
Es gibt Hinweise, dass der Islam schon im ersten Jahrhundert nach der Hidschra nach Südostasien und dem heutigen Indonesien kam.
(iz). Claudia Azizah Seise ist promovierte Südostasienwissenschaftlerin und arbeitet zurzeit vor allem zu Islam in Indonesien. Sie ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Islamische Theologie an der Humboldt Universität Berlin. Mit ihr sprachen wir über Islam im malaiischen Archipel, über Indonesien als größtes muslimisches Land der Welt und was wir von ihnen lernen können.
Warum viele Indonesien nur peripher sehen
Islamische Zeitung: Liebe Claudia Azizah Seise, Sie sind Expertin für den Islam in Indonesien und im malaiischen Archipel. Obwohl Indonesien größter muslimischer Staat ist, wird es in der allgemeinen und muslimischen Wahrnehmung nur am Rande behandelt. Woran liegt das?
Claudia Azizah Seise: Das ist eine interessante Frage. Tatsächlich scheint sich die periphere Wahrnehmung Indonesiens als Land mit der größten muslimischen Bevölkerungszahl historisch entwickelt zu haben. Einerseits liegt das muslimische Südostasien, auch als Nusantara bezeichnet, geographisch weit vom sogenannten und so gedachten Zentrum der muslimischen Welt.
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Andererseits wurde der Islam in Indonesien von Orientalisten und auch zeitgenössischen Wissenschaftlern häufig als exotisch und vor allem anders oder sogar „unislamisch“ dargestellt. Ein Islam, der angeblich sehr anders ist als der Islam in der arabischen oder türkischen Welt. Interessant ist an diesen Diskursen, dass nicht nur der Islam in Indonesien beziehungsweise Südostasien hier häufig ausgeblendet oder verblendet dargestellt wird.
Ähnlich verhält es sich mit dem Islam in China oder auch in großen Teilen Westafrikas. Auch über diese geographischen Regionen der muslimischen Welt wird eher wenig gesprochen.
Wie Islam nach Nusantera kam
Islamische Zeitung: Seit wann gibt es Islam in der Region, wie kam er dorthin und wie viele Muslime leben dort genau?
Claudia Azizah Seise: Es gibt historische Hinweise, dass der Islam schon im ersten Jahrhundert nach der Hidschra nach Südostasien und vor allem dem heutigen Indonesien gekommen ist. Archäologische Beweise gibt es kaum und diese findet man erst Jahrhunderte später. Dies liegt zum einen an der Bauweise.
Denn wenn mit Holz oder Bambus gebaut wird, so finden sich in der tropischen Hitze nach kurzer Zeit kein nennenswertes archäologisches Beweismaterial.
Zum anderen gab es in den ersten siebenhundert Jahren nachdem die ersten Muslime südostasiatischen Boden betraten, keine nennenswerten Konversionsversuche innerhalb der lokalen Bevölkerung. Zahlenmäßig nennenswerte Übertritte zum Islam gab es erst ab dem 11.Jahrhundert; in Java sogar erst ab dem 14. Jahrhundert.
Das erste, noch erhaltene Grab einer muslimischen Person auf der Insel Java ist das Grab der Muslima Siti Fatimah binti Maimun ist Ostjava, die 1058 unserer Zeitrechnung gestorben war. Sie war eine Adlige aus dem im heutigen Iran liegenden Luristan und kam mit einer Gruppe von Muslimen, um den Islam in Java zu verbreiten.
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Ibn Battuta besuchte die Küste von Nordsumatra wahrscheinlich 1345 auf seiner Reise von Bengalen nach China. Es gibt verschiedene andere zeitigere historische Belege für Muslime im Archipel. Vor allem Chinesische Quellen sind in diesem Aspekt sehr interessant.
Es gibt ein Dokument, erwähnt von Al Attas, dass arabische Muslime in Sriwijaya, einem buddhistischen Königreich in Südsumatra, schon 674 nach Christlicher Zeitrechnung erwähnt. Das ist nur etwas mehr als 40 Jahre nach dem Tod des Propheten Muhammad. Die Rolle Chinas und chinesischer Muslime in dieser frühen Zeit ist äußerst interessant und es gibt da mittlerweile einiges an englischsprachiger Literatur.
Zurzeit wird geschätzt, dass circa 88 Prozent der indonesischen Bevölkerung sich als Muslime identifizieren. In Malaysia sind es knapp 60 Prozent der Bevölkerung. Auch im Süden von Thailand, in Kambodscha, in den Philippinen und in Singapur gibt es eine signifikante muslimische Minderheit. In dem kleinen Königreich Brunei sind mehr als 80 Prozent Muslime.
Islamische Zeitung: Gelegentlich fällt der Begriff der „neun Aulija“. Was ist damit gemeint?
Claudia Azizah Seise: Die neun Aulija oder Gottesfreunde waren eine Gruppe von muslimischen Gelehrten vom 14. bis 17. Jahrhundert, die aktiv und sehr erfolgreich den Islam in Java verbreiteten. Sie hatten verstanden wie die Javanische Seele das Göttliche erfährt und haben dementsprechend ihre Da’wa-Methoden an die lokalen Begebenheiten angepasst.
Sie hatten sowohl die Sprache als auch die javanische Kultur und Spiritualität tief verstanden und konnten somit Islam in einer Art und Weise den Menschen näherbringen wie es frühere Muslime nicht konnten.
Einige dieser methodischen Elemente waren unter anderem das javanische Schattentheater (wayang kulit), Poesie, Liedkunst und verschiedene Formen von Musik. Dazu hatte ich auch einmal einen kurzen Artikel mit dem Titel „Wie die Seele das Göttliche erfährt“ in der IZ veröffentlicht.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, dass ein Großteil der javanischen Spiritualität und des Glaubens zu dieser Zeit mit einem feinen Firnis aus buddhistischen und hinduistischen Ritualen und Bräuchen überzogen war, jedoch unter diesem Firnis die javanische Mikroreligion, Kapitayan, noch immer in den Herzen der Menschen lebendig war. Diese Religion hatte mit großer Wahrscheinlichkeit ein tiefes Verständnis von Tauhid.
Islamische Zeitung: Bei manchen Muslimen wird Indonesien mit Synkretismus in Verbindung gebracht…
Claudia Azizah Seise: Der zeitgenössische Gelehrte Dr. Umar Faruq Abdullah schreibt über den kulturellen Imperativ, dass Islam als Religion durchsichtigem Wasser gleicht und die Farbe des Flussbettes annimmt. Diese religiös-kulturelle Maxime ist sehr wichtig zu verstehen, um den Islam in Indonesien zu verstehen und richtig einordnen zu können.
Eine wirkliche Vermischung von verschiedenen Religionen wie es der Begriff „Synkretismus“ nahelegt, findet nur in seltenen Fällen statt. Vielmehr begegnen wir einer kulturellen Lokalisierung des Islams, die uns fremd beziehungsweise exotisch erscheint, jedoch den islamischen Lehren nicht widersprechen. Auf den ersten Blick scheinen verschiedene Praktiken anders.
Doch bei näherem Hinsehen erkennen wir, dass die gleichen Praktiken in einer anderen Färbung auch in anderen Regionen der muslimischen Welt vorhanden sind, beziehungsweise nur Rituale an die lokalen kulturellen Begebenheiten angepasst werden. Die Essenz der islamischen Lehre ist die gleiche.
Die exotisierende Darstellung des Islam in Indonesien findet sich schon bei den Orientalisten der Kolonialzeit und basiert vor allem auf der Annahme, dass Religion an sich einer Evolution unterliegt, die vom Animismus über den Mehrgötterglauben hin zum Eingottglauben sich immer weiter purifiziert.
Als Vorlage diente der Reformislam, der sich vor allem Ende des 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhundert immer weiter etablierte und teilweise durch den Protestantismus und die protestantische Ethik inspiriert war. Dieser schien auch den Orientalisten und Islamwissenschaftlern, die ja auch durch den europäischen Protestantismus und die Aufklärung beeinflusst waren, als der wahre Islam, an dem alle anderen lokalisierten Formen des Islam zu messen waren.
So versuchte man, den Indonesisch kolorierten Islam, traditionell-islamische und sufistische Elemente mit der Synkretismus-Theorie zu erklären. Sie sehen: ein sehr komplexes Thema. Hätten Orientalisten oder Islamwissenschaftler den traditionellen Islam und klassische sufistische Lehren genauer studiert, hätten sie erkannt, dass sich vieles in der islamischen Praxis in Indonesien so auch in lokalisierter Form wiederfindet.
Bezüglich extremistischer Tendenzen: wie in anderen Orten der muslimischen Welt konnten auch in Indonesien extremistische Minderheiten mit einfachen ideologischer Schwarz-Weiß-Malerei Anhänger finden. Diese befinden sich jedoch in der absoluten Minderheit und die große Mehrheit der indonesischen Muslime folgen den lokal-gewachsenen und traditionell-tradierten Lehren des traditionellen sunnitischen Islams.
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Wodurch zeichnet sich Nusantara aus?
Islamische Zeitung: Durch welche Eigenschaften oder Traditionen zeichnet sich der Islam in Südostasien aus?
Claudia Azizah Seise: Die Mehrheit der indonesischen Muslime folgen dem traditionellen sunnitischen Islam, der schafi’itischen Rechtsschule, der Ash’ari-Theologie und den klassischen sufistischen Lehren von Imam Al-Ghazali und Imam Al-Dschunaid Al-Baghdadi.
Auch die Lehren von Ibn ‘Arabi werden verbreitet rezipiert. Gerne wird der Islam in Südostasien als friedlich und tolerant beschrieben. Dies ist jedoch keine spezifisch südostasiatische Eigenschaft des Islam sondern ein inhärenter Bestandteil des durchsichtigen Wassers, als welches Dr. Abdullah Islam beschrieben hat.
Islamische Zeitung: Gibt es angesichts der Ausdehnung und Vielzahl der Inseln überhaupt eine Einheitlichkeit oder spielen regionale Unterschiede eine wichtige Rolle?
Claudia Azizah Seise: Eines der nationalen Prinzipien ist Einheit in Vielfalt und dies gilt auch für den Islam in der Region. Doch übergreifende Merkmale sind die zuvor erwähnten Elemente des traditionellen Islams in der Region.
Islamische Zeitung: In Malaysia gibt es muslimische Denker wie Al-Attas. Welche positiven Beiträge können Muslime der Region leisten?
Claudia Azizah Seise: Al-Attas steht als Beispiel für eine Gruppe von zeitgenössischen Denkern und Akademikern, die Islam als holistischen Lebensweg (arab. din) sehen und so alle Lebensbereiche mit islamischem Wissen, Werten und Konzepten verbinden wollen.
Das ist kein neuer Ansatz, jedoch in unseren säkularisierten Gesellschaften scheinbar ein novelliertes Konstrukt. Islam war jeher sowohl als persönlicher als auch sozialer Lebensweg gedacht und umfasst nicht nur persönlichen Gottesdienst.
Al-Attas denkt vor allem über Bildung nach und wie islamische Werte auch in einem Bildungsumfeld, in Schule und Universität integriert werden können. Aufbauend auf seinen Ideen hat sich eine ganze Schule von Denkern entwickelt, die sich vor allem der sogenannten Islamisierung des Wissens widmen. Was damit gemeint ist, ist vor allem die Infusion von Bildung mit moralischen Werten. Wissen und Ethik, auch das ethische oder moralische Verhalten eines Individuums, sollen Hand in Hand gehen.
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Was können wir von der Region lernen?
Islamische Zeitung: Sie haben die Region bereist und dort gelebt. Haben Sie etwas mitgebracht, von dem andere profitieren können?
Claudia Azizah Seise: Ich habe mehr als fünf Jahre in Indonesien, zwei Jahre in Malaysia und ein Jahr in Kambodscha gelebt. Wie jeder andere Auslandsaufenthalt auch, habe ich gelernt, dass unsere deutsche Kultur, unser Deutschsein und meine Art Dinge zu sehen und zu denken, nicht die einzig richtige Art ist. Ich habe gelernt zu beobachten und mich anzupassen.
Ich habe gelernt, dass die direkte, teilweise verletzende Art, wie wir in Deutschland oft miteinander umgehen, nicht unbedingt gut ist. Es gibt verschiedene Sichtweisen auf Wahrheit und verschiedene Arten sich Wahrheit zu nähern. Mehrere Wahrheiten gibt es nicht; sie ist immer nur eine.
In Indonesien und Südostasien allgemein lässt sich auch Demut, Bescheidenheit und Ergebung in Gottes Willen trainieren. Vor allem die Gottesergebung und istiqomah der Menschen angesichts der immer wiederkehrenden Naturkatastrophen in Form von Vulkanausbrüchen, Erdbeben oder Überschwemmungen ist absolut bewundernswert.
Ein weiteres Element der Gesellschaften ist der Fokus und die Wichtigkeit von Gemeinschaft und das lokalisierte Konzept von silaturahmi (arab. sila rahmi), welches auf einem Hadith unseres Propheten Muhammad (Frieden und Segen auf ihm) basiert. Im indonesischen Kontext wird dieses Konzept jedoch erweitert und zu einer essentiellen Praxis von gelebtem Islam.
Dazu habe ich einige englischsprachige Artikel verfasst, die auch online einsehbar sind. Wir brauchen mehr Gemeinschaft, bessere Gemeinschaft, um als Muslime in Deutschland in jeglicher Hinsicht erfolgreich zu sein.
Islamische Zeitung: Liebe Claudia Azizah Seise, vielen lieben Dank für das informative Gespräch.