
Über die spannenden Hintergründe des aktuellen Artikels „Wir und die Gesellschaft“ und was Hesses „Glasperlenspiel“ mit Muslimen zu tun hat. Ein Interview mit IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger.
Islamische Zeitung: In der aktuellen IZ-Ausgabe erschien Dein Text „Wir und die Gesellschaft“. Wie kam es zu diesem Beitrag?
Abu Bakr Rieger: Auf dem Weg nach Italien – im Tessin – besuchte ich mit meiner Frau das Hermann Hesse Museum in Montagnola. Mit seinen Texten, die ich in der Jugendzeit gelesen habe, beschäftigte ich mich schon lange Zeit nicht mehr. Im angeschlossenen Buchladen entdeckte ich zufällig das letzte große Buch des Nobelpreisträgers: „Das Glasperlenspiel“. Dieses Werk kannte ich nicht und kaufte es spontan. Bei der Lektüre fand ich die Inhalte erstaunlich aktuell, die angesprochenen Themen wurden quasi zum Leitmotiv unserer Reise.
Herrmann Hesse und „Das Glasperlenspiel“
Islamische Zeitung: Inwiefern passt dieses Buch in diese Zeit?
Abu Bakr Rieger: Hesse entwirft darin unter dem Eindruck des 2. Weltkrieges die Vision einer pädagogischen Provinz mit dem fiktiven Namen Kastalien. Er schreibt: „Das Glasperlenspiel ist ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit seiner Palette gespielt haben mag.“
Die genaue Definition der Regeln des Vorgangs sind eher vage gehalten. Aber man versteht sofort, worauf dieser Entwurf anspielt und begreift schnell, dass die modernen Ideologen zu einem derartigen Austausch nicht fähig sind. Die Lage wird heute wieder prekär: Immer mehr Menschen ist an keiner Differenzierung gelegen, weil das Feindbild für die eigene Gestalt konstitutiv wird.
Islamische Zeitung: Wenn die Regeln des Spiels nicht explizit festgelegt sind, was sind die Voraussetzungen für ein Zusammenspiel der Religionen und Kulturen?
Abu Bakr Rieger: Neben der Metapher des Spiels ist es in erster Linie der Respekt und die Achtung für die Anderen. Man muss sich mit den geistigen Phänomenen, die seit Jahrhunderten Wirkung entfalten, also nicht nur eine kurzzeitige Episode waren, intensiv beschäftigen. In Europa heißt dies: Um die Fähigkeiten zu einem Spiel zu besitzen, ist es notwendig Wissen über das Judentum, das Christentum und den Islam zu erlangen.
Hier muss man selbstkritisch anmerken, dass uns diese Kenntnisse häufig fehlen. Im Fall des Islam unterscheidet man kaum zwischen der originären Praxis und den kulturellen und nationalen Einflüssen, die heute das Bild der Gläubigen in der Öffentlichkeit mit ausmachen. Nur, es ist doch klar, nicht jedes Verhalten und alle Taten von Muslimen sind mit der islamischen Lehre zu begründen.
Foto: PickPik
Leitmotiv einer Reise
Islamische Zeitung: Du hasst von einem Leitmotiv für Eure Reise gesprochen, wie ist das gemeint?
Abu Bakr Rieger: Vielleicht kann ich das an einer Reisestation unserer italienischen Reise exemplarisch erklären. In Orvieto steht ein Dom, den alle Touristen bewundern – unabhängig von der eigenen Konfession. Wenn der Marmor der Fassade im Sonnenlicht glänzt, staunt man über dieses architektonische Meisterwerk. In der Touristeninformation hat man uns – ohne die geringste Ahnung zu haben – erzählt, dass schon Thomas von Acquin in dem Dom gelehrt hat.
Wir waren nicht sicher, ob diese Information stimmte. Und sprachen eine Nonne an, die Touristen durch die Altstadt führte. Diese Frau beherrschte nicht nur fließend Englisch, sie erklärte genau, in welcher kleinen Kirche der Stadt der berühmte Mann gepredigt hatte.
Sie gab uns ein Kurzreferat über die Zeit des Gelehrten, seine Rolle in der geistigen Welt Europas und reflektierte das Verhältnis des Christentums zum Islam. Ihr Referat gipfelte in der Feststellung, dass die Kirche den fruchtbaren Austausch zwischen muslimischen und christlichen Geistesgrößen eher unter den Teppich gekehrt hätte. Wir waren sprachlos und resümierten: Eine Glasperlenspielerin!
Islamische Zeitung: Inwieweit spielen Konfessionen eine Rolle in diesem Kontext? Hesse selbst war aber gegenüber den Religionen eher reserviert?
Abu Bakr Rieger: Wie viele Philosophen, Schriftsteller und Künstler seiner Zeit war Hesse religiös ohne Religion. Das heißt, er sehnte sich nach spiritueller Erfahrung, Meditation, Sinn und Transzendenz, folgte aber keinem offenbarten Regelwerk. Die Kunst, die Religion des Säkularen, versuchte im 20. Jahrhundert, die Fesseln der alten Konventionen zu sprengen.
In seinem geistigen Wirken sah Hesse eine Gegenbewegung gegenüber dem technologischen Projekt, das Europa in dieser Epoche dominierte. Der entfesselte Kapitalismus und die Möglichkeit eines großen, zerstörerischen Krieges sorgten ihn zeitlebens. Hier sieht man durchaus eine Parallele zu unserer Situation.
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Hesse ärgerte sich über Vorwürfe einer Traumwelt
Islamische Zeitung: Hesse wurde oft vorgeworfen, von den Realitäten seiner Zeit Abstand zu nehmen und in einer Art Traumwelt zu leben…
Abu Bakr Rieger: Ihn selbst ärgerten diese Anwürfe. Hesse war ja durchaus politisch engagiert, wie tausende seiner Briefe beweisen. 1958 veröffentlichte der SPIEGEL einen Artikel mit dem Titel „Im Gemüsegarten“, der den Schriftsteller eher spöttisch als einen vergeistigten Träumer porträtiert.
Ein Mann, der seinen LeserInnen das Meditieren empfahl, hatte es schon damals in Deutschland schwer. Hierzulande macht man sich ja mit Verweisen auf eine unsichtbare Welt schnell der Esoterik verdächtig. Vieles was Hesse schrieb und in den 1970er Jahren populär war, ist heute zu Recht in Vergessenheit geraten. Aber, wie gesagt, die Lektüre des „Glasperlenspiels“ finde ich nach wie vor inspirierend.
Ideen eines anderen Lebens
Islamische Zeitung: Letztendlich war aber Hesse doch eher ein Einzelgänger, oder?
Abu Bakr Rieger: Ja, das stimmt. In der Nähe von Locarno, auf dem Monte Vérita, dem Berg der Wahrheit nahm er, Anfang des 20. Jahrhunderts, kurzzeitig an einem Gemeinschaftsprojekt teil. In einmaliger Lage über dem Lago Maggiore entstand – nach den Worten der Mitgründerin Ida Hofmann „eine Schule für höheres Leben, eine Stätte für Entwicklung und Sammlung erweiterter Entwicklung und erweiterten Bewusstseins.“ Hesse blieb ein paar Monate, nahm aber den institutionellen Charakter des Projektes nie ernst.
Er war ein bekennender Individualist. Der Schriftsteller zog sich bald in seine Dichterklause zurück. In seinem lesenswerten Buch „Zeit der Aussteiger“ beschreibt Andreas Schwab die Geschichte und das Scheitern dieser Communitys in Europa. Die Idee eines anderen Lebens blieb meist eine Utopie. Was bis heute nachwirkt, ist die Sehnsucht vieler Menschen nach einer ganzheitlichen Lebenspraxis.
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Islamische Zeitung: Kommen wir zurück zur Idee des „Glasperlenspiels“, ist sein Ansatz in Zeiten von Massenmedien und Filterblasen, die die sozialen Medien verursachen, nicht naiv?
Abu Bakr Rieger: Ich glaube, es wäre angesichts der aktuellen Kommunikationskultur gewagt, etwas anderes als Pessimist zu sein. Dennoch bleibt die Hoffnung, dass die Idee des „Glasperlenspiels“ zwischen den Religionen und Kulturen zumindest an den Rändern der Debatte lebendig bleiben.
Die Möglichkeit bestünde, dass – denken wir beispielsweise an die Diskussionen über die Rolle der Muslime in Europa – der Diskurs nicht nur und ausschließlich im Feld des Politischen verortet bleibt. Ich sehe ein Mangel an Foren, an Gesprächsebenen, die die Teilnahme bspw. von Künstlern, Soziologen, Philosophen oder Architekten mit einschließt. Nur so wird verständlich, dass der Islam aus der politischen Deutung heraus nie völlig zu verstehen ist. Innerhalb dieser Gesprächskultur könnten nebenbei kreative Ansätze für eine verbesserte Integration entstehen.
Was hilft gegen die Politisierung der Debatte?
Islamische Zeitung: Aber tragen Muslime, Stichwort Extreme, nicht dazu bei, dass die öffentliche Wahrnehmung sich im Moment nahezu ausschließlich mit dem sogenannten politischen Islam beschäftigt?
Abu Bakr Rieger: Die Politisierung der Debatte hat ihre bekannten Gründe. Ich persönlich schätze den Begriff des „Islamismus“ nicht, weil er mir zu unbestimmt scheint, einen Vorwurf darstellt, der mit einer Markierungsmacht einhergeht, meist von Medien ausgeübt, die fatale soziale Auswirkungen hat und gleichzeitig nicht justiziabel ist.
Andererseits verstehe ich, dass jede Politik auf Grundlage einer Religion berechtigte Ängste auslöst. Für mich schließen sich die Begriffe aus: Der Islam ist keine Ideologie. Und – hier kehren wir zum Motiv des „Glasperlenspiels“ zurück – ein Zeichen des geistigen Niederganges ist immer die Unfähigkeit zu einem tieferen Austausch zwischen den Kulturen. Die Muslime müssen sich wieder stärker an ihre eigenen Wurzeln erinnern.
Zum Beispiel waren Identitätspolitik und Nationalismus, geschweige den der Terrorismus, über Jahrhunderte keine bekannten Begriffe in der islamischen Welt. Mich faszinieren die alten Stadtpläne, deren fester Bestandteil Kirchen, Synagogen und Moscheen waren. In diesem Sinne war das Glasperlenspiel integrierter Teil des Alltags.
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Islamische Zeitung: Heute werden unsere religiöse Praxis, das Verhalten und die Lehre durch das Internet beeinflusst. Ist das ein bedenklicher Trend?
Abu Bakr Rieger: Der wachsende Einfluss von sogenannten Influencern ist eine fragwürdige Entwicklung. Sie schaffen virtuelle Netzwerke, jenseits der Balance, die reale Gemeinschaften im Kern ausmachen. Die Lehre wird in den sozialen Medien zunehmend beliebig, das Gelehrte wirkt teilweise extrem und der Trend ist in seiner Dynamik unkontrollierbar.
In dieser Sphäre der religiösen Schnellkurse entstehen unzählige Blasen, die sich auf Dauer verselbständigen, mit, vorsichtig ausgedrückt, nicht nur für die Nutzer ungewissem Ausgang. Dieser virtuellen Realität mangelt es an Gesprächskultur und Verbindlichkeit, Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Der Islam wird zu einem Computerspiel. Viele junge Muslime verfallen an diese Welt, weil sie in ihrem Alltag keine Orte für konkretes Engagement vorfinden.
Was hat das Thema mit Architektur zu tun?
Islamische Zeitung: In ihrem Beitrag erwähnst Du die Weimarer Bauhaus-Schule und die Idee der modernen Architektur. Warum?
Abu Bakr Rieger: Wir leben heute wieder in einer Zeit der Aussteiger. Menschen wandern aus, suchen nach sinnvollen Lebensentwürfen und neuen Wohnformen, die ihr ökonomisches Dilemma berücksichtigen. Andere flüchten sich in ihre virtuellen Traumwelten oder Parallelgesellschaften.
Ironischerweise entstehen heute kaum noch alternative Gemeinschaften, weil das Bauplanungsrecht solche Modelle nur für reiche Menschen realisierbar macht. Ich war im letzten Jahr im schottischen Findhorn und habe dort das bekannte Siedlungsmodell besichtigt. Ich war erstaunt zu hören, dass die Preise für die kleinen Häuser inzwischen unerschwinglich sind.
Wichtig ist ein Bewusstsein, dass jede Architektur die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse repräsentiert. Deswegen ist das Studium der Geschichte der Bauhaus-Bewegung so erhellend.
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Islamische Zeitung: Inwieweit betrifft das die Lage der Muslime in Europa?
Abu Bakr Rieger: Wer keine Parallelgesellschaften will, muss die urbanen Voraussetzungen für eine Integration schaffen. Das Beispiel der Banlieues in Frankreich zeigt die Probleme, wenn man Menschen in Wohnmaschinen steckt. Die Frage ist, welche städtebaulichen Visionen wir in Deutschland entwickeln. Gott sei Dank sind Moscheen heute nicht nur mehr in Hinterhöfen und Gewerbegebieten zu finden.
Allerdings fehlt es in unseren Gemeinwesen oft schlicht am Platz, die soziale Dimension der Praxis auszuleben. Historisch gesehen waren die religiösen Anlagen nie nur sakrale Einrichtungen. Der Kontext von Moschee und Marktplatz ist heute reduziert auf die Realität von Moschee und Parkplatz.
Im Grunde brauchen wir eine Vision, die Muslime, im Einklang mit der deutschen Verfassung, einen entsprechenden Raum anbietet. Selbstredend handelt es sich hier um Begegnungsräume. Tauchen Gläubige nur als Demonstranten auf unseren Straßen auf, schreitet die Politisierung weiter voran.
Muslimische Präsenz im öffentlichen Raum
Islamische Zeitung: Gerade jetzt wird ja oft der Anspruch der Muslime auf eine Präsenz im öffentlichen Raum im Sinne eines Machtanspruches interpretiert?
Abu Bakr Rieger: Das ist eine grundsätzliche Frage. Rechtskonservative Kreise verbreiten die Vorstellung, dass Muslime – sozusagen aus Sicherheitsgründen – ihren Praktiken am besten gar nicht oder eben nur privat ausüben sollen. Angesichts der Präsenz von Millionen Muslimen in Europa wird diese Strategie der Verdrängung kaum funktionieren. Im schlimmsten Fall folgt aus diesem ideologischen Ansatz nur die endgültige gesellschaftliche Spaltung und die trübe Phantasie einer „Remigration“.
Ich würde eher darauf setzen, dass die Jugend islamisch gebildet ist, Räume der kulturellen Symbiose mit der Nachbarschaft entstehen und wir in einem regelmäßigen, facettenreichen Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft stehen. Hierher gehören die erwähnten geistigen und architektonischen Voraussetzungen. Wer selbstbewusst die Grundlagen seiner Praxis kennt, wird sich nicht in Blasen flüchten oder gar Begegnung mit den Anderen meiden. Diese Logik gilt nicht nur für Muslime.
Islamische Zeitung: Vielen Dank für das Gespräch!