Ressentiment und Establishment

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Stuttgart/Mainz/Magdeburg (GFP.com). So stark wie noch keine Partei der äußersten Rechten in der Geschichte der Bundesrepublik hat die Alternative für Deutschland (AfD) bei drei Landtagswahlen am gestrigen Sonntag abgeschnitten. In Sachsen-Anhalt wurde sie mit fast einem Viertel aller abgegebenen Stimmen zweitstärkste Kraft; in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erreichte sie mit rund 15 bzw. mehr als zwölf Prozent den dritten Platz.
Die Partei, der es gelingt, ein in der Bundesrepublik seit je vorhandenes ultrarechtes Stimmenpotenzial zu erschließen, ist nun in der Hälfte aller deutschen Landesparlamente vertreten. Ihre Wahlerfolge verdankt die AfD auch der Berliner Politik. Diverse Bundesregierungen haben seit 1990 systematisch Flüchtlingsabwehr betrieben und dabei immer wieder gegen Flüchtlinge agitiert; daran kann die AfD heute anknüpfen.
Agitation gegen den Islam war im „Anti-Terror-Krieg“ ab 2001 weit verbreitet und trieb anti-islamische Ressentiments in der Bevölkerung in die Höhe; auch dies nutzt heute der AfD, die Maßnahmen gegen den Islam in das Zentrum ihrer Politik stellen will. Günstig für die AfD ist zudem, dass Teile des deutschen Establishments sich spätestens seit der sogenannten Sarrazin-Debatte ultrarechten, teilweise rassistischen Positionen zuwenden; das öffnet politische Spielräume. Koalitionen mit der AfD sind seit einiger Zeit immer wieder im Gespräch.
Aus dem Stand auf Platz drei
So stark wie noch keine Partei der äußersten Rechten in der Geschichte der Bundesrepublik hat bei den Landtagswahlen am gestrigen Sonntag die Alternative für Deutschland (AfD) abgeschnitten. In Sachsen-Anhalt wurde sie mit – laut dem vorläufigen amtlichen Endergebnis – 24,2 Prozent zweitstärkste Partei nicht weit hinter der CDU, die 29,8 Prozent erzielen konnte. In Baden-Württemberg, einem der bevölkerungsreichsten Bundesländer, kam sie mit 15,1 Prozent auf Platz drei – noch vor der SPD. In Rheinland-Pfalz wurde sie mit 12,6 Prozent ebenfalls drittstärkste Kraft.
So viele Stimmen konnte in Deutschland seit 1945 keine Partei der äußersten Rechten auf sich vereinen. Die AfD ist jetzt in der Hälfte aller deutschen Landtage vertreten; seit 2014 hat sie bei jeder Wahl den Einzug ins Parlament geschafft. Würde heute der Bundestag neu gewählt, käme sie Umfragen zufolge mit rund elf Prozent auch dort auf Platz drei.
Rechtes Potenzial
Die aktuellen Wahlerfolge zeigen, dass es der AfD zunehmend gelingt, ein in Deutschland seit je vorhandenes rechtes, rassistisches Potenzial für sich zu erschließen. Sozialwissenschaftliche Studien haben dieses Potenzial regelmäßig nachgewiesen.
So zeigte eine Untersuchung, die 2006 im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD) durchgeführt wurde, dass 39,5 Prozent der Bevölkerung “überwiegend” oder „voll und ganz“ der Auffassung zustimmten, man müsse „Mut zu einem starken Nationalgefühl“ haben. 39,1 Prozent behaupteten, Deutschland sei „durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“. 36,9 Prozent meinten, „die Ausländer“ kämen nur, „um unseren Sozialstaat auszunutzen“; 34,9 Prozent forderten, man solle, wenn „Arbeitsplätze knapp“ würden, „die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken“.
Die Zustimmungswerte zu den erwähnten Aussagen schwanken in den regelmäßigen Wiederholungen der Umfrage in gewissem Maß – allerdings stets auf hohem Niveau. Kurzfristig ist es ultrarechten Parteien immer wieder gelungen, das erkennbare rechte Potenzial anzuzapfen; das zeigten zum Beispiel die Wahlerfolge der Partei Die Republikaner um 1990, der Partei Rechtsstaatlicher Offensive in Hamburg im Jahr 2001 oder auch der Deutschen Volksunion (DVU) um die Jahrtausendwende. Auch die NPD konnte, auf den erwähnten Einstellungen aufbauend, seit 2004 mehrmals in Landesparlamente einziehen. Erst 2014 wurde sie knapp durch die AfD aus dem sächsischen Landtag verdrängt.
Jahrzehntelang gefördert
Die AfD kann dabei aufgrund der aktuellen Massenflucht nach Europa in besonderem Maße von einer Haltung profitieren, aus der bereits frühere Parteien der äußersten Rechten ihre Stärke zogen: aus der Ablehnung von Flüchtlingen. Diese Ablehnung ist über die Jahrzehnte hin systematisch vom deutschen Polit-Establishment gefördert worden. Berüchtigt ist die „Das Boot ist voll“-Kampagne der frühen 1990er Jahre, mit der die großen Parteien die Grundgesetzänderung zum Asylrecht im Jahr 1993 vorbereiteten; sie stärkte damals Die Republikaner und schuf ein gesellschaftliches Klima, aus dem die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sowie die mörderischen Brandanschläge von Mölln und Solingen hervorgingen. Gegen die Einreise von Flüchtlingen über das Mittelmeer setzt Berlin seit Jahren auf kompromisslose Abwehrmaßnahmen.
In den Jahren ab 2009 begleiteten führende deutsche Politiker ihre Bemühungen, Einwohner südosteuropäischer Staaten – darunter insbesondere Sinti und Roma – von Deutschland fernzuhalten, mit einer Kampagne, in der nicht zuletzt der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich öffentlich gegen angeblichen „Asylmissbrauch“ agitierte.
Noch während der ersten Pegida-Demonstrationen forderte Bundesinnenminister Thomas de Maizière, man müsse die „Sorgen“ der Demonstranten „ernst nehmen“; Sachsens Innenminister Markus Ulbig kündigte damals die Gründung von Polizei-Sonderheiten gegen „kriminelle Asylbewerber“ an.
Bis 2014 stieg entsprechend die Zustimmung zu der Meinung, der deutsche Staat dürfe bei der „Prüfung von Asylanträgen“ nicht „großzügig sein“, laut Umfragen auf 76 Prozent an. Die kurze, zudem nur von Teilen der politischen Eliten befürwortete und inzwischen beendete Phase der „Willkommenskultur“ hat die seit Jahrzehnten unterstützte ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen kaum geändert.
Folgen des „Anti-Terror-Kriegs“
Insbesondere profitiert die AfD von Ressentiments gegen Muslime, die in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen haben. Hintergrund war zunächst die staatliche Politik im „Anti-Terror-Krieg“, die ab 2001 Muslime unter Generalverdacht stellte – zum Beispiel mit unterschiedslosen Rasterfahndungen gegen Migranten aus der islamischen Welt; in der begleitenden Propaganda wurden antimuslimische Vorurteile exzessiv gestärkt.
Kirchliche Organisationen klagten 2004 über eine „Welle anti-islamisch gefärbter Berichte und Äußerungen“ in der medialen Öffentlichkeit und kritisierten offen einen „Verfall der Objektivität und Diskussionskultur, auch bei Politikern“. Sozialwissenschaftliche Studien dokumentieren seitdem einen klaren Anstieg von Feindschaft gegen den Islam. Bis 2009 stieg in Umfragen die Zustimmung zu der Behauptung, man fühle sich „durch die vielen Muslime … manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“, auf 32,2 Prozent; 2014 erreichte sie sogar 43 Prozent. Forderten 2009 noch 21,4 Prozent der Bevölkerung, Muslimen solle „die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden“, so taten dies 2014 bereits 36,6 Prozent.
Die aktuelle politische Debatte – vor allem nach den sexistischen Angriffen von Köln – heizt die antimuslimische Stimmung erneut an. Die AfD will dies nutzen, um weiter an Stärke zu gewinnen. „Der Islam wird als ein zentrales Thema im neuen Programm Eingang finden“, wird die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende und AfD-Europaparlamentarierin Beatrix von Storch zitiert.
„Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, heißt es im Entwurf zum Parteiprogramm der AfD: „In seiner Ausbreitung“, aber auch „in der Präsenz einer wachsenden Zahl von Muslimen“ sehe man „eine große Herausforderung für unseren Staat“.
Neue Spielräume rechtsaußen
Dass die AfD größere Erfolge erzielt als andere Rechtsaußen-Parteien, liegt nicht zuletzt an politischen Umbrüchen im deutschen Establishment. Teile der deutschen Eliten öffnen sich zunehmend für ultrarechte, zuweilen offen rassistische Positionen. Deutlich wurde dies bereits in der Debatte um rassistische Thesen des ehemaligen Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin, dessen Schmäh-Äußerungen gegen den Islam und gegen Einwanderer aus der arabischen Welt von einem Verlag des Bertelsmann-Imperiums veröffentlicht wurden.
Sie wurden breit rezipiert und werden bis heute von Teilen der Eliten für diskutabel gehalten; am vergangenen Montag etwa publizierte die einflussreiche „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ einen umfangreichen Debattenbeitrag aus Sarrazins Feder.
So manche von denjenigen aus den deutschen Eliten, die – wie etwa der frühere BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel – Sarrazin inhaltlich unterstützten, waren später an Gründung oder Aufbau der AfD beteiligt. Auch wenn sich die Mehrzahl von ihnen inzwischen aus der Partei zurückgezogen hat, weil diese ihnen aus dem Ruder gelaufen ist, kann die AfD davon profitieren, dass sogenannte Tabubrecher wie Sarrazin unter dem Beifall von Teilen des Establishments auf der äußersten Rechten neue Spielräume geöffnet haben. Der Partei nützen Äußerungen wie diejenige von Sarrazin, der Islam gehöre „nicht zu Europa“, oder diejenige von CSU-Chef Horst Seehofer, in Deutschland sei wegen der partiellen Öffnung der Grenze für Flüchtlinge eine „Herrschaft des Unrechts“ zu beklagen.
Die Qualitäten der EU
Auch weil die AfD immer noch nicht nur inhaltliche, sondern auch persönliche Beziehungen zu Teilen des deutschen Establishments unterhält, heißt es in konservativen Medien, es scheine „nicht … unmöglich“, dass in absehbarer Zeit „ein erster CDU-Verband über Koalitionsoptionen nachdenkt“.
Solche Koalitionen sind seit geraumer Zeit immer wieder im Gespräch; zuletzt hat der CDU-Politiker Klaus-Peter Willsch sie für die hessische Kommunalpolitik nicht ausschließen wollen. Kommentatoren urteilen, in EU-Staaten wie Frankreich, den Niederlanden, Dänemark oder Schweden seien Rechtsaußen-Parteien ohnehin längst verankert; könne sich die AfD weiter etablieren, dann werde „das deutsche Parteiensystem“ lediglich „europäischer“. Die Aussage trifft zu; sie trifft zugleich eine Feststellung über die politischen Qualitäten der EU.