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„Türkische“ Serben: Die Faszination des „Erzfeindes“

Ausgabe 320

Der Konak der serbischen Obrenovic-Dynastie in Kragujevac. Er ist der osmanischen Architektur nachempfungen. (Foto: VladaKg03, Shutterstock)

Serben haben – um es vorsichtig zu sagen – einen Komplex bezüglich orientalischer Einflüsse und den muslimischen „Anderen“. Während sie alle versessen sind, „den Türken“ zu bekämpfen, verkennen sie jedoch oft, wie türkisch sie selbst sind.

(iz). Ihre Besorgnis ist die einer kleinen, belagerten Nation, die fürchtet, von einer muslimischen Welle überrollt zu werden. 1997 unterzeichnete der serbische Patriarch Pavle eine „Erklärung gegen den Völkermord am serbischen Volk“, dass es als Verteidiger Europas definierte: „Seit dem Mittelalter waren Serben zusammen mit ihren Herrschern und kirchlichen Würdenträgern, die gegen die Türken kämpften, der letzte Schutzwall zur Verteidigung Europas gegen die türkische Invasion und das Eindringen des Islam.“

Genau das entspricht ihrem Selbstverständnis. Serben werden nie müde, sich als Bollwerk des christlichen Westens gegen den muslimischen Osten zu beschreiben. Häufig vergessen sie – gewollt oder nicht –, wie 500 Jahre Leben „unter dem osmanischen Joch“ (so ihre Sichtweise) sie vollkommen türkisiert haben.

Dies wurde mir zum ersten Mal auf einer Wandertour durch Serbien im Jahr 2003 bewusst. Damals war ich ein philo-serbischer Journalist, der mit eigenen Augen Europas letzten Paria-Staat sehen wollte. Sein Ruf als Rüpel platzierte das Land in der wenig beneidenswerten Gesellschaft mit dem Irak, Libyen, Nordkorea und Kuba. Alles Länder, die den Vereinigten Staaten einen kollektiven Mittelfinger zeigten. Das Volk rief „Bravo, Saddam!“, als die USA 2003 mit der Bombardierung des Irak begannen. Ich wollte eines der letzten Refugien des Widerstandes gegen eine globalisierte Populärkultur erleben. Ein Land, dass die Hegemonie der Eurozone zurückwies, obwohl es physisch in Europa lag. Ich wollte „hinter den Spiegel schauen“, wie es Peter Handke sagte, und erfahren, was dieser als „das wirklichste Land in Europa“ bezeichnete.

Auf der Suche nach einem fahnenschwenkenden, patriotischen Serbien (das ich ebenso vorfand), fand ich eine seltsame Mischkultur, die unruhig zwischen Ost und West balancierte.

Der Sommer 2003 war vielleicht eine unpassende Zeit für einen Serbienbesuch. Zoran Đinđić, der prowestliche Ministerpräsident, war gerade ermordet worden. Die Regierung ordnete eine Jagd an, um das Land von den Mafiosi zu befreien. Der Kosovokrieg war frisch im Gedächtnis vieler Einwohner und das Ressentiment gegen den Westen kochte immer noch. Kurzum, das Land war im Aufruhr.

Und dann gab es den Weg, auf dem ich es sehen wollte: alleine, ohne Sprachkenntnisse, mit einem Zelt zu Fuß durch die Landschaft von Dorf zu Dorf zu wandern. So wollte ich meinen Weg von Belgrad nach Montenegro an der Adria finden, alte Klöster in den Bergen besuchen, die voller leuchtender byzantinischer Wandmalereien sind. Mir war dabei durchgehend bewusst, dass Serbien für die meisten im Westen Völkermord und Kriegsverbrechen bedeutete. Seine Einwohner galten als paramilitärische Banditen und halbzivilisierte Hooligans.

Ich ging allein an Gehöften vorbei, in denen Bauern auf Veranden saßen, um ihren Morgen-Rakija (Pflaumenschnaps, etymologisch mit dem türkischen Raki verwandt) und Kafa (türk. kahva) tranken, während von Akkordeon dominierte Volksmusik mit wehklagenden orientalischen Stimmen aus dem Radio klang. Ich begann, mich in diese türkisch-serbische Musik zu verlieben. Das war nur eines der „türkischen“ Dinge, die ich in Serbien entdecken sollte.

Jahrhundertelang trugen Serben halb-türkische Kostüme. Sie dekorierten ihre Häuser in türkischer Art, übernahmen Lehnwörter (sat für Zeit, para für Geld, budala für Narr etc.), tanzten mit erhobenen Armen im orientalischen Stil. 1903 schrieb ein Beobachter: „Fremde haben es schwer, zwischen Christen (Serben) und den Türken (slawischen Muslimen) in Bosnien zu unterscheiden. Denn beide tragen Turbane, verzierte Westen, lose, offene Jacken, Kniebundhosen und absatzlose Schuhe, die nach oben zeigen.“

In unserer Zeit riet ein Kommentator seinen Lesern, die etwas über muslimische Mentalität lernen wollten, die Bücher des Schriftstellers Stanković’ aus dem frühen 20. Jahrhundert zu lesen. „Durch Bora Stanković’ werden sie Islam besser studieren können als mit einer Fahrt nach Istanbul. (…) Sie müssen keinen Muhammad oder Ahmed treffen. Schauen sie nur auf uns Serben und Sie werden sagen, dass viel von der muslimischen Mentalität in unserem Land geblieben ist. Das ist eine traurige Tatsache.“

Als ehemaliger Musikjournalist war es die Musik, die mich am meisten beeindruckte. Wenn ich ihre Lieder hörte, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre orientalische Musik in einem türkischen Dönerladen in Berlin nicht fehl am Platz gewesen wäre. In der Tat hat die dortige Musik seit den Kreuzzügen, als die kirchlichen Melodien der serbischen Kirche aus Syrien gebracht wurden, einen orientalischen Anstrich. Eingeführt wurde sie in den Balkan entlang der Pilgerrouten, die um Konstantinopel verliefen. Es war eine andere Art von Musik, welche die Ohren in Serbien begrüßte. Sie war anders als alles, was ich erwartete. Man hört sie und erkennt, dass Istanbul nicht weit war.

Auf der gleichen, ersten Reise nach Serbien, besuchte ich Kragujevac, Heimat der Obrenović-Dynastie, die mit einer 17-jährigen Pause von 1817 bis 1903 regierte. Hier befand sich der „Konak“ (türk. für Villa) von Miloš Obrenović. Das war ein mittelgroßes, geweißtes Haus, in das sich die serbischen Prinzen bei Bedarf zurückzogen. Dabei handelte es sich um ein einfaches türkisches Haus mit einem Halbmond über der Tür. Seine Staatskanzlei bestand aus einem kleinen Raum, der mit Karten und eroberten türkischen Fahnen geschmückt war. Als Analphabet hatte er einen Sekretär, der ihm die Nachrichten des Tages vorlas. Auf Kissen auf dem Boden sitzend, mit einem Turban auf dem Kopf, hielt er seinen Besuchern eine Audienz; ganz nach der Art seiner türkischen Vorgänger. In der Nähe steht eine alte Kirche mit einem hölzernen Anbau für die Frauen, die nicht im Hauptteil der Kirche beten durften – was wiederum zeigt, wie tief die Türken die Serben während ihrer 500-jährigen Besetzung geprägt haben.

Im Serbischen Museum der Bildenden Künste besah ich historische Bilder von Miloš Obrenović, wie er zum Anführer des Aufstands von 1815 erklärt wurde. Im vollen türkischen Ornat seiner Zeit, erhob der Turban tragende Miloš eine Fahne, während ein Priester ihn segnet. Serbische Kämpfer stoßen auf ihn an und alle tragen einen Fez. Hier herrschte eine durch und durch türkische Stimmung.

Später wurde ich auf weitere Anzeichen des türkischen Einflusses unter Serben aufmerksam. Kleine Details beeindruckten mich. Das reichte vom türkischen Namen des berüchtigten Milizenführers, Chauvinisten und Mafiosi Arkan (verwandt mit dem türk. arkadaş), bis zur türkischen Etymologie von Gazimezdan (gazi, der Glaubenskrieger), dem serbischen Denkmal der Niederlage von 1389. Dieses Ereignis bedeutete den Untergang des kurzlebigen, aber lange überschatteten Königreichs Serbien.

Ich fing an, nach türkischen Lehnwörtern im Serbischen zu suchen. Hier findet sich „hajde“ für „Komm schon“ (türk. hadi) und „čoban“ für Schafhirte (türk. çoban). Und natürlich stammt das bosnische Musikgenre Sevdah vom türkischen Wort für Liebe. Die meisten Serben, auch die rabiat islamfeindlichen unter ihnen, haben keine Skrupel, diese Worte zu benutzen. Außerdem stehen sie dem Westen skeptisch gegenüber und wählen bei der Planung ihres Sommerurlaubs mit großer Wahrscheinlichkeit eher die Türkei als bevorzugte Destination für ihren Sommerurlaub.

Im Sommer 2016 war ich wieder in Serbien. Dieses Mal berichtete ich von der Fluchtkrise, die Belgrad überwältigte. In dieser Zeit kamen immer mehr Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan dorthin. Sie zogen durch Serbien auf ihrem Weg in Richtung EU. In der Zwischenwelt von Belgrad warteten sie auf „Agenten“, Schleuser, die sie nach Norden über die feindlich gesinnte ungarische Tiefebene nach Österreich und Deutschland schleusen sollten. Im Höhepunkt der Krise kamen täglich rund 2.000 Menschen nach Serbien. Ich wollte wissen, wie die notorisch islamfeindlichen Belgrader auf die muslimische Zuwanderung vor ihrer Haustür reagierten.

In der letzten, verbliebenen Moschee von Belgrad (wo einmal mehr als 300 standen) sprach ich mit Fahim und Awlia. Die beiden afghanischen Flüchtlinge hatten eine erstaunliche Fußreise hinter sich. Sie liefen von der Türkei über Bulgarien nach Serbien und schliefen damals auf einem Parkplatz neben der Belgrader Grünanlage des Parks Luke Ćelovića. Ich war erstaunt festzustellen, dass sie die Serben mochten. Die beiden erlebten sie als freundlich und aufnahmebereit. Das war ein Gegensatz zu den Bulgaren, die sie hetzten, sie rassistisch beleidigten und anspuckten. Gewiss, es gab Serben, die aufstanden, wenn sich ein Flüchtling in der Straßenbahn zu ihnen setzte, aber sie wurden dort immer noch besser behandelt als in Bulgarien und Ungarn.

Ich war überrascht, als ich von der Gastfreundschaft der Serben gegenüber den Flüchtlingen in Belgrad erfuhr. Aber vielleicht wäre das gar nicht nötig gewesen. „Wissen Sie, Serbien ist eines der Länder mit dem höchsten Flüchtlingsanteil der Welt“, meinte der serbische Musiker und Ethnomusikologe Milan Đurić damals. „Die meisten Flüchtlinge sind Serben sowie Roma aus den anderen, ehemaligen Republiken Jugoslawiens. Ich denke also, dass sie zumindest eine gewisse Sympathie für sie empfinden werden. Denn die Serben erinnern sich daran, wie es war, ein Flüchtling zu sein. Ich denke, das ist vielleicht der Grund, warum sie nicht so negativ eingestellt sind.“

Damals war diese Ansicht aufmunternd. Und sie gab mir die Hoffnung, dass Serben vielleicht, anstatt der anti-muslimischen Xenophobie nachzugeben, die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen und dem „türkischen“ oder „orientalischen“ Anderen sehen könnten. Waren sie letzten Endes nicht doch Nachbarn, komšije, oder komşular (türk.)?

2 Kommentare zu “„Türkische“ Serben: Die Faszination des „Erzfeindes“

  1. Toller Beitrag. Musste hier und da schmunzeln. Gut geschrieben mit einer gewissen Komik, welche die Serben bzw. die Türken als homogene und doch verschieden beschreibt.

  2. serben waren immer multikulturell und freiheitsliebend …sie erfanden und gründeten das jugoslawien in dem alle vòlker als völker frei waren …etwas was von vielen grossmächten verachtet wird

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