte ihren Höhepunkt im Massaker der Bartholomäusnacht. 1572 ­ermordeten vom Staat organisierte katholische Banden tausende mutmaßliche Hugenotten in Frankreich. Dieses Ereignis hinterließ einen tiefen Eindruck. Nach Jahrhunderten der Kontrolle durch das Irrationale – mit Behinderung wissenschaftlicher Forschung, den endlosen Verbrennungen von Frauen und Ketzern durch ein zölibatäres Priestertum – begannen die Menschen, den Preis für den Verlust der Verantwortung für das eigene Leben im Austausch für eine angebliche göttliche Vergebung in Frage zu stellen. Sie nannten das Aufklärung.

Das Pendel schwang von der Ära des Irrationalen (dem „finsteren Mittelalter“) zum Zeitalter der Vernunft in der Französischen Revolution. Sie markierte ihren Einstand mit einem spektakulären Tsunami des Blutes, der das gesamte französische Volk erfasste. Als Folge taten die Franzosen für das Apollinische (ein Symbol für Vernunft und Ordnung) das Gleiche, was Karl der Große für das Dionysische (Symbol für das Unbewusste und Ekstatische) tat. Eine neue Religion entstand – der Kult der Vernunft. Sein Tempel war das Pantheon. Voltaires Verherrlichung der Vernunft hielten sie für die Wahrheit, was Nietzsche später als „Gottesmord“ tadelte. Rousseaus Wille der Massen brachte das enorme Blutvergießen zweier europäischer Bürgerkriege und zweier staatlicher Völkermorde in Deutschland und Russland hervor.

„Les extremes ses touchent / Die Extreme berühren sich“, sagt man. Im 21. Jahrhundert ähnelt der Kult des Rationalen dem irrationalen christlichen Zeitalter. Heute ist der Mensch nicht mehr der Erbsünde schuldig. Heute wird er mit seinem Anteil an den Staatsschulden geboren. Finanztechniker sind der neue Klerus, der jeden Staat exkommunizieren und ins Unglück stürzen kann. Nationalstaaten und supranationale Institutionen sind zu sterblichen Götzen geworden, die selbst der Kritik und Kontrolle entzogen sind. Jakobiner und Bolschewiken wollten die Massen von der Leibeigenschaft befreien. Heute werden Letztere schwer besteuert.

Frankreichs Jakobiner guillotinierten Männer, Frauen und Kinder im Versuch, das Land von den Resten jener zu reinigen, die an der irrationalen Vergangenheit festhielten. Später taten die durch die Revolution beeinflussten Männer Russlands, Chinas, Kambodschas oder Äthiopiens dasselbe mit ihren Ländern. Nach dem Kollaps der New Yorker Zwillingstürme beschlossen die Amerikaner Gesetze, die Terror nicht bekämpften, sondern ihn unter all jenen Muslimen verbreiteten, die sich des Terrorismus verdächtig gemacht hatten.

Alexandre de Tocqueville sah das voraus, als er den neuen Despotismus voraussah: „Der Wille der Menschen wird nicht gebrochen, aber aufgeweicht, verbogen und geführt. Sie werden selten von dieser zum Handeln gezwungen, sondern vielmehr im Handeln zurückgehalten. Eine solche Macht zerstört nicht, sondern sie verhindert Existenz. Sie tyrannisiert nicht, sondern komprimiert, entnervt, erlöscht und verblödet solange, bis jedes Volk zu einer Herde ängstlicher und fleißiger Tiere reduziert wird, deren Hirte die Regierung ist.“

Das Rationale/Apollinische ohne das Irrationale/Dionysische zu haben oder umgekehrt, liegt dem Desaster zugrunde. Was es braucht, ist ein neuer Weg nach vorne, wo beide Impulse sowohl geschätzt werden als auch eine Arena zu ihrem Ausdruck finden. Da der Mensch der Autor der Ereignisse ist, braucht er einen neuen Weg.

Friedrich Nietzsche versuchte, zu diesem Blick auf die Welt zurückzukehren. In seinem Buch „Die Geburt der Tragödie“ geht er davon aus, dass die antiken Griechen ihre Theaterstücke auf einer binären Sicht von Ordnung und Chaos schrieben, die für ihn durch Apollon und Dionysos verkörpert werden. In dem Buch vertritt er die Ansicht, dass die Aufklärung des Westens zu viel Wert darauf gelegt hat, Vertreter Apollos zu sein, und dabei das andere Prinzip ignorierte.

Zu einem späteren Zeitpunkt der Moderne versuchte der Westen erneut, sich daran zu erinnern, dass Mensch „nicht vom Brot allein leben“ kann. Als Folge entstanden verschiedene Versuche zur Einbeziehung der irrationalen Teile einer mechanisierten Kultur. Es waren Bewegungen wie der Jazz, Dadaismus, Punk, die Hippies sowie das Neu-Heidentum auf Festivals wie „Burning Man“.

So mutig diese Bewegungen auch ­waren, sie wurden dem Raster des Kapitalismus einverleibt. Die meisten Jazzmusiker starben an übermäßigem Drogenkonsum, die Gemälde der Dadaisten werden für Millionen von Dollar versteigert, um dann in Tresoren weggeschlossen zu werden. Punks und Hippies wurden kommerzialisiert. Und eine Eintrittskarte für „Burnig Man“ kann bis zu 1.400 ­Dollar kosten. Auch hier hat der Kapitalismus diese irrationalen – dionysischen – Tendenzen in seinem rationalen – apollinischen – Nexus absorbiert. Was der Öffentlichkeit bleibt, sind äußere, entschärfte Formen dieser Ansätze.

Die Psychose des Zeitalters manifestiert sich im Äußeren. Der Zusammenbruch des Heiratsvertrages, die Erosion bür­gerlicher Freiheiten, giftige Luft und übersäuerte Gewässer, das Fällen der überlebenswichtigen Bäume des Amazonas-Regenwalds und die ständig wachsende Rote Liste der bedrohten Arten sind das direkte Ergebnis, ein direktes Spiegelbild des aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen. Sidi ‘Ali Al-Dschamal, der das erwähnte Buch von Ibn ‘Arabi kopierte, schrieb: „Das Selbst ist eine Kopie der Existenz und Existenz ist eine Kopie des Selbst.“

Die Menschheit braucht eine neue Seinsweise in der Welt. Zu leben bedeutet in Harmonie damit zu existieren, wie sich das Göttliche im Äußeren manifestiert. Um in Harmonie mit dem Äußeren zu leben, müssen wir verstehen, dass das Äußere ein zusammenhängendes, dynamisches System aus den gegensätzlichen Kräften Schönheit und Majestät ist. Diese verbinden und trennen sich unaufhörlich und verursachen den regelmäßigen Fluss der Natur, die Zyklen von Leben und Tod, Sommer und Winter, kalt und warm, männlich und weiblich, und so weiter. In Harmonie mit der Natur zu leben, bedeutet, sich an diese Veränderungen der Gegensätze anzupassen. Wie der Zyklon Eloise im südlichen Afrika.