30 Jahre nach Ende des Bosnien-Kriegs hat das UN-Kriegsverbrechertribunal zwei ehemalige Chefs des serbischen Sicherheitsdienstes zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
Den Haag (iz/dpa/GfbV). Die Berufungsrichter verhängten am Mittwoch in Den Haag damit eine höhere Strafe als in der ersten Instanz. 2021 waren Jovica Stanisic (72) und Franko Simatovic (73) noch zu jeweils 12 Jahren Haft verurteilt worden.
Die Vorsitzende Richterin Graciela Gatti Santana sprach von „einem Meilenstein“. IRMCT-Chefankläger Serge Brammertz hob hervor, das Verdikt sei ein Beweis dafür, dass in Bosnien und Herzegowina kein Bürgerkrieg, sondern ein internationaler Konflikt stattgefunden habe.
Es ist das letzte Urteil des UN-Tribunals zu Kriegsverbrechen im Krieg in Bosnien-Herzegowina in den 1990er Jahren. Die Vorsitzende Richterin Graciela Gatti Santana sprach von „einem Meilenstein“.
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, begrüßte am 31. Mai das endgültige Urteil und bezeichnete es als einen wichtigen Schritt zur Wahrheitsfindung und zur Bekämpfung der Straflosigkeit.
Der Hohe Kommissar hob „den Mut, die Unverwüstlichkeit und die Beharrlichkeit der Überlebenden und ihrer Familien“ hervor, die trotz des entsetzlichen Traumas nie aufgehört haben, nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu suchen. „Ich möchte die Überlebenden und ihre Familien, deren Leid unvorstellbar ist, aber die beharrlich ihre Rechte einfordern, ausdrücklich loben“, sagte er.
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Richter am Tribunal sahen Kriegsverbrechen als gegeben an
Stanisic und Simatovic (73) wurden wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt – wie Mord, Deportation, „ethnischer Säuberung“ und Verfolgung. Sie verfolgten nach Ansicht des Gerichts das Ziel, „mit Zwang und dauerhaft die Mehrheit der Nicht-Serben aus großen Gebieten von Kroatien und Bosnien-Herzegowina“ zu vertreiben.
Die Berufungsrichter sahen die Schuld der Angeklagten für Verbrechen auch an weiteren Orten als zweifelsfrei bewiesen an. Damit entsprachen sie einem Antrag der Anklage und erhöhten die Strafe. Die Verteidiger hatten dagegen angeführt, dass die Rolle der beiden Männer wesentlich geringer war.
Stanisic war Leiter des staatlichen Sicherheitsdienstes und Simatovic sein Stellvertreter. Beide waren enge Vertraute von Präsident Slobodan Milosevic. Auch er war vom UN-Tribunal angeklagt worden, starb aber 2006 vor Ende des Verfahrens. Vor zehn Jahren waren Stanisic und Simatovic freigesprochen worden. Doch das umstrittene Urteil wurde 2015 ungültig erklärt und ein neuer Prozess angeordnet. Die Zeit in der Untersuchungshaft wird auf die Strafe angerechnet.
Die UN-Kammer schrieb Rechtsgeschichte
Das UN-Tribunal mit Sitz in Den Haag schrieb Rechtsgeschichte. Es war das erste internationale Gericht zu Kriegsverbrechen in Europa nach den Nürnberger Prozessen zu den Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Der UN-Sicherheitsrat hatte 1993 seine Errichtung beschlossen.
163 Personen waren angeklagt worden, 93 wurden verurteilt. Sechs Mal wurde die Höchststrafe verhängt: lebenslange Haft. Unter anderem für den serbischen Ex-General Ratko Mladic und den damaligen politischen Serbenführer Radovan Karadzic wegen des Völkermordes von Srebrenica 1995.
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GfbV fordert Evaluierung der Verfahren
„Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, die internationalen Gerichtsverfahren für die zwischen 1991 und 1995, sowie 1999 begangenen Verbrechen systematisch zu evaluieren“, findet Jasna Causevic, Referentin für Genozid-Prävention und Schutzverantwortung bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).
„Aus der Arbeit der Gerichte lassen sich wertvolle Lehren ableiten. Davon können künftige Tribunale profitieren, sei es für die Ukraine oder Myanmar. Langfristig muss die internationale Strafgerichtsbarkeit insgesamt reformiert werden.“
Das Jugoslawien- und auch das Ruandatribunal hätten geholfen, der Zuständigkeit des Strafgerichtshofes (IStGH) für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen den Boden zu bereiten. Der IStGH ist bisher allerdings nicht befugt, das Verbrechen der Aggression zu verfolgen, wenn diesem der Angriffskrieg eines Staats zugrunde liegt, der wie die Russische Föderation nicht Vertragspartei des IStGH-Statuts ist.
Dem Kölner Völkerrechtler Prof. Dr. Claus Kreß zufolge wäre das nur möglich, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dem IStGH eine solche Situation zur Ausübung seiner Zuständigkeit zuweist. Ein internationales Sondertribunal könne dem Verdacht von Verbrechen der Aggression hingegen zeitnah nachgehen. Dafür müsste die UN-Generalversammlung den Generalsekretär der UN ersuchen, mit der Ukraine den hierzu erforderlichen Vertrag abzuschließen.
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Auch Amnesty International sieht einen „historischen Moment“
Als Reaktion auf das Berufungsurteil sagte Jelena Sesar, Europa-Rechercheurin von Amnesty International: „Die heutige Entscheidung ist ein historischer Moment, der den längsten Prozess in der Geschichte der Kriegsverbrecherprozesse beendet. Es lässt keinen Zweifel daran, dass die serbische Polizei und die serbischen Sicherheitsdienste in die Kriegsgräuel in Bosnien und Herzegowina verwickelt waren, was die serbischen Behörden bis heute abstreiten.
Das Urteil bestätige die ursprüngliche Entscheidung, dass hochrangige serbische Beamte sich der Verbrechen nach dem Völkerrecht schuldig gemacht hätten. Und dass sie zu dem gemeinsamen verbrecherischen Unternehmen beigetragen hätten, dessen Ziel die gewaltsame und dauerhafte Vertreibung von Nicht-Serben aus großen Teilen Bosniens und Herzegowinas war.
„Auch wenn dieses Urteil eine gewisse Wiedergutmachung für die Opfer bedeutet, darf nicht vergessen werden, dass Tausende von Fällen von Kriegsverbrechen in Bosnien und Herzegowina nach wie vor ungelöst sind und viele derjenigen, die der strafrechtlichen Verantwortung für Gräueltaten verdächtigt werden, weiterhin frei herumlaufen. Anstatt verurteilte Kriegsverbrecher zu verherrlichen, müssen die führenden Politiker der Region härter daran arbeiten, alle für Kriegsverbrechen Verantwortlichen vor Gericht zu bringen und den Opfern Gerechtigkeit, Wahrheit und Wiedergutmachung zukommen zu lassen.“